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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

828–829

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Tanner, Klaus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Konstruktion von Geschichte. Jubelrede– Predigt – Protestantische Historiographie. Hrsg. unter Mitarbeit v. S. Kranich, A. Ligniez, Ch. Muth und S. Reichelt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 378 S. m. Abb. = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 18. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02811-5.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der Band dokumentiert eine im März 2009 in Wittenberg abge­-haltene Tagung, die auf Einladung des an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angesiedelten DFG-Projekts »Der Geist der Zeiten in den reformatorischen Jubelfeiern« unter dem Thema »Protestantische Geschichtskonstruktionen« zustande kam. Die insgesamt 16 Beiträge setzen mit einer grundlegenden Studie zu den »Erinnerungsstrategien der reformatorischen Bewegung« ein, deren provozierende These, die Reformation habe sich als eine »Erinnerungsrevolution« vollzogen, gleich im Titel ge­nannt wird (Th. Fuchs). Etliche Beiträge widmen sich sodann einzelnen Reformationsjubelfeiern wie etwa der von 1617 in Wittenberg (A. Ligniez) und Straßburg (S. Reichelt) oder den Gedächt-nisveranstaltungen zum 400. Geburtstag von Melanchthon und Cal­vin (Ch. Muth). Weitere Untersuchungen gelten exponierten In­stitutionen der protestantischen Memorialkultur wie dem lu­the­rischen Pfarrhaus der Frühen Neuzeit (S. Dornheim) oder der meist deutschstämmigen lutherischen Pastorenschaft im Pennsylvania des 18. Jh.s (W. Flügel). In zeitlicher Hinsicht spannt sich der Bogen vom Beginn der Reformation über das Konfessionelle Zeitalter, Aufklärung, Pietismus (in dieser Reihenfolge!) und Moderne (wo­mit hier das 19. und das 20. Jh. bezeichnet sind) bis zu der Frage, ob und inwiefern das deutsche Wendejahr 1989/90 als eine »Protestantische Revolution« zu verstehen sei (S. Kranich).
Von den bedeutenden protestantischen Kirchengeschichtsschreibern werden – bei durchweg zurückhaltender Einbeziehung der einschlägigen Forschungsliteratur – namentlich Ernst Salomon Cyprian (H. Cordes), Ferdinand Christian Baur (Ch. Senkel) und Karl von Hase (J. Wischmeyer) kritisch gewürdigt. Der im westfälischen Reken wirkende Pfarrer und Gelehrte Dirk Fleischer steuerte eine profunde Studie zur »Protestantische[n] Kirchengeschichtsschreibung im Zeitalter der Aufklärung« (117–139) bei, die sich in exemplarischer Absicht den historiographischen Hauptwerken Johann Lorenz von Mosheims, Johann Matthias Schroeckhs und Johann Salomo Semlers zuwendet. Im Vergleich von Schroeckh und Semler wird dabei eine überraschende Diver-sifikation der aufklärungstheologischen Geschichtskonstruktion deutlich: Während der eine der »Kontinuitätsvorstellung« (137) verpflichtet blieb, die Geschichte der Kirche bezeichne einen steten Wechsel von Niedergangs- und Wachstumsperioden, in die auch die herausragenden Perioden des Urchristentums, der Reformation und der Aufklärung einbezogen seien, verfolgte der andere ein konstruktiv- dynamisches Perfektibilitätskonzept, das die Reformation – wie man in Aufnahme von G. E. Lessing, der freilich nicht genannt wird, wohl sagen könnte – als eine wichtige Etappe im unaufhaltsam fortschreitenden Prozess der »Erziehung des Menschengeschlechts« zu verstehen gab. Mit dieser Untersuchung hat sich Fleischer einmal mehr als ein vorzüglicher Kenner der Aufklärungstheologie ausgewiesen.
Ein Abkürzungsverzeichnis, das so ausführlich ist, als gäbe es den »Schwertner« nicht (363–367), sowie Register zu den aufscheinenden Personen und Orten beschließen den Band. Da die Namen der Beiträgerinnen und Beiträger dem Fachpublikum nicht alle­-samt geläufig sein dürften, wäre die Beigabe einiger prosopographischer Hinweise zu den Verfassern willkommen gewesen.