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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

747–749

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Frei, Daniel

Titel/Untertitel:

Die Pädagogik der Bekehrung. Sozialisation in chilenischen Pfingstkirchen.

Verlag:

Münster u. a.: LIT-Verlag 2011. 455 S. m. Abb. u. Ktn. = Kirchen in der Weltgesellschaft, 8. Kart. EUR 31,90. ISBN 978-3-643-80083-1.

Rezensent:

Harald Schroeter-Wittke

Das Christentum boomt weltweit, insbesondere in Form (neo)pentekostaler Gemeinden und Kirchen. Diese Form des Christseins scheint aber zumeist weit weg vom aufgeklärten Protestantismus der westlichen Welt. Umso wichtiger ist dessen differenzierte Wahrnehmung, wozu Daniel Frei in seiner von Christine Lienemann betreuten Baseler Dissertationsschrift von 2009 einen wichtigen Beitrag leistet.
F. begrenzt seine Untersuchung mit guten Gründen auf eine wichtige Pfingstkirche in Chile, wo er von 2001–2007 als Dozent für Praktische Theologie an der Facultad Evangélica de Teología in Concepción wirkte und auch Pfingstler unterrichtete. Sein Inter­-esse gilt der 1909 aus dem Methodismus hervorgegangenen Iglesia Evangélica Pentecostal (IEP) und deren gemeindepädagogischen Aktivitäten. Mit Hilfe eines weitgefassten Begriffs von Gemeindepädagogik, der »ganzheitlich nach dem kirchlichen Ort und Raum der Lebensbegleitung, des Dialogs, der Erfahrbarkeit von Lebensbezug und Lernzusammenhang des Glaubens« fragt, bei der »weniger Persönlichkeitsbildung als vielmehr Sozialisationsprozesse im Vordergrund« stehen (324), fokussiert F. vor allem die Phase der Postkonversion, in der die neuen Gemeindeglieder in das Leben ihrer Gemeinde eingegliedert werden. Nicht Präkonversion, Konversion oder Austritt stehen im Zentrum seiner Beobachtung, sondern die differenzierte Wahrnehmung der Gründe für den Erfolg dieser seit 100 Jahren existierenden Pfingstkirche, die gegenwärtig allerdings vor gravierenden Herausforderungen steht, insbesondere durch neopentekostale Strömungen, die aufgrund ihrer sog. Wohlstandstheologie die traditionellen Gemeinschaftsformen des klassischen Pentekostalismus aushöhlen.
F. führt den unkundigen Leser zunächst in die Religions- und Kulturgeschichte Chiles im Zusammenhang der Entwicklungen in Lateinamerika ein. Er beschreibt die Wurzeln der chilenischen Pfingstkirchen in der weltweiten Pfingstbewegung vor dem Hin­tergrund der umfassenden Mestizierung der indigenen Bevölkerung insbesondere in Chile. Er zeigt auf, inwiefern der Pentekos­talismus das überholt geglaubte Haziendamodell im urbanen Kontext rekonstruiert, wie er dabei den Protestantismus weiterentwickelt und sich als Modernisierungsfaktor erweist und dass es sich in Chile dabei vor allem um ein religiöses Phänomen der Unterschicht handelt. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich die Theologie der Pfingstkirchen zumeist nicht schriftlich artikuliert, sondern mündlich, wobei der Glosso- bzw. Xenolalie eine wichtige Abgrenzungsfunktion zur bürgerlich geprägten Sprachkultur u. a. der Theologie zukommt.
In seinem empirischen Teil kommt F. mit Hilfe von Gruppeninterviews der Frömmigkeit der IEP auf die Spur, die vielfach ge­prägt ist von Formen des Volkskatholizismus, der jedoch vehement abgelehnt wird, was auf strikter und erlittener Gegenseitigkeit beruht. Ein besonderes Gewicht bei der Erstellung eines Frömmigkeitsprofils haben die vielfältigen pentekostalen Gemeinschaftsformen, angefangen von der Zeugnisgemeinschaft, die sich z. B. in Predigten im öffentlichen Raum in Szene setzt, über die Gemeinschaft als familia christiana, die Gemeinde als Lebensraum für affektive und therapeutische Gemeinschaft angesichts ständig drohender Unterdrückung bis hin zur Wahrnehmung der Dynamik dieser Gemeinschaft als »Maschine« (269), die diejenigen, die sich nicht als »Rädchen dieser Maschine« begreifen, »unter die Räder geraten« (277) lässt. So werden jeweils auch die Ambivalenzen dieser Gemeinschaftsformen deutlich benannt. Schließlich be­schreibt F. die Pfingstgemeinde als migrierende und als mystagogische Gemeinde sowie als Lerngemeinschaft, deren Lebendigkeit davon abhängt, dass sie in der Lage ist, paradoxe und widersprüchliche Situationen als Spannungsfelder auszuhalten, die sie letztendlich lebendig erhalten. F. benennt hier Charisma und Hierarchie, die Rolle des Pastors, die Genderproblematik, die apokalyptische Endzeiterwartung sowie den »Sozialstreik« ( la huelga social), also »Weltabkehr versus gezielte Weltzuwendung« (316).
Vor diesem Hintergrund zeigt F. nun die implizite Gemeindepädagogik der IEP auf, die sich z. B. von Paolo Freires Befreiungspädagogik abgrenzt, weil dessen Dreischritt »Sehen – Urteilen – Handeln« abgelöst wird durch den Dreischritt »Sehen – Erfahren/Fühlen – Handeln« (362). Auch gegenüber den Lutherischen Kirchen in Chile mit ihrer weitgehenden Spracharmut grenzen sich die Pfingstkirchen mit ihrem Sprachüberschuss ab. So macht F. deutlich, worin für viele Chilenen der Erfolg der Pfingstkirchen seit über 100 Jahren begründet liegt. Es wird aber auch deutlich, welche Schattenseiten diese Gemeinschaften mit ihrer emotionalen Wärme haben: nämlich die drohende Exkommunikation, verbunden mit expliziter Verteufelung, falls man sich nicht an die Normen der Gemeinschaft hält, die das gesamte Leben (z. B. auch das sexuelle) um­fassen, oder man nicht an entscheidender Stelle positioniert ist, wie etwa die männlichen Gemeindeleiter. Ob die Pfingstkirchen angesichts der zunehmend auch in Chile zu beobachtenden Individualisierung und Pluralisierung eine Zukunft haben, ist eine of­-fene Frage, die auch daran hängt, ob sie in der Lage sein werden, ihr dualistisches Weltbild anfragen zu lassen und sich für andere Wahrheiten zu öffnen.
Was ist von Chile für den deutschen Kontext zu lernen? Zum einen scheint mir die Wahrnehmung der Wichtigkeit des Faktors Gefühl, Atmosphäre, Vertrauen etc. für die religiöse Gemeinschaftsbildung praktisch-theologisch immer noch nicht genügend reflektiert zu sein. Erlebnisgesellschaft heißt, dass Religion auch etwas Heißes sein muss, wenn sie begeistern soll. Sie kann nicht immer nur moderat und ausgewogen daherkommen. Zum anderen wird aber auch deutlich, wie schnell und stark eine solch heiße Form religiöser Gemeinschaft unpolitisch bzw. demokratiefeindlich werden kann, auch wenn sie für ihre Mitglieder individuell Fortschritte bereithält. Das wiederum dämpft alle religiösen und kirchlichen Fantasien von geschlossenen Gemeinschaften, in de­nen es heißt hergeht, gehörig.