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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

821–823

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Reinhardt, Volker

Titel/Untertitel:

Alexander VI. Borgia. Der unheimliche Papst. 2. Aufl.

Verlag:

München: C. H. Beck 2011. 277 S. m. 1 Kt. u. Abb. = Beck’sche Reihe, 6016. Kart. EUR 14,95. ISBN 978-3-406-62694-4.

Rezensent:

Gerhard Müller

Papst Alexander VI. ist hinter vielen Legenden und Mythen verborgen, um deren Bereicherung auch er selber sich gemüht hat. Selbst Urkundenfälschungen nahm er vor. Deswegen ist es sehr schwer, sein Leben und Denken zu erfassen. Es gibt Apologeten und Ankläger. Zu ihnen gehört Volker Reinhardt nicht. Vielmehr besitzt er eine profunde Kenntnis der Quellen und der Literatur und wägt so sachlich wie möglich ab. Dadurch ist es ihm gelungen, ein Bild dieses Menschen zu zeichnen, das der Wahrheit wohl sehr nahe kommt. Die Darstellung ist fesselnd, obwohl sie dem Leser Reisen in die Vergangenheit und Einblicke in Familien aus etlichen Ländern abverlangt.
Alexander VI. stammte aus dem niederen Adel in Aragón. Da bot sich eine Karriere in der Kirche an, wenn man zu Ansehen, Besitz und Macht kommen wollte. Die Voraussetzungen Rodrigo Borgias, des späteren Papstes, waren dafür hervorragend. Er war ehrgeizig, von schneller Auffassungsgabe, konnte sich bestens verstellen und hochgesteckte Ziele erreichen. R. erzählt nicht nur, sondern er re­flektiert auch, was dies oder jenes sozial, gesellschaftlich oder auch politisch bedeutet. Damit tritt er in einen Dialog mit dem Leser ein, dem schnell klar wird, dass es hier um menschliche Verhaltensweisen geht, die noch heute vorhanden sind, wenn auch das Niveau Alexanders selten geworden sein mag.
Mehrere Familien haben im 15. und 16. Jh. zwei Päpste gestellt. Dazu gehörten auch die Borgias. Ein 77-jähriger Onkel Rodrigos wurde 1455 auf den Stuhl Petri gewählt und gab sich den Namen Calixt III. Bereits im nächsten Jahr schmückte er seinen Neffen mit dem Kardinalshut. Das war damals üblich: Familienmitglieder waren die zuverlässigsten Helfer. Deswegen wurde auf sie zurück-gegriffen. 1457 machte Calixt seinen Neffen zum Vizekanzler. Dies war das einträglichste Amt, das der Papst damals zu vergeben hatte. Rodrigo konnte, auch nach dem Tod des Onkels 1458, seine Machtstellung und seinen Besitz ausbauen.
Es war damals nicht ungewöhnlich, dass Kleriker Kinder bekamen. Nicht umsonst durften uneheliche Kinder keine kirchlichen Pfründen erhalten, weil sonst ein Priester in der Versuchung gewesen wäre, seinem Nachwuchs solche zuzuschanzen. Was an Rodrigo Borgia neu war, das war die Offenheit, mit der er sein Familienleben führte. Von derselben Frau wurden ihm vier Kinder geboren, zu denen er sich ungeniert bekannte, darunter Cesare und Lukrezia, die berühmtesten seiner Nachkommen. Das Konklave, in dem er 1492 zum Papst gewählt wurde, war für ihn so erfolgreich verlaufen, weil er der reichste Prälat an der Kurie war, als Papst aber auf alle bisherigen Pfründen verzichten musste. Diese wurden in Wahlkapitulationen verteilt. Dass es gegen sein Leben mannigfache Vorbehalte gab, war zwar bekannt, konnte aber seine Erhebung auf die cathedra Petri nicht verhindern. Als Papst hat er sein persönliches Leben nicht mehr öffentlich zur Schau gestellt, aber man wusste z. B. von seinem Verhältnis mit Giulia Farnese, die 44 Jahre jünger war und deren Bruder er zum Kardinal machte – der spä­tere Paul III. Bei einem Kind, das während dieser Jahre geboren wurde, geht R. davon aus, dass es sich wohl um einen Sohn Alexanders handelt.
Sein größtes Bestreben war es, für seine Familie eine dauerhafte Basis zu schaffen, um mindestens in den höheren Adel aufzusteigen. Am liebsten wäre ihm das Königreich Neapel gewesen, »Zankapfel der Großmächte und Augapfel der Borgia«. Solche utopischen Ziele verfolgte Alexander immer wieder, und zwar mit einer solchen Brutalität, dass dies seine Feinde zusammenrücken ließ. »Es lebe das gesunde Eigeninteresse, so lautete das politische Motto der Gegenwart«, formuliert R. Die Überbeanspruchung der päpstlichen Kassen trotz lukrativer Kardinalserhebungen und Steuer­erhöhungen schufen jedoch großen Unmut und ließen die Abwehr der Osmanen ungebührlich zurücktreten. 1493 kreierte er seinen Sohn Cesare zum Kardinal, wodurch er sich einen wichtigen Helfer schuf. Als Alexander 1503 starb, überlebte ihn Cesare, der 1498 aus dem Kardinalat wider allen Anstand ausgeschieden war und ein Herzogtum übernommen hatte, nur um vier Jahre. Besser erging es Lukrezia, die in allerdings erst der dritten Ehe zur Her-zogin von Ferrara geworden war und sich eines tadellosen Rufes erfreute – entgegen aller Borgia-Untugenden, die auch ihr angedichtet worden sind.
Zum Gegenpol gegen diese Kurie wurde Florenz durch Girolamo Savonarola. Er predigte Umkehr und traf die Endzeiterwartungen seiner Zuhörer. Savonarola erklärte den französischen König zu Gottes Werkzeug für die Reform der Kirche. Karl VIII., der sich ge­rade in der Stadt am Arno aufhielt, weil er das Königreich Neapel erobern wollte, machte sich diese Aufgabe aber nicht zu eigen, sondern musste dem Papst in Rom die Hand küssen, weil der ja über allen Monarchen stand. Savonarola gab auch ohne die Hilfe Frankreichs nicht auf und erklärte, die Wahl des Papstes sei wegen Simonie ungültig. Das ließ Alexander aufhorchen: Wenn Mönchsgezänk sich mit Politik verbindet, muss eingegriffen werden – ein Konzept, das auch 20 Jahre später noch galt, wie R. bemerkt. Savonarola wurde nach Rom geladen, »verzichtete« aber, wie auch Luther, auf diese Reise. Der Prediger in Florenz wurde 1496 exkommuniziert und der Stadt 1498 das Interdikt angedroht. Auf die Sakramente wollten die Bewohner von Florenz aber nicht verzichten: Der Mönch wurde im gleichen Jahr erwürgt und verbrannt. R. meint: »Papst versus Prophet – die Konfrontation dauert bis heute an.« Von Reformen wurde in Rom zwar geredet, aber Alexander vermochte alles zu unterbinden, was ihm missliebig war. Zwar drohten ihm die Kö-nige der iberischen Halbinsel mit einem Konzil zur Absetzung des pflichtvergessenen Papstes, aber damit hatten sie keinen Erfolg.
Die »Orgien im Vatikan« erweist R. zum guten Teil als Phan-tasien der Borgia-Gegner, aber er spricht zugleich doch auch von »Verachtung der Normen« durch den Papst, der sich einmal sogar während einer Abwesenheit von Lukrezia vertreten ließ – ein No­vum in der Papstgeschichte. Alexander zeigte eine starke Marienfrömmigkeit und verband religiöse Momente mit seinem Versuch einer Familienpolitik, die an fehlendem Realismus scheiterte. Nach seinem Tod wurde ein weiterer Piccolomini zum Papst gekürt, der der Reform zugetan war, der aber nach noch nicht einmal einem Monat starb. Dessen Nachfolger wurde Giuliano della Rovere, Julius II., der Todfeind Cesares, der dafür sorgte, dass die Träume der Borgia auf italienischen Besitz zerstoben. Die Geschichte Alexanders »handelt von der Verführung und Verblendung durch unbeschränkte Macht«, so R. Sie ist deswegen so tragisch, weil hier auch Geistliches zur Durchsetzung politischer Ziele eingesetzt wurde. Diese wissenschaftliche Arbeit kann durch die Anschaulichkeit der Darstellung auch breiteren Kreisen Zugang zu diesem Menschen, seiner Familie und seiner Zeit ermöglichen.