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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

825–828

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Rieger, Miriam

Titel/Untertitel:

Der Teufel im Pfarrhaus. Gespenster, Geisterglaube und Besessenheit im Luthertum der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011. 328 S. m. Abb. = Friedenstein-Forschungen, 9. Geb. EUR 55,00. ISBN 978-3-515-09869-4.

Rezensent:

Andres Straßberger

Anzuzeigen ist eine Arbeit, die im Jahr 2010 an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt als Dissertation angenommen wurde. In ihrer Einleitung (9–36) umreißt Miriam Rieger zunächst den Gegenstand und Interpretationsrahmen ihrer Untersuchung folgendermaßen: »Gespenster und Poltergeister trieben ihr Unwesen auf der Grundlage einer unausgesprochenen Vereinbarung. Dass diese Vereinbarung freilich nur deswegen zustande kam, weil der Geisterglaube im Luthertum eine zentrale Rolle spielte, ist These und Gegenstand der Arbeit. Gespensterbewältigung zählte zu den wichtigen Aufgaben der lutherischen Geistlichkeit aufgrund ihres konfessionellen Selbstverständnisses. Sobald sich dieses wandelte, verloren die Geister ihre kirchenamtliche Bestätigung und damit auch ihre soziale Bindekraft.« (10)
Zur Erläuterung skizziert die Vfn. daran anschließend in einem eigenen Abschnitt die theologische Umformung des vorreformatorischen Geisterglaubens bei Luther und die Verankerung seiner Ansichten im frühneuzeitlichen Luthertum (11–16), wobei sie den Geisterglauben »zum Grundbestand seiner konfessionellen Identität« (16) erklärt. Von hier ausgehend unternimmt sie als Nächstes den Versuch, den festgestellten Wandel des lutherischen Geisterglaubens im Zeitraum 1520 bis 1760 in seinen Umrissen und Hauptmomenten aufzuzeigen (16–25). In Rezeption englischer Forschungsansätze vertritt die Vfn. dabei die These einer spät- und nachreformatorischen »Konfessionalisierung des Geisterglaubens« (16), die sie näherhin als »Lutheranisierung« (17) deutet. Für die zweite Hälfte des 17. Jh.s interpretiert sie den Geisterglauben als »Bollwerk gegen die Atheisten« (21), und mit dem Aufkommen des lutherischen Pietismus als sozialer Bewegung sieht sie eine »Verdrängung des Geisterglaubens« (23) gegeben. Diese Ausführungen dienen der Vfn. als maßgeblicher Interpretationsrahmen für ihren materialen Untersuchungsteil, mit dem sie einen begrenzten Zeitabschnitt der längerfristigen Entwicklung in den Blick nimmt (s. u.). Weiterhin erörtert die Vfn. noch in der Einleitung die forschungsstrategische Relevanz ihres Themas (25–31), die sie in mindestens drei Richtungen gegeben sieht: in dessen Beitrag zur Ge­schichte der protestantischen Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit, im Hinblick auf die Frage, in welchem realen Verhältnis theo­logisch-kirchliche Theorie (Norm) und religiöse (Alltags-)Praxis stehen, sowie bezüglich der kirchenhistorisch umstrittenen Frage nach den Gründen und Motiven für die Entstehung des Pietismus, einem Problem, für das sich die Vfn. im Lichte ihrer Ausführungen völlig neue Lösungen abzeichnen (vgl. hierzu besonders 30 f.). Es folgt noch eine kulturwissenschaftlich fokussierte Reflexion des Quellenmaterials (31–35), und zuletzt äußert sich die Vfn. auf insgesamt einer Druckseite zur Anlage ihrer Arbeit (35 f.).
Der materiale Untersuchungsteil (37–278) untergliedert sich in vier Teilstudien, die ihr Thema am Anfang eines jeden Kapitels jeweils für sich, im Blick auf das Gesamtthema bzw. die in der Einleitung postulierten Hauptthesen der Arbeit reflektieren, nicht aber in ihrer Beziehung zu- und untereinander. Zunächst geht die Vfn. anhand dreier unchronologisch angeordneter Fallbeispiele folgenden Aspekten ihres Themas nach: In Kapitel 1 untersucht sie »[d]as Gehofische Gespenst (1683/84) und die Folgen«, und zwar unter dem Gesichtspunkt einer »Aktualisierung des lutherischen Geisterglaubens« (37–85). Im zweiten Kapitel fragt sie danach, ob das 1695 im Thüringischen aufgetretene »Ober-Croßnische Tauben=Ge­spenst« »[e]in Gespenst des Pietismus« gewesen sei (86–138). Im Ergebnis ihrer Untersuchung hält die Vfn. es für »nicht un­wahrscheinlich, dass das Gespenst des Kommunismus, das ab 1848 durch Europa schritt, 150 Jahre zuvor in der Inspektion Orlamünde laufen gelernt hatte« (138). Und im dritten Kapitel widmet sich die Vfn. dem m. E. hochinteressanten Fall eines evangelisch-luthe­rischen Exorzismus aus dem Jahr 1672, und zwar unter dem Aspekt des sozialen und kulturellen Spektakels (139–202). Im letzten Kapitel thematisiert sie schließlich unter der Überschrift »Besessenheit, Begeisterung, Be­trug« vier Stationen des bereits einleitend (s. o.) konstatierten Wandels des Geister- und Gespensterglaubens im Zeitraum 1691 bis 1720, und zwar insbesondere in der Ge­genüberstellung von »altem« lutherischen Geisterglauben und »neuer« pietistischer »Begeisterung« durch den Heiligen Geist (203–278). In der Zusam­menfassung dieses Kapitels, das bei durchaus eigenen Ak­zentsetzungen faktisch aber kaum neue Quellen oder Sachverhalte er­schließt, wird der Interpretationsrahmen entgegen der avisierten zeitlichen Begrenzung bis 1720 über Vertreter der entwickelten Aufklärungstheologie (J. S. Semler, J. A. Ernesti) hinaus bis ans Ende des 19. Jh.s verlängert (J. Ch. Blumhardt d. Ä., Th. Storm). In der Schlussbetrachtung (279–282) wiederholt die Vfn. nochmals ihre Hauptthesen einer » Lutheranisierung des Geisterglaubens« (281) im 16. und 17. Jh. bzw. der anschließenden »Entkonfessionalisierung des ehemals lutherischen Geisterglaubens« (ebd.) im und durch den Pietismus.
Unter Kirchenhistorikern dürften sich sowohl die Primär- als auch etliche Sekundärthesen der Kulturwissenschaftlerin nur schwer durchsetzen. Dafür bedient die Vfn. zu wenig grundle-gende Vorgehens- und Verstehensweisen der zünftigen (Kirchen-) Geschichtswissenschaft; zu stark ist ihre Arbeit einem kulturwissenschaftlichen Herangehen verpflichtet. Das hat die Vfn. im Hinblick auf Anlage und Durchführung ihrer Arbeit m. E. zu wenig reflektiert bzw. sie hat sich zu wenig bemüht, das eine für das an­dere zielgerichtet fruchtbar zu machen. Ein besonderes Problem scheint dem Rezensenten nicht zuletzt auch im überdimensionierten Zuschnitt des Themas zu liegen. Forschungsanalytisch und darstellungspraktisch ist die Vfn. als studierte Religionswissenschaftlerin, Philosophin und Politologin dazu gezwungen, sich in zum Teil ungemein intensiv erforschte Forschungssegmente der Kirchen- und allgemeinen Geschichtswissenschaft einzuarbeiten. Das aber gelingt ihr im Zuge der Arbeit m. E. nicht gleichmäßig gut (am besten noch in der Pietismusforschung, weniger gut in der Lu­ther-, Reformations- und Konfessionalisierungsforschung). Angesichts des von der Vfn. selbst beklagten Mangels an geeigneten, verwertbaren Vorarbeiten für ihr Thema, scheint dem Rezensenten das Unterfangen, 250 Jahre Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte auf rund 15 Seiten der Einleitung selbständig erschließen zu wollen, für eine Dissertation doch zu viel gewagt. Weniger wäre hier wohl mehr gewesen – auch und gerade im Blick auf den materialen Untersuchungsteil und seine von der Einleitung abhängige Thesenbildungen.
Nur am Rande sei bemerkt, dass die Aufklärung als epochale Zäsur europäischer Religions- und Geistesgeschichte – in un­mittelbarer Fluchtlinie zum Thema der Arbeit – gelegentlich als »Entdämonisierung der Welt« beschrieben wird – ein Vorgang, der nach meinem Dafürhalten nicht zuletzt gewichtige Anhaltspunkte im Neuen Testament findet. Dass diese beiden Aspekte im Zu­sammenhang der Untersuchung eine nur periphere oder gar keine Rolle spielen, erscheint dem Rezensenten aus kirchenhistorischer Sicht bedauerlich. Wäre es in Aufnahme des reformatorischen Sola-scriptura-Prinzips bei der Rekonstruktion der Position Luthers und des an ihn anschließenden konfessionellen Luthertums nicht ebenso naheliegend wie angemessen gewesen, nach biblischen Im­pulsen für die reformatorische Umdeutung des mittelalterlichen Geisterglaubens zu fragen? Und wie erfolgte im engeren Zeitraum der vorliegenden Untersuchung (1683–1720) eigentlich bei den beteiligten Akteuren der Rückgriff auf biblische Aussagen zu Phänomenen von Geister- und Gespensterglauben bzw. Besessenheit? Und weiter gefragt: Wie verhalten sich schließlich die hier der lutherischen »Orthodoxie« bzw. dem »Pietismus« zugeordneten Interpretations- und Handlungsmuster in Hinsicht auf das, was in der Forschung als »(theologische) Aufklärung« behandelt wird? Die diesbezüglich ausschließliche Konzentration auf Balthasar Bekkers Beitrag zur Geisterdebatte um 1700 (205–224) kann da nicht genügen. Wie aber bereits gesagt: Solche Fragen ergeben sich bei der selbstgesetzten Ausdehnung des Untersuchungszeitraums von der Reformation bis zur Mitte des 18. Jh.s.
Trotz der genannten Mängel kann ein Kirchenhistoriker die Arbeit auch mit Gewinn lesen. Vor allem eröffnen sich im Hinblick auf das unter offensichtlich erheblichem Recherche- und Arbeitsaufwand zusammengetragene Tableau archivalischer Quellen (vor allem in den Kapiteln 1 bis 3) zahlreiche Anknüpfungspunkte und Perspektiven, welche die Lektüre nicht selten ausgesprochen interessant und kurzweilig gestalten. Die fortgesetzte Beschäftigung mit dem von der Vfn. in ihrer Arbeit einer ersten Aufbereitung unterzogenen Material dürfte zweifelsohne weitere erhellende Erkenntnisse zur Frömmigkeits-, Sozial- und Geistesgeschichte des deutschen Luthertums in der Frühen Neuzeit erbringen. Insofern ist die Fokussierung auf den lutherischen volksfrommen Geis-ter- und Gespensterglauben in der Tat ein (kirchen-)historisch potentiell produktiver Zugang, auf den engagiert hingewiesen zu haben der Vfn. großer Dank und Anerkennung gebühren.