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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

735–736

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sandel, Michael J.

Titel/Untertitel:

Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Aus d. Amerik. v. H. Reuter.

Verlag:

Berlin: Ullstein Buchverlage 2012. 300 S. Geb. EUR 19,99. ISBN 978-3-550-08026-5.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Um den Hintergrund der neuen Publikation des in Harvard Politische Philosophie lehrenden S. deutlich zu machen, möchte ich kurz an sein frühes Buch Liberalism and the Limits of Justice (1982) erinnern. Dort hat er erstmals die von John Rawls geprägte liberale Vorstellung, Gerechtigkeit sei Fairness gegenüber den Anspruchsrechten der Individuen, aus kommunitaristischer Sicht kritisiert. Rawls will den Bürgern die Verwirklichung eigener Ziele ermöglichen, ohne die Freiheit der anderen Menschen zu tangieren. Der politischen Ethik obliegt bei ihm die Aufgabe, die dazu erforderlichen gerechten Rahmenbedingungen zu definieren. Eine gerechte Ge­sellschaft setzt keine besondere Konzeption des Guten voraus, sondern räumt dem Rechten den Vorrang ein. Diese Auffassung von Rawls, Folge seiner Kant-Rezeption, führt in S.s Kritik zur Figur des ungebundenen Selbst, das gegenüber allgemeinen Zwecken und Zielen unabhängig ist. Dieses ungebundene Selbst kann allen freiwillig entstandenen Gemeinschaften beitreten oder solche Kooperationen bilden. So führt das ungebundene Selbst souverän ein von Sanktionen sozialer Rollen befreites Leben. Es ist nicht durch vorgängige Präferenzordnungen bestimmt, auch nicht durch soziale Gewohnheiten, Traditionen oder ererbten Status.
An dieser Stelle moniert S., dass die Denkfigur des unabhängigen Selbst auf einer Anthropologie beruht, die die menschliche Identität von ihren Zielen (den Vorstellungen des Guten) und Bindungen (wie Familie, Gemeinschaft, Nation und Geschichte) ab­koppelt – und damit menschliches Leben wirklich auf ein ungebundenes Leben, dem es an Orientierung mangelt, reduziert. Allerdings ist – mit einer entsprechenden Resignation von S. fest­gehalten – diese liberale Vorstellung in der Gegenwart Realität geworden. In seiner aktuellen Publikation nimmt S. diese Diagnose der liberalen Welt wieder auf und weist auf, welche Konsequenzen im Verlauf von 30 Jahren daraus erwachsen sind, in denen der Markt zum alles beherrschenden Paradigma geworden ist und den Kauf von bisher unvorstellbaren Dinge erlaubt, wie beispielsweise Zellen-Upgrades im Gefängnis, Benutzung reservierter Fahrspuren, Leihmutterschaft, Einwanderung in die USA, Jagd auf bedrohte Tierarten, sofortige Arzttermine oder Aufnahme an angesehenen Universitäten (9–24). Dieses Buch beschreibt in fünf Kapiteln beispielreich an den Sachverhalten gekaufter Privilegien (25–55) und der bezahlten Anreize (57–116) die Verdrängung der Moral durch die Märkte (117–162), die auch den Tod zu einem Geschäft macht (163–201) und in Sponsoring und Werbung fast alle Bereiche des Alltags erreicht hat (203–250). Die Ökonomie, so das Fazit, ist zu einer »Herrschaftswissenschaft« (12) geworden, durch die die Wertvorstellungen des Marktes im Leben der Gesellschaft ihre Präferenz gewonnen haben.
S. will mit diesem Buch eine öffentliche Debatte anstoßen, um die Logik des Marktes zu beschränken, um also darüber nachzudenken, welche Dinge in der Gesellschaft nicht für Geld zu haben sein sollten. Denn durch die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche entstehen mit der Ungleichheit und Korruption zwei große Gefahren: Wenn alles käuflich ist, spielt das Geld gesellschaftlich eine sehr große Rolle und verstärkt die Kluft zwischen Arm und Reich, indem über die Ungleichheit der soziale Zusammenhalt ge­fährdet wird. Zudem werden die guten Dinge des Lebens durch einen Preis korrumpierbar oder beschädigt. Sie verdrängen möglicherweise Dinge, die nicht in Waren verwandelt werden sollten, wie »Gesundheit, Ausbildung, Familienleben, Natur, Kunst, Bürgerpflichten« (17). An dieser Stelle verweigert S. sich der rein ökonomischen Sicht und betont den Handlungsbedarf der Moral und der Politik, um diese Verfügungsmacht des Marktes zu begrenzen. Denn die umfassende Kommerzialisierung des Lebens begünstigt die zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit der voneinander abgeschotteten Lebenswelten der sozialen Schichten, mit negativen Konsequenzen für die Demokratie, die es zu vermeiden gilt: »Es kommt darauf an, dass Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Sozialstatus miteinander in Kontakt kommen und im Alltag auch einmal zusammenstoßen. Denn nur so lernen wir, wie wir unsere Unterschiede aushandeln und wie wir gemeinsam dem Gemeinwohl dienen können« (250).
Nach dem Ende der Auseinandersetzung von Liberalismus und Kommunitarismus nimmt S. also seine kommunitaristischen Grundgedanken wieder auf und weist anhand vieler Beispiele nach, wie das ungebundene Selbst der Logik des Marktes gehorcht und dadurch wichtige gemeinschaftsbezogene Werte verloren gehen. Damit hat S. zweifellos eine berechtigte Kritik vieler Verwerfungen einer Marktwirtschaft geliefert, die wirtschaftsethisch aufzuarbeiten sind. Dem Anliegen des Buches aber wäre noch mehr gedient, hätte S. die Fülle seiner Negativbeispiele beschränkt – die mit ih­rem US-Fokus auch nicht umfassend auf europäische Verhältnisse übertragbar sind – und über seine Rolle als Anreger einer wichtigen Debatte hinaus den Versuch unternommen, seine Konzeption für ein gesellschaftliches Zusammenleben weiterzuentwickeln, die die aufgezeigten Defizite vermeidet. Aus hiesiger Sicht könnten die Impulse des Ordoliberalismus und der ursprünglichen Idee einer sozialen Marktwirtschaft hilfreich sein, da hier der Markt nicht verabsolutierbar ist, sondern als Austauschort von Gütern im gesellschaftlichen Bezug steht. Hier orientieren sich die Vorstellungen des Guten nicht an Mustern aus der Vergangenheit, sondern an Überlegungen für eine Architektur einer gerechten sozialen Ordnung in der Gegenwart.