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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

816–818

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Gebauer, Amy

Titel/Untertitel:

›Christus und die minnende Seele‹. An Analysis of Circulation, Text, and Iconography.

Verlag:

Wiesbaden: L. Reichert 2010. 288 S. u. 92 Abb. = Imagines Medii Aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung, 26. Lw. EUR 78,00. ISBN 978-3-89500-757-6.

Rezensent:

Markus Vinzent

Das Buch von Amy Gebauer ist in mehrerlei Hinsicht ein gelungener Brückenschlag. Zum Ersten verbindet es die wissenschaftliche neue Welt der University of Illinois mit der deutschen Universität Augsburg, denn das Werk wurde begonnen als Dissertation, begleitet von der (jetzt Emerita) Professorin Marianne Kalinke vom Department of Germanic Languages and Literature und schließlich fertiggestellt und eingereicht bei dem (inzwischen ebenfalls emeritierten) ausgewiesenen Kenner der Materie, Professor Werner Williams an der Historisch-Philologischen Fakultät, Germanistik, wo dieser die Professur für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters innehatte. Mit unserem Werk »Christus und die minnende Seele« hatte sich Williams bereits 1989 editorisch beschäftigt (ders., Bilderbogen-Mystik. Zu ›Christus und die minnende Seele‹. Mit Edition der Mainzer Überlieferung, in: K. Kunze et al. [Hrsg.], Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag, Tübingen 1989, 350–564).
Zum Zweiten ist durch die Natur des bearbeiteten Themas der Bogen geschlagen zwischen Kodikologie, Mittelalterforschung, Textinterpretation und Ikonographie. Die zu besprechende Studie bietet weit mehr als nur eine kritische Analyse von Text und Bild, was eine Besprechung in einem theologischen Rezensionsorgan rechtfertigt. Wie man sich ein interdisziplinäres Gespräch wünscht, greift die Vfn. weit aus bei der Behandlung des Themas und gibt, etwa bei der Besprechung der Handschriftenzeugen, nicht nur die heutige Fundstelle an, sondern geht jeweils der Geschichte der Provenienz in einer Weise nach, die gerade auch der oder dem theologiehistorisch Interessierten wichtige Aufschlüsse gibt. Welcher Zu-sam­menhang z. B. besteht zwischen Bibliotheksentwicklungen und Re­formbemühungen in verschiedenen Klöstern (Beispiel Basler Do­minikanerkloster, 26, oder das Bickenkloster der Klarissen, 61–65). Sozialstruktur, Ma­ nuskriptproduktion, -erwerb und -verbreitung (z. B. 46–53.89–91.154–157) werden diskutiert, zudem finden sich Ma­terialien, die die historische Feminismusforschung interessieren werden. Das soll herausgestellt werden, weil »Christus und die minnende Seele« bisher in der insbesondere theologischen Forschung weithin vernachlässigt blieb (9–10).
Wegen der textimmanenten Interpretation wurde das Werk eher negativ als Simplifizierung mystischer Konzepte für eine breitere Leserschaft verstanden, als Beispiel wird Romuald Banz (1977) zitiert: »Besonders die Stellen, die an die Spekulation der späteren Mystik anklingen, machen meist den Eindruck aufgehaschter und angelernter Formeln und Phrasen, die auf gut Glück unverarbeitet und unorganisch, nicht selten geradezu unverständig zusammen ge­klebt werden.« (10) Dass der Text in Sammelhandschriften mit Werken von theologischem Anspruch und theologischer Komplexität zusammengebunden ist, spricht gegen die Ansicht, dass wir es hier mit einem Stück für Nichtgelehrte zu tun haben (vgl. 55, wo der Text in der HS Cod. Donaueschingen 106 eine Reihe von Texten eröffnet, in der sich auch ein anonymes Exzerpt aus Eckharts »Von Abgeschiedenheit« befindet). Gerade das Mitlesen der Bebilderungen führt über den bisherigen Erkenntnisstand hinaus.
Das Werk gliedert sich nach einer Einleitung in fünf Kapitel (I. The Manuscripts and Prints; II. Iconographic Catalogue; III. The Circulation of »Christus und die minnende Seele«; IV. The Textual and Visual Context of »Christus und die minnende Seele«; V. »Chris­tus und die minnende Seele«: The Broadsheet), es folgen ein summa­rischer Abschnitt zu Überlieferung, Text und Ikonographie, eine Zusammenfassung und die üblichen, detaillierten Listen, Indizes und die Tafeln.
Der Abschnitt »Manuscripts and Prints« wurde bereits angesprochen, weil aus ihm die Kirchenhistorik vielerlei Anregungen erfährt. Einmal auf den Geschmack gekommen, würde man sich natürlich wünschen, die Vfn. wäre noch stärker auf die theologiehistorisch in­teressanten Linien eingegangen und hätte verschiedene Querverbindungen gezogen, etwa zwischen Ordensreformbemühungen über Ordensgrenzen hinweg (vgl. 153) und der Anschaffung bzw. Beschaf­fung mystischer Texte. Allerdings bietet die Vfn. so viel aufgearbei-tetes Material, dass sie damit geradezu zur Weiterarbeit einlädt. Ihre vorgezeichneten Linien hätten gegebenenfalls den gezogenen Schluss fraglich werden lassen, wonach z. B. die Konzentration auf patristische und hagiographische Literatur im Bücherinventar des Zisterzienserinnenklosters von Kirchheim am Ries von 1436–1437 nicht das Interesse der Frauen an dieser theologischen Literatur bekunde, sondern das der Männer des Zisterzienserklosters Kaisheim (21). Die Fülle der spekulativen und weniger spekulativen Literatur, die gerade in reformorientierten Frauenklöstern vorgeführt wird, und die Bedeutung, die Literaturverbreitung für das Netzwerk der Reform hat (vgl. 29), sprechen gegen diese Überlegung. Bedenkenswert sind die Ausführungen für die Literaturversorgung der Laien durch die Reform, bei der »Christus und die minnende Seele« eine frühe Rolle gespielt hat. Im »Iconographic Catalogue« werden die einzelnen, im Anhang mitgegebenen, Tafeln besprochen, wobei sich das theologische Auge auch eine Verbindung zwischen Bild und Text gewünscht hätte, hier gibt es also reichlich Ansätze, an dem Minnenspiel, das zwischen weiblicher Seele und Christus gesponnen wird, weiter zu arbeiten. Textbezogene Hinweise finden sich später (158–191) im Abschnitt »The Textual and Visual Context …«. Im Teil »The Circulation …« wird auf die lange Wirkungsgeschichte des Werkes hingewiesen, die vom dritten Viertel des 14. Jh.s bis zur Mitte des 16. Jh.s reicht (145), auch darauf, dass der Text selbst reichlich variiert (149–150). Die gleiche Varianz gilt auch für die Komposition der Struktur und für die Deutung, die, wie im folgenden Abschnitt »The Textual and Visual Context …« gezeigt wird, erheblich differiert je nach dem Umfeld der anderen Texte, zu denen unser Text gestellt ist. Der nächste Teil behandelt die Version des Einblattdrucks (192–253), in welchem auch eine theologische Lektüre vor-genommen wird. Das Zu­sammenspiel von Bild und Text unterstreicht die Nützlichkeit von Bildern im geistlichen Leben. Sie stellen das Medium einer im­mer weiterführenden geistlichen Vervollkommnung dar (»a carefully structured progression of imagery«), bei der die Bilder als un­ähnliche Ähnlichkeiten dienen, weil sie mehr und mehr von der un­bekannten Gottheit enthüllen unter Nutzung von Bekanntem und Familiärem (192). Die Lesenden nehmen die Bilder in die Narration hinein, so dass die Rezipienten sich mit der anonymen weiblichen Seele identifizieren können (252).
Dem Buch ist über das enge Fachkollegium hinaus erhebliche Verbreitung zu wünschen, da es sowohl formal als auch buchgestalterisch ansprechend gearbeitet ist und eine wahre Fundgrube für die weitere interdisziplinäre Forschung darstellt.