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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

737–739

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Dörnemann, Holger

Titel/Untertitel:

Kirchenpädagogik. Ein religionsdidaktisches Prinzip Grundannahmen – Methoden – Zielsetzungen.

Verlag:

Berlin: EB-Verlag 2011. 377 S. m. Abb. = Kirche in der Stadt, 18. Kart. EUR 22,80. ISBN 978-3-86893-063-4.

Rezensent:

Thomas Klie

Nach dem Beginn pädagogisch motivierter Kirchenerkundungen in den 1980er Jahren und der praktisch-theologischen Entdeckung der Kirchenpädagogik Ende der 1990er Jahre sind anderthalb Jahrzehnte bzw. ein Vierteljahrhundert vergangen – Grund genug also für eine grundsätzliche theoretische Bestandsaufnahme im Rang einer umfangreichen Qualifikationsarbeit. Die hier vorliegende katholische Münchener Habilitationsschrift von Holger Dörnemann bietet einen soliden Überblick über die bis dato publizierten Entwürfe und rubriziert sie als ein »religionsdidaktisches Prinzip«. Gefragt wird: »Wie knüpft die Kirchenpädagogik an die zentralen Fragestellungen der Religionsdidaktik an? Wie verhält sie sich in der Zuordnung und Beziehung zu den religionspädagogischen Prinzipien und Dimensionen?« (13)
Beantwortet werden diese Forschungsfragen im 1. Teil auf gut 50 Seiten im Blick auf Entstehungsgründe und -phänomene. Der ursprüngliche Sitz im Leben dieser jungen religionspädagogischen Teildisziplin ist die Praxis der Kirchenführungen im protestantischen Ost- und Westdeutschland. – Es folgt (auf knapp 40 Seiten) die Erörterung von vier Erschließungstypen: Kulturorientierte, theologieorientierte, subjektorientierte und erlebnisorientierte Kirchenpädagogiken werden einander gegenüber gestellt.
Im 2. Teil werden zunächst in konfessioneller und religionswissenschaftlicher Perspektive raumtheoretische und -theologische Positionen referiert, die dann im Anschluss religionsdidaktisch ge­gengelesen werden. Kirchenpädagogisches Lernen erscheint hier im Schnittfeld aus »Ästhetischem Lernen«, »Anamnetischem Lernen«, »Korrelationsdidaktik«, »Symboldidaktik«, »Performativem Lernen« und »Kompetenzorientiertem Lernen«. Damit bleibt bis auf die sog. »Kindertheologie« keine der konzeptionellen Grundentscheidungen seit den 1970er Jahren ausgespart. Der kritische Leser fragt sich bei solchen Globalkategorisierungen nicht zu Un­recht, ob ein in seiner pädagogischen Gestalt doch recht übersichtliches Methodenpotpourri all diese Theoriezuschreibungen in sich vereinen kann. Der Vf. bejaht dies uneingeschränkt und hebt damit die Kirchenpädagogik in den Rang eines religionspädagogischen Passepartouts.
Im 3. Teil, dem programmatischen Kern der Untersuchung, werden die zuvor erhobenen normativen Kriterien auf »konkrete didaktische Arrangements, Inhalte und Lernfelder« appliziert. Es geht hier um die »Räumlichkeit religiöser Praxis«. – Im kurzen ab­schließenden 4. Teil wird ein Ausblick in gesellschaftlicher, liturgisch-mystagogischer, ökumenischer und interreligiöser Perspektive formuliert. Alles mündet in eine Erinnerung an Rahners Diktum von der »heiligen Unbegreiflichkeit Gottes« (326 f.).
Was ist der Erkenntnisfortschritt dieser Arbeit? – Zunächst einmal die geschichtlich lückenlose Rekonstruktion dieser Praxistheorie, evangelisch wie katholisch. Hier kann man viel lernen und staunen, denn dem Vf. sind keine noch so entlegenen Publikationen entgangen. Für die protestantische Leserschaft ist darüber hinaus natürlich immer wieder überraschend zu sehen, wie anders, nämlich sakramental und ontologisch, doch auf dem gedanklichen Terrain der Mutterkirche die Konzepte »Heiligkeit« bzw. »heiliger Raum« diskutiert werden.
Problematisch ist jedoch das an vielen Stellen sich zeigende ho­listisch-integrative Theoriedesign des Vf.s. Unterschiede werden ad­diert und Divergenzen in Reihe geschaltet. Wenn Kirchenpä­-da­gogik de facto jedes religionsdidaktische Desiderat der letzten 50 Jahre erfüllt, alle Lerndimensionen abdeckt und alle kirchlichen Vermittlungsdesiderate befriedigt, dann wäre doch – zugespitzt – hier der logische Schluss zu ziehen, das Schulfach »Religion« durch das Schulfach »Kirchenpädagogik« zu ersetzen.
Auffallend ist demgegenüber die religionshermeneutische Zu­rückhaltung des Vf.s. Denn in praktisch-theologischer Perspektive erscheint der Kairos der Kirchenpädagogik in der kritischen Rück­schau doch eher als ein typisch protestantisches Krisenphänomen. Die Entdeckung der leibräumlichen Dimension des evangelischen Glaubens (parallel bildete sich die Praxistheorie der »Liturgischen Präsenz« heraus!) war bzw. ist noch ein Reflex der durch und durch spiritualisierten und intellektualisierten christlichen Praxis. Aber auch kulturhermeneutisch wäre – im Rahmen einer Habilitationsschrift zumal – viel zu sagen zu den pädagogischen und kulturellen Paradigmen der 1990er Jahre, in deren Fokus die Kirchenpädagogik durchaus als ein Epiphänomen des damaligen Ganzheits­pathos’ firmiert. Die desintegrierenden Dynamiken der moderngesellschaftlichen Differenzierungs- und Beschleunigungsprozesse haben auf ihrer Rückseite immer auch gegenläufige und durchaus regressive Stilgesten provoziert. Wer »das Eigentliche« in Gottes sakralen Eigenheimen sucht, verengt natürlich (bewusst?) die Wahrnehmung für die meta-räumlichen und meta-leiblichen Wirkungen des Evangeliums.
Sucht man in dieser fleißig recherchierten Arbeit ein originelles und eigenständiges Theoriegebäude, wird man eher enttäuscht. Der Vf. sammelt vielmehr, ordnet und zitiert – erstes akribisch, zweites nicht immer glücklich und letztes reichlich. Der Band bietet darum primär eine synthetische Kartographie zweier unterschiedlicher Praxistheorien: einer innovativen und im Blick auf ihre Verbreitung erfolgreichen Kirchenpädagogik und der traditionellen Verbundwissenschaft Religionspädagogik. Beide Praxistheorien haben notabene verschiedene Reichweiten, Geltungsansprüche und Auflösungsstärken. Das ist hier so gut wie gar nicht im Blick. Es macht aber den Reiz dieses Buches aus, beide Vermessungen des – im weitesten Sinne – katechetischen Feldes aufeinander abzubilden. Nicht immer sind dabei die kategorialen Zuordnungen präzise definiert.
Was z. B. ist epistemisch unter einem »religionsdidaktischen Prinzip« zu verstehen und wie unterscheidet es sich von einer Didaktik, wie etwa der »Symboldidaktik« oder der »Performativen Didaktik«? Was genau ist mit »Perspek­tive«, »Dimension« und »Phänomenologie« gemeint? Und was un­terscheidet alle drei genannten Größen von einer »Atmosphäre« (151 ff.)? Addiert man aber Inkommensurables (vgl. die erkenntnistheoretisch hilflose Rede vom »Zei­chen/Symbol«; 213 passim), dann entsteht zwangsläufig ein terminologisches Rauschen in Satzblasen wie dieser: »Eine ästhetische, hermeneutisch-semiotische Kompetenz als Fähigkeit, religiös-spirituelle Phänomene und die Räumlichkeit religiöser Praxis in Bezug auf das Heilige sensibel wahrzunehmen, sie in ihren charakteristischen Sprach-, Zeichen- und Kommunikationsformen kennen zu lernen, einzuordnen und auf die individuelle Dimension von Religion hin zu erschließen« (252). Ob Religionslehrkräfte, Fortbildner und Theologiestudierende etwas mit dieser kirchenpädagogischen »Kompetenzbeschreibung« anzufangen wissen?