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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

790–792

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Herman, Geoffrey

Titel/Untertitel:

A Prince without a Kingdom. The Exilarch in the Sasanian Era.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XIX, 411 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150606-2.

Rezensent:

Catherine Hezser

Während die Quellen zum palästinischen Patriarchen in den letzten Jahrzehnten bereits ausgiebig historisch-kritisch untersucht worden sind (siehe z. B. Martin Jacobs, Die Institution des jüdischen Patriarchen, Tübingen 1995), lag die Geschichte des jüdischen Exilarchats im sassanidischen Babylonien weitgehend im Dunkeln. Ein Grund für die wissenschaftliche Vernachlässigung dieser so wichtigen Institution mag die erst vor einigen Jahren of­fenkundig gewordene Einsicht sein, dass das babylonische Ju­dentum der Spätantike nur im Rahmen der persischen Kultur angemessen verstanden werden kann. H. hat die Anregungen dieser u. a. von Yaakov Elman propagierten neuen Erforschung des ba­bylonischen Judentums aufgegriffen und eine quellenkritische Untersuchung des Exilarchats vorgelegt, die diese Institution konsequent in den sassanidischen Kontext integriert. Die Monographie ba­siert auf H.s Doktorarbeit, die von Isaiah Gafni betreut und 2005 an der Hebräischen Universität in Jerusalem eingereicht und anschließend ausführlich überarbeitet worden ist. H. hat sich dazu auch mit Pahlavi und der zoroastrischen Literatur vertraut gemacht.
Der Exilarch besaß die höchste Autorität und Leitungsfunktion im babylonischen Judentum der Spätantike, der größten Diasporagemeinde jener Zeit. Für eine historische Untersuchung dieser Institution stehen fast ausschließlich rabbinische Quellen zur Verfügung, die keine historiographischen Absichten verfolgen und ein unklares und widersprüchliches Bild vermitteln. Das Verhältnis der Rabbinen zum Exilarchen schwankte zwischen Unterstützung, Desinteresse und Ablehnung. Palästinische und babylonische Texte re­flektieren unterschiedliche Perspektiven. War der Exilarch ein Feu dalherr, der über ein bestimmtes Territorium herrschte, oder ein Staatsdiener der sassanidischen Regierung? Oder handelte es sich um eine lediglich religiöse Leitungsfunktion? H. lehnt derartige Kategorisierungen ab und plädiert für ein dynamisches Modell: Rabbinische und außerrabbinische Quellen weisen auf unterschiedliche Funktionen und Rollen des Exilarchen hin. Das sich daraus ergebende Gesamtbild ist deshalb viel komplizierter und unklarer als bisher angenommen: »We encounter […] an Exilarchate that is powerful, yet the precise contours of this power remain undefined and unverifiable […], to some extent we still are, and seem destined to remain, very much groping in the shadows.« (258)
Trotz dieses negativen Ergebnisses bringt diese Untersuchung interessante Sachverhalte und Details zum Vorschein, die nur durch kritische Quellenanalyse und Kontextualisierung erreicht werden können. H. hinterfragt den historischen Wert gaonischer Quellen und integriert das Exilarchat in die Geschichte des Perserreichs. Außerdem vergleicht er das Exilarchat mit dem Katholikat und das babylonische Judentum mit der Ostkirche, ein Ansatz der eine Anzahl von Gemeinsamkeiten, wie zum Beispiel das ambivalente Verhältnis zum »Westen«, aufdecken kann.
Das erste Kapitel des Buches bietet einen Überblick über die politische, administrative und religiöse Geschichte des sassanidischen Reiches. Auf diesem Hintergrund werden dann aufgrund der hauptsächlich rabbinischen Quellen verschiedene Aspekte des Ur­sprungs des babylonischen Exilarchats untersucht. Eine kritische Analyse der Hauptquellen führt zu dem Ergebnis, dass man erst von der Mitte des 3. Jh.s an verlässlich von der Existenz eines Exilarchats sprechen kann. In der Zeit Shapur I., der nicht-zoroastrische Religionen tolerierte, ist ein Beginn des jüdischen Exilarchats be­sonders plausibel. Eine prominente jüdische Familie aus Mehoza oder Nehardea mag in dieser Zeit Kontakte zum sassanidischen Herrscherhaus hergestellt und dadurch ihre eigene Stellung ge­stärkt haben. Der ungefähr gleichzeitige Aufstieg Manis kann als Modell für das plötzliche Aufkommen einer religiösen Leitungsinstanz dienen. Auch die geographische Nähe des Exilarchen zum Königshaus wird relevant gewesen sein. Ähnliche Gründe wie diejenigen, die zu einem florierenden Christentum in der Königsstadt und Metropole Mehoza führten, werden auch zur Entwicklung des Exilarchats beigetragen haben. Die Lokalisierung des Exilarchen in Mehoza war H. zufolge viel bedeutsamer als bisher angenommen wurde: »Had the Exilarchs moved permanently from the capital city to another city, they would, in effect, have ceased to be heads of the Exile.« (154) Die Autorität des Exilarchen mag auf diese Gegend östlich des Tigris beschränkt gewesen sein (»regional authority«, ebd., 159). Das Verhältnis zwischen dem Anspruch des Exilarchen als Oberhaupt des babylonischen Judentums und anderen lokalen Autoritäten, die ihm diesen Anspruch streitig machten, bleibt allerdings unklar. H. glaubt, dass der besondere Status des Herrschaftsgebiets Weh-Ardašĩr, dem Zentrum des sassanidischen Kö­nigreiches, in dieser Hinsicht ausschlaggebend war.
Aus den rabbinischen Quellen lassen sich nur wenige verläss­liche Informationen über die konkrete Funktion und Macht des Exilarchats ermitteln. H. ist sehr viel vorsichtiger als frühere Ge­lehrte, was die wirtschaftliche Rolle des Exilarchen betrifft. Die Autorität des Exilarchen bei der Ernennung von Marktaufsehern, ja selbst die Existenz von jüdischen Marktaufsehern (agoranomoi) in Babylonien, ist zweifelhaft, denn die entsprechenden Quellen stammen alle aus Palästina. Andererseits mag der Exilarch in Mehoza eine gewisse Kontrolle über jüdische Marktangelegenheiten ausgeübt bzw. eine höhere hierarchische Stellung als andere örtliche Rabbinen beansprucht oder tatsächlich innegehabt haben. Seine Machtposition muss, wie auch diejenige des Bischofs von Seleukia, im Rahmen politischer Machtkämpfe im sassanidischen Reich verstanden werden. H. kommt zu dem Ergebnis: »Any eco-nomic power that the Exilarchs may have possessed would seem to have been quite informal and perhaps local.« (179) Wie das Exilarchat sich selbst finanzierte, bleibt ungewiss.
Auch das Verhältnis zwischen Exilarchen, Rabbinen, und Akademien wird viel komplizierter gewesen sein, als bisher angenommen wurde. Der Status und Einfluss der Rabbinen im babylonischen Judentum ist bisher ungeklärt. H. betont, dass die babylo-nischen Rabbinen den Exilarchen als Außenseiter ansahen, der nicht aus ihren Reihen hervorging, also kein Torahgelehrter war. Die Autorität des Exilarchen basierte auf seiner Nähe zum Königshof, während die Rabbinen religiöse Autorität geltend machten. Ob im Gerichtshof des Exilarchen persisches Recht angewendet wurde, ist jedoch zweifelhaft.
Insgesamt wirft diese Studie mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Traditionelle Theorien und Hypothesen werden aufgrund einer kritischen Analyse der Quellen hinterfragt und der Sachverhalt als viel komplizierter und unklarer dargestellt, als bisher angenommen wurde. Dieser dekonstruktive Ansatz, der in der Vergangenheit bereits auf das palästinische Judentum und Patriarchat angewendet worden ist, muss jedoch als äußerst hilfreich angesehen werden: Die kritische Hinterfragung unhaltbarer Annahmen ist als erster Schritt zu einer neuen Sicht des Exilarchats und babylonischen Judentums anzusehen. So ist dieses ausgezeichnet re­cherchierte Buch allen Judaisten, Kirchenhistorikern und Iranisten zu empfehlen und bildet die Grundlage für jedes weitere Studium des babylonischen Exilarchats. Sechs Anhänge, die u. a. gaonische Quellen zum Exilarchat vorstellen, runden die Studie ab.