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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

802–804

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Stipp, Hermann-Josef [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das deuteronomistische Ge­schichtswerk.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Peter Lang 2011. 298 S. m. Abb. u. Tab. = Österreichische Biblische Studien, 39. Geb. EUR 49,80. ISBN 978-3-631-60694-0.

Rezensent:

Winfried Thiel

Die von Martin Noth in seinem Buch »Überlieferungsgeschicht­liche Studien« (1943) aufgestellte Hypothese von einem die Bücher Dtn bis 2Kön umfassenden deuteronomistischen Geschichtswerk (DtrG) aus der Exilszeit gehört zu den fruchtbarsten und einflussreichsten Konzeptionen der alttestamentlichen Wissenschaft. Dennoch ist die Diskussion um die Einschätzung der These und ihrer Einzelelemente nicht zur Ruhe gekommen. Sie ging so weit, dass die gesamte Größe »DtrG« bestritten und kleinräumigere Modelle an ihre Stelle gesetzt wurden, ohne sich jedoch wirksam durchsetzen zu können. An diesen Forschungsstand knüpfen die Beiträge des Bandes an, die aus Referaten hervorgegangen sind, die 2009 auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen katholischen Alttestamentlerinnen und Alttestamentler (AGAT) in Salzburg gehalten wurden.
Einleitend referiert der Herausgeber H.-J. Stipp Inhalt und Ergebnisse der Beiträge – ein bequemer Überblick für den schnellen Leser, der jedoch die Argumente in den Ausführungen nicht vernachlässigen sollte.
In Anknüpfung an frühere Arbeiten konfrontiert C. Frevel »Die Wiederkehr der Hexateuchperspektive« (13–53) mit der Konzeption vom DtrG. Für die Hexateuch-Hypothese werden zweifelhafte Beurteilungen Noths sowie exegetische Beobachtungen zum Zusammenhang von Num 26 mit dem Josuabuch, zur Funktion von Dtn 1–3 und von Jos 24 ins Feld geführt. Fazit: Die DtrG-Hypothese »sollte zugunsten der Annahme von zum Teil aufeinander folgen­den und zum Teil nebeneinander existierenden […] deuteronomistischen Bearbeitungen innerhalb des ›Enneateuch‹ aufgegeben werden« (44).
»Das deuteronomistische Geschichtswerk und die Wüstentraditionen der He­bräischen Bibel« (55–88) erörtert T. Römer unter Zugrundelegung des Mo­dells »eines mehrschichtigen DtrG, das schließlich durch nachdtr Überarbeitungen auf den Pentateuch (vielleicht auch einmal auf den Hexateuch) und auf die Vorderen Propheten verteilt wurde« (60), und kommt zu dem Ergebnis, »dass das DtrG die Wüstenerzählungen des Numeribuches noch nicht kannte […] oder zumindest, dass die spätdtr Wüstentexte im Dtn eine andere Sicht der Beziehung zwischen JHWH und Israel vor der Landnahme entwickeln wollten.« (81)
Eine vor Jahrzehnten aufgestellte Hypothese von N. Lohfink, die Existenz eines besonderen dtr Komplexes in Dtn–Jos 22 (DtrL), untermauert G. Braulik (»Die deuteronomistische Landeroberungserzählung aus der Joschijazeit in Deuteronomium und Josua«, 89–150) mit alten und neuen Argumenten, darunter Beobachtungen zum Sprachgebrauch, zur Existenz von Handlungsabläufen »mit besonderem Verbalgerüst« (107), zur Fügung bücherübergreifender Darstellungsvorgänge sowie zur Textentstehung in der Regierungszeit Joschijas. Die Einheit des DtrG ist somit nicht mehr aufrecht zu erhalten, vielmehr wurde DtrL mit anderen Teilen eines wohl auch joschijanischen Geschichtswerkes redaktionell zu einem größeren Komplex verbunden.
Mit Blick auf das Jos-Buch relativiert und modifiziert K. Bieberstein Noths These vom DtrG (»Das Buch Josua und seine Horizonte«, 151–176). Ein älteres Werk, Mose- und Josua-Erzählungen umfassend und vom Auszug bis zur Landnahme reichend, wird zwischen 673 und 645 angesetzt und »als eine theologische Reflexion der Landgabe und der Landverluste der Jahre 733, 722 und 701« (159 f.) bestimmt. Nach Einfügung des Dtn wurde das Werk so bearbeitet, dass Dtn und Jos zu einem »Diptychon« gestaltet wurden, »das erst in einem dritten Schritt mit den folgenden Geschichtsbüchern verbunden wurde, wodurch ein über Sam und Kön reichender Bogen entstand, in den Ri möglicherweise erst sekundär eingefügt wurde« (170).
Auf den Ergebnissen seines Richter-Kommentars (HThKAT, Freiburg 2009) fußend, untersucht W. Groß die Frage, welcher Hy­pothese mehr Wahrscheinlichkeit zugestanden werden kann, der Einbettung des Ri-Buches in ein DtrG oder einen Enneateuch (»Das Richterbuch zwischen deuteronomistischem Ge­schichtswerk und Enneateuch«, 177–205). Die exegetischen Befunde favorisieren eine differenzierte (und in Einzelfragen durchaus unsichere) Lösung: »Als der erste Dtr das Richterbuch gestaltete, lagen ihm einerseits eine dtr Darstellung von Dtn*–Jos* und andererseits eine dtr Darstellung von 1 Sam*–2 Kön* vor. Er bezog be­züglich theologischer Wertungen und geprägter Wendungen An­regungen aus beiden Komplexen«, und so entstand »durch das Richterbuch als jüngere Brücke zunächst ein literarisches Werk, das Dtn–2 Kön umfasste« (201). Die Ausgestaltung in Richtung Enneateuch erfolgte erst danach.
In seinem Beitrag »Saul und das deuteronomistische Geschichtswerk« (207–224) bezieht sich G. Hentschel vor allem auf die monarchiekritischen Texte. Dabei bestätigt sich, dass schon eine vordtr Sammlung von Erzählungen über Saul und David existierte. »Die dtr Bearbeitung hat bestehende Bande eher gefestigt und vertieft als neu geschaffen.« (222)
Unter dem Titel »Ende bei Joschija« bearbeitet H.-J. Stipp die »Frage nach dem ursprünglichen Ende der Königebücher bzw. des deuteronomistischen Geschichtswerks« (225–267) und diskutiert die Argumente für und wider die Annahme eines ursprünglich vorexilischen, in der Regierungszeit Joschijas anzusetzenden Werkes. Vor allem verweist er auf die im Kontext paradoxe, da historisch ohne Folgen gebliebene Umkehr Joschijas (2Kön 23, 25, vgl. V. 26) sowie auf die Faktizität von Kultreinigung und Opferzentralisierung. In dieser Zeit, »im Umkreis der joschijanischen Reform, hat das Werk seinen natürlichen Ort. Denn schon die Monolatrisierung des Gottesdienstes bedeutete einen Traditionsbruch, der auf zähe Gegenwehr gestoßen sein muß.« Dasselbe gilt für die Kultzentralisation. »Hier bestand Bedarf an einer Legitimation der Reform, und diesem Ziel dürfte das Schriftstück seine Existenz verdanken.« (256)
Zu anderen Erkenntnissen, nicht nur bei der Frage der Datierung, gelangt E. Blum (»Das exilische deuteronomistische Ge­schichtswerk«, 269–295). Er be­gründet die Auffassung, »dass sich die wesentlichen Grundkoordinaten der Nothschen Hypothese auch und gerade angesichts der neueren Debatte be­währen« (270). Zwar seien entschieden mehr Texte als sekundär im DtrG zu bestimmen, als Noth gemeint hatte, doch seien wesentliche Einwände gegen seine Konzeption als unzutreffend zu beurteilen. Eine literarkritisch auswertbare Schuldzuweisung einmal an das Volk, zum anderen an die Könige sei nicht vorhanden; beide Gesichtspunkte gehörten zusammen. Überhaupt ließe sich die Theorie eines »allein *Sam und *Kön umfassenden deuteronomistischen Werks« (277) nicht aufrechterhalten. Dtn 1–3 erweisen sich als Werkanfang. Dieser von Dtn bis 2Kön reichende Komplex will »jedoch nicht als Nekrolog zu einer ans Ende gekommenen Geschichte Israels gelesen werden« (289). Dies ist einer der wenigen Beiträge, vielleicht der einzige, der mit Noths Bestimmung des DtrG als Traditionswerk Ernst macht, und das befruchtet die Argumentation merklich.
Neue Großhypothesen über diesen viel diskutierten Gegenstand enthält das Buch nicht. Überwiegend werden schon früher geäußerte Konzeptionen aufgenommen, neu begründet und entfaltet. Dass sich dabei wenigstens Ansätze zu Konsensbildungen ergeben, ist nicht festzustellen. So wird auch diese Diskussion eine bleibende Aufgabe darstellen.