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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

830–832

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Arnold, Gottfried

Titel/Untertitel:

Gießener Antrittsvorlesung sowie andere Dokumente seiner Gießener Zeit und Gedoppelter Le­benslauf. Hrsg. v. H. Schneider in Zusammenarbeit m. M. Re­ner.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 217 S. m. Abb. = Edi­tion Pietismustexte, 4. Kart. EUR 18,80. ISBN 978-3-374-02883-2.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Anders als die Hauptvertreter des kirchlichen Pietismus, die an der im Zeitalter der Aufklärung einsetzenden Verwissenschaftlichung der Kirchengeschichtsschreibung weder beteiligt noch interessiert waren, zählt der dem separatistischen Radikalpietismus zugehörende Gottfried Arnold (1666–1714) zu den bedeutendsten Historiographen des 18. Jh.s. Seine epochale »Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie« (1699/1700), die durch einen konfessionsneutralen Quellenzugriff die individuelle Wesensart und subjektive Frömmigkeit der historischen Gestalten auszuarbeiten suchte und alle Objektivationen des Glaubens (Kirche, Kultus, Dogma, Recht) als Verfallserscheinungen qualifizierte, wurde zu einem weit ausstrahlenden Ursprungsdokument des modernen geschichtlichen Denkens.
Während der Ausarbeitung dieses opus magnum versah Ar­nold, freilich nur für kurze Zeit, eine neu installierte Ge­schichtsprofessur an der Philosophischen Fakultät der Universität Gießen. Am Ende des 17. Jh.s wurde die Personalstruktur und Be­setzungspolitik dieser Hochschule von pietistischen Kräften massiv dominiert. Dadurch erklärt sich die Berufung des »akademische[n] Quer­einsteiger[s]« (189) Arnold, der bereits 1696 mit seiner das Urchris­tentum als normative Idealzeit der Kirche verklärenden Schrift »Die erste Liebe, Das ist: Wahre Abbildung der ersten Christen« be­trächtliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregt hatte.
Als Nestor der Arnold-Forschung hat der Marburger Kirchen­his­toriker Hans Schneider die wichtigsten Urkunden und Schriften der Gießener Zeit (September 1697 bis März 1698) in kommentierter kritischer Edition vorgelegt. Der Amtsantritt Arnolds wird mit der Vorlesungsankündigung im Einblattdruck (7 f.), dem von ihm unterzeichneten Religionsrevers (9–13) und dem entsprechenden Eintrag im Dekanatsbuch der Gießener Philosophischen Fakultät (14 f.) dokumentiert.
Die Antrittsvorlesung, mit der sich Arnold am 2. September 1697 dem akademischen Publikum vorstellte, trug den Titel »Commentatio de corrupto historiarum studio« (17–83). In ihr erläuterte er die Absicht und Methode seiner laufenden historiographischen Arbeit (die Vorrede der »Unpartheyische[n] Kirchen- und Ketzer-Historie« datiert auf den 1. März 1698 [198]). Dabei brachte Arnold ein breit intoniertes, unbedingtes Wahrheitspathos zur Geltung, wogegen er die bisherige Geschichtsdarstellung weithin durch Verfälschungen korrumpiert sah, da sie den überlieferten Quellenbestand meist nur unkritisch ausschöpfe oder sich gar mit der ungeprüften Re­ produktion von zweifelhaften Sekundärquellen begnüge. Schuld an dieser umfassenden Misere trügen, so Arnold, die Kleriker, de-ren Geschichtsschreibung seit Jahrhunderten von Opportunismus ge­genüber den Mächtigen, von religiöser Parteilichkeit und dazu nicht selten von eitler Ruhm- und Habsucht geprägt sei. Allerdings wird die von Arnold propagierte historiographische Wahrheitspflicht insofern durch zwei ihrerseits parteiliche Prinzipien konterkariert, als er sich eine generelle »Rehabilitierung der als Ketzer Geächteten« (197) vornahm und zudem allein die wiedergebore-nen Christen, denen der »spiritus aeternus« (54) die geschichtliche Wahrheit offenbar werden lasse, zu kritischer, vorurteilsfreier His­toriographie ermächtigt und fähig sah. Zwölf Disputationsthesen vom November 1697 fassten das damit skizzierte Programm noch einmal bündig zusammen (85–95).
Ein von Hans Schneider jüngst entdeckter Eintrag im Deka­natsbuch der Gießener Philosophischen Fakultät macht es erstmals möglich, den Weggang Arnolds nach Quedlinburg präzise auf die letzten Märztage 1698 zu datieren (96). Die spektakuläre Amtsniederlegung des jungen Professors hatte seinerzeit großen, anhaltenden Wirbel entfacht. In einem zeitnah verfassten Brief an den Gießener Theologieprofessor, Superintendenten und Konsistorialrat Johann He(i)nrich May (97–102), dem zwei weitere folgten (103–111), erklärte Arnold den Schritt mit seiner Abscheu vor dem verweltlichten akademischen Leben. Gleichwohl unterhielt er, was nicht zuletzt diese Korrespondenz deutlich macht, mit seinen pietistischen Freunden in Gießen auch weiterhin vertrauten Kontakt. Um das Gerücht, er habe seinen Rücktritt alsbald schon be­reut, zu entkräften, publizierte Arnold den »Extract Eines Schreibens«, das er diesbezüglich am 29. November 1698 an einen unbekannten Empfänger hatte ausgehen lassen (113–134).
Die Gießener Episode spielt auch in dem »Gedoppelte[n] Lebens-Lauff« Arnolds (139–183) eine bedeutende Rolle. Dabei handelt es sich um eine von ihm bis Herbst 1707 ausgeführte autobiographische Skizze, die dann für die weiteren Lebensjahre von anderer Hand fortgesetzt wurde. Angefügt ist eine zweite Lebensbeschreibung des streitbaren Pietisten, deren Verfasser unbekannt, aber wohl in Arnolds Freundeskreis zu vermuten ist. Das Doppelporträt erschien 1716 im Druck, zwei Jahre nach Arnolds Tod.
Das »Nachwort« des Herausgebers (189–212) schildert unprätentiös und kenntnisreich den historischen Zusammenhang der Texte und Kontexte. Hilfreich sind das einschlägige Literaturverzeichnis und das Personenregister am Ende. Die lateinischen Stücke, deren Umfang etwa die Hälfte des Bandes ausmacht, wurden vom Herausgeber in Zusammenarbeit mit der Marburger Professorin für Mittellateinische Philologie Monika Rener vorzüglich übersetzt.
Mit dieser Ausgabe, die für den akademischen Unterricht bes­tens geeignet ist, hat Hans Schneider der Arnold- und Pietismusforschung – und damit der Erforschung der neueren Kirchengeschichte insgesamt – einen wichtigen Dienst erwiesen. Die Texte sind tadellos ediert, dazu mit ausführlichen Anmerkungen versehen, die nicht allein durchweg hilfreiche Zitatnachweise, Sacherläuterungen und Biogramme bieten, sondern zudem mit zahlreichen Worterklärungen (z. B. unverrrückt [sic?] > beständig [105]; gemein > allgemein [123]; verwittibt > verwitwet [168]) deutlich machen, in welchem Maße das vor 300 Jahren gebrauchte Deutsch den heute Studierenden offenbar zur Fremdsprache geworden ist.