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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

740–742

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Husmann, Bärbel

Titel/Untertitel:

Das Eigene finden. Eine qualitative Studie zur Religiosität Jugendlicher.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2008. 240 S. = Arbeiten zur Religionspädagogik, 36. Geb. EUR 44,99. ISBN 978-3-89971-471-5.

Rezensent:

Frank M. Lütze

Mit erheblicher Verzögerung, die der Rezensent verschuldet hat, wird im Folgenden eine empirische Studie zu besprechen sein, die in sensibler Weise religiöse Suchbewegungen Jugendlicher skizziert und damit in vielfacher Weise religionspädagogisch zu denken gibt. Im Rahmen ihrer 2007 in Hildesheim angenommenen Dissertation interpretiert Bärbel Husmann Leitfadeninterviews mit Jugendlichen über Fragen des religiösen Selbstverständnisses. Der ausführlichen Vorstellung der zehn Fälle (49–162) vorangestellt ist ein einleitender Teil, der Fragestellung, Ziele und Methodik reflektiert (9–48). Auf die Fallanalysen folgt ein Auswertungskapitel, das die Einzelbefunde vergleicht und systematisiert (163–215). Den Abschluss der Studie bilden handlungsleitende Visionen für Schule und (vor allem) Gemeinde (217–227). Die transparente, in sich schlüssige Gliederung setzt sich auch innerhalb der Kapitel fort, so dass sich Querverbindungen zwischen den einzelnen Fällen leicht finden lassen.
Der die Studie leitenden Intention, religiöse Selbstverständnisse Jugendlicher sichtbar zu machen, entsprechen die Definition des Untersuchungsgegenstandes sowie die Methodik der Gesprächsführung und -interpretation. So soll unter »Religion« nur das ge­fasst werden, was die Jugendlichen selbst mit diesem Begriff verbinden, eine Ausdehnung des Begriffs auf funktionale Äquivalente wird abgelehnt. Entsprechend scheiden für die Vfn. quantitative Verfahren, die mit vorformulierten Items arbeiten, aus; sie entscheidet sich stattdessen für leitfadengestützte Interviews, die mit Erzählungen generierenden Impulsen beginnen. Im anschließenden Gespräch werden bestimmte thematische Schwerpunkte aus der Erzählung aufgenommen bzw., sofern nicht genannt, durch Fragen eingetragen. Ein eigener Akzent liegt dabei u. a. auf der Be­deutung von Konfessionalität für die Jugendlichen, die mit Hilfe einer Dilemmafrage methodisch geschickt eruiert wird. Die Auswahl anzusprechender Impulse (42 f.) scheint mir freilich für eine ergebnisoffene Rekonstruktion religiöser Selbstverständnisse zu einseitig christentumsorientiert:
Themen(komplexe) wie »Kirche/Gottesdienst/Beten«, »biblische Geschichten«, »Re­ligionsunterricht« oder »Gott im eigenen Leben« laufen Gefahr, eher die Haltung zu Christentum und Kirche zu evaluieren als zur Versprachlichung eigener religiöser Vorstellungen zu verhelfen. Religiöse Selbstverständnisse, die sich nicht in Zustimmung oder Ablehnung auf das Christentum beziehen, lassen sich damit nur schwer erfassen (vgl. das Gespräch mit einer Jugendlichen mit Migrationshintergrund, 82–89).
Die Ergebnisse aus zehn Gesprächen mit (nord-)deutschen Jugendlichen werden im Hauptteil der Studie in ausführlichen Porträts vorgestellt. Nach einer Kurzvorstellung des Gesprächspartners stellt die Vfn. zunächst jeweils jene Themen dar, die ihr Gegenüber von sich aus mit dem Stichwort »Religion« verbindet. Interviewauszüge, Reflexionen zum Gesprächsverlauf und ausgesprochen umsichtige Interpretationen gehen dabei Hand in Hand. Dabei gelingt es eindrücklich, die im Titel der Studie angedeuteten religiösen Suchbewegungen Jugendlicher nachzuzeichnen – Suchbewegungen, die bisweilen tastend und bisweilen im Gewand von Gewissheiten eingekleidet vorgetragen werden. Eigene Unterkapitel sind den Fragen nach der Rekonstruktion der religiösen Biographie sowie nach der konfessionellen Prägung gewidmet. Am Ende der Porträts steht der Versuch, die Religiosität des Gesprächspartners jeweils anhand der von Charles Y. Glock unterschiedenen fünf Dimensionen von Religiosität zu erfassen. Dabei zeigt sich, dass religiöses Erleben und religiöse Praxis eine zentrale Rolle für die Jugendlichen spielen, während sich in ethischer Hinsicht die auch in anderen Studien beobachtete Tendenz zur Entkoppelung von religiöser Orientierung und ethischer Werthaltung (210–212) be­stätigt. Angesichts der zum Teil sehr individuellen religiösen Konstrukte treten allerdings auch die Grenzen der Glockschen Taxonomie deutlich hervor.
Die partiell schon bei Glock zu beobachtende Tendenz, Religiosität primär im Bezug auf traditionelle religiöse Systeme zu verstehen, scheint mir durch die Interpretation der Vfn. (21–27) noch verstärkt: So erfährt der bei Glock oszillierende Begriff »ideological dimension«, der sich auf das individuelle Verhältnis zum Glauben bzw. zu Glaubensaussagen bezieht, eine Beschränkung auf den Bezug der Jugendlichen auf traditionelle Lehrstücke, da der Glaube selbst der Messbarkeit entzogen sei; die »intellectual dimension« wird von der Vfn. eingeschränkt auf religiöses (christentumbezogenes) Wissen. Fraglos gibt der da­bei beobachtete magere Befund – weder traditionelle Glaubensüberzeugungen noch religiöses Wissen spielen für die Interviewten eine wesentliche Rolle! – religionspädagogisch zu denken (vgl. in der Zusammenfassung 207–210). Eine weite Fassung beider Dimensionen, die stärker die subjektive Aneignung von Religion bzw. die individuelle kognitive Verarbeitung religiöser Fragen er­-fasste, würde allerdings die beachtliche religiöse Produktivität einiger Jugendlicher (vgl. etwa »Lena«, 90–103) adäquater zu erfassen helfen.
An die Einzelporträts schließt sich ein Auswertungskapitel (163–215) an, das nacheinander die zu Beginn der Studie vorgestellten Forschungsfragen reflektiert. Darin finden sich zahlreiche Be­ob­achtungen, die beachtenswert sind; vier aus meiner Sicht wichtige Beobachtungen möchte ich exemplarisch hervorheben. Zum Ers­ten kann die Vfn. zeigen, dass Peers als Gesprächspartner in Sachen Religion eine überraschend große Rolle spielen (176 f.). Zweitens fokussieren die Jugendlichen auffallend häufig die Taufe als we­sentliche, von eigener Entscheidung unabhängige Wegmarke ihrer religiösen Biographie (189.202 f.). Die eigene konfessionelle Verortung, so wird drittens deutlich, ist der Mehrzahl der befragten Jugendlichen durchaus bewusst, allerdings scheint sie primär auf der emotionalen Ebene verankert als Zugehörigkeitsgefühl (195), während reflektierte konfessorische Positionsbestimmungen nur selten vorkommen (199). Im Blick auf religionsbezogene Lernprozesse schließlich ist der Befund bemerkenswert, dass die Person, die Religion unterrichtet oder Konfirmandenunterricht hält, in den Darstellungen der Jugendlichen weit mehr im Vordergrund steht (und wohl auch mehr Auswirkung auf das eigene Verhältnis zur Religion hat) als der vermittelte Inhalt: Ein Befund, der fragen lässt, welche Rolle der Selbstreflexion und -entwicklung in der Lehrerausbildung zukommt bzw. zukommen sollte. Am Ende des Auswertungskapitels geht die Vfn. auf Aspekte ein, die überraschend in den Gesprächen auftauchten. So thematisieren mehrere Mädchen ihr Bedürfnis nach religiöser Autonomie im Horizont wahrgenommener kirchlicher Benachteiligungen von Frauen: »Als Frau […] aufrecht vor Gott stehen können« erleben die Jugendlichen nach wie vor nicht als Selbstverständlichkeit. Daneben tritt in den Gesprächen überraschend deutlich hervor, welche Rolle konkrete Orte – Kirchgebäude, ein Kloster, das Gelände von Taizé – für religiöse Erfahrungen der Jugendlichen spielen.
In welcher Weise die vorgestellten Ergebnisse praxisrelevant sein können, machen die abschließenden, bewusst als eigene Stellungnah­me gekennzeichneten »Visionen« für die Handlungsfelder Schule und (vor allem) Gemeinde deutlich (217–227). Dabei weist die Vfn. u.a. darauf hin, dass die Erfahrbarkeit gelebter Religion sowie engagierte, glaubwürdige Bezugspersonen für die Entwicklung einer eigenen Religiosität entscheidend sind. Ein Religionsunterricht ohne solche Bezüge wird hingegen von den Jugendlichen, wie die Gespräche zeigen, als belanglos erlebt: Entsprechend kurz scheint die Halbwertzeit der dort vermittelten Wissensbestände.
Die Lektüre dieser sensiblen Untersuchung stimmt nachdenklich, ohne bereits fertige Lösungen zu präsentieren: Das macht das Buch uneingeschränkt lesens- und bedenkenswert.