Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

823–825

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lemke-Paetznick, Klaus

Titel/Untertitel:

Kirche in revolutionärer Zeit. Die Staatskirche in Schleswig und Holstein 1789–1851.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2012. X, 766 S. = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 117. Geb. EUR 149,95. ISBN 978-3-11-026415-9.

Rezensent:

Stefan Holtmann

Die Studie wurde im Jahr 2010 der Theologischen Fakultät der Universität Hamburg als Dissertationsschrift vorgelegt und für den Druck leicht überarbeitet. Das Leitinteresse von Klaus Lemke-Paetznick ist »ein regional fokussiertes kirchengeschichtliches« (18). Im Zentrum steht insbesondere die Haltung der staatskirchlichen Geistlichen in den Herzogtümern Schleswig und Holstein im Zeitraum von 1789–1851. Damit der gewählte Fokus Tiefenschärfe zu gewinnen vermag, bedarf es sowohl historischer Skizzen der relevanten gesamteuropäischen Entwicklungen als auch regionalgeschichtlicher Einzelstudien zu einzelnen Personen und his-torischen Konstellationen innerhalb der Herzogtümer. L.-P. löst diese Aufgabe virtuos und legt so auf der Grundlage eines umfan g­reichen Quellenstudiums eine Anzahl kirchengeschichtlicher De­­tailstudien vor, die sich im Ergebnis zu einem schlüssigen Ge­samtbild der Herzogtümer mit ihren besonderen politischen Entwick­lungen im Spannungsfeld deutsch-dänischer Geschichte zusam­menfügen. Zur Beantwortung der Frage, wie sich die staatskirchlichen Pastoren den gewandelten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stellten, wird die Aufmerksamkeit insbesondere auf ihre Predigten gerichtet.
Die Gliederung der Studie folgt der historischen Entwicklung, beginnend mit einem Überblick (22–118) über die mit den Ereignissen des Revolutionsjahres 1789 gegebenen Voraussetzungen. Die politischen Folgen für den absolutistischen dänischen Gesamtstaat werden zwar zunächst durch dessen Liberalität abgemildert, als folgenreich erweist sich jedoch die Veränderung der geistesgeschichtlichen Situation: »Das statische, nicht zuletzt in der protes­tantischen Theologie überlieferte Bild der verderbten Welt traf auf ein dynamisches Gegenbild von Welt und Weltgeschehen, das seinerseits dem Gedanken an eine durch den Menschen mit immanenten Mitteln herbeiführbare Vervollkommnung der Welt Raum gab.« (89) Anthropologische und christologische Fragestellungen werden daher als theologische Kern- und Konfliktthemen des be­handelten Zeitraums hervorgehoben (vgl. 158.164.202.266 u. ö.).
Die Auswirkungen der Revolution (119–327) werden u. a. an den Beispielen konservativer Aristokraten im Umfeld von Gut Emkendorf auf der einen und des erwachenden politischen Bewusstseins bürgerlicher Kreise auf der anderen Seite aufgezeigt. Sie bilden das gesellschaftliche Umfeld der Aufklärungspredigt, die zwar auf die sittliche Besserung des Einzelnen zielt, indes eine »durchgehende Akzeptanz des absolutistischen Herrschaftssystems« (325) und der bestehenden Gesellschaftsordnung erkennen lässt. Während das Gedankengut der Revolution innerhalb der Kieler Universität (237–303.419–437) schnell Wirkung zeigt und eine Generation von Studenten und späteren Beamten prägt, trägt die Haltung der staatskirchlichen Geistlichen auch unter dem Einfluss von Orthodoxie und Erweckungsbewegung mit wenigen Ausnahmen konservativ-absolutistische Züge. Auch in der Folgezeit, die zunächst durch den Verlust der dänischen Neutralität und die Niederlage an der Seite Napoleons geprägt ist (354–400), sodann nach dem Kieler Frieden von 1814 unter dem Vorzeichen eines im nordelbischen Be­reich stärker werdenden deutschen Nationalbewusstseins (401–479) steht, bleibt die Mehrzahl der Predigten politisch indifferent. Stattdessen rückt vielmehr mit der von Claus Harms im Umfeld des Refor-mationsjubiläums 1817 erfolgreich vorangetriebenen Auseinan­dersetzung mit dem theologischen Rationalismus ein kirchlicher Binnendiskurs in den Vordergrund (453 ff.). Dass angesichts der Pariser Julirevolution 1830 (480–495) die kirchliche Predigt als »kon­trarevolutionäre Arznei« (486) in Erscheinung tritt, überrascht vor diesem Hintergrund kaum.
Wer vor dem Hintergrund der geschichtlichen Rahmenbedingungen hinreichenden Anlass sieht, von kirchlichen Amtsträgern politische und sozialethische Sensibilität zu erwarten, trifft hier daher ein ernüchterndes Bild an. Durch ihr Wirken tragen die schleswig-holsteinischen Pastoren selbst zur kirchlichen Distanz des Bürgertums bei. L.-P. zeigt dies wiederum am Beispiel ihres prominentesten Vertreters Harms auf, der zeitweise politisch Op­positionelle denunzierte (vgl. 504). Dass bürgerliche Kreise ihrerseits die Kritik der Kirche als Vehikel nutzten, um die Legitimation des absolutistischen Staates zu hinterfragen, wird in dem instruktiven Überblick über die im Kieler Correspondenzblatt verhandelten Themen im Zeitraum 1830–1848 (496–572) deutlich. Hier, außerhalb des kirchlichen Diskurses und unvereinbar mit ihm, zeigt sich ein kritisches Bewusstsein hinsichtlich der Tragweite der sozialen Frage sowie Potential für die Gestaltung der Gesellschaft.
Erst im Zuge der schleswig-holsteinischen Erhebung 1848–1851 ist die Pastorenschaft mehrheitlich auf der Seite des politischen Wandels zu finden (593–651). Dabei bleiben jedoch, wie überzeugend gezeigt wird, konservativ-staatstragende Gründe leitend. Es handelte sich um eine »geistig in die Vergangenheit orientierte Erhebung« (610), deren Legitimation in der »These vom unfreien Landesherrn« gesehen wurde, also einer Verletzung der schleswig-holsteinischen Rechte durch den Wandel von der alten absolutistischen hin zu einer konstitutionellen dänischen Monarchie. Der Gedanke der Volkssouveränität bleibt so auch hier ein Randthema. Es sind Einzelgestalten wie Michael Baumann und Ludwig Christian Schrader, die Ansätze zu einer Neugestaltung kirchlicher Strukturen und zum Verhältnis von Staat und Kirche entwickelten. Die Niederlage der Schleswig-Holsteiner setzte auch diesem Bemühen ein Ende: »In eben jenem geschichtlichen Moment, in dem die Pastoren ganz an der Seite der sich erhebenden Gemeinden standen und diese Gemeinden ihnen mit Zutrauen und Zuneigung begegneten, bereiteten Amtsenthebungen und Vertreibungen auf der einen sowie die Restaurierung einer dänischen Staatskirche auf der anderen Seite diesem in Konflikt, Krieg und Not geronnenen engen Verhältnis ein jähes Ende.« (651)
Der Weg der »Kirche in revolutionärer Zeit« entbehrt so nicht einer gewissen Tragik. Es ist das Verdienst von L.-P. diesen Weg in einer bisher unerreichten Weite und Detailgenauigkeit nachgezeichnet zu haben. Die abschließenden Thesen bündeln den Er­kenntnisgewinn der Studie präzise, ein umfangreiches Verzeichnis der verwendeten Quellen und Forschungsliteratur sowie Regis­ter runden den Band ab und machen ihn zu einem Handbuch der schleswig-holsteinischen (Kirchen-)Geschichte von 1789–1851.