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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

733–734

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Meyer-Stiens, Lüder

Titel/Untertitel:

Der erzählende Mensch – der erzählte Mensch. Eine theologisch-ethische Untersuchung der Patientenverfügung aus Patientensicht.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2011. 346 S. m. Abb. u. Tab. = Edition Ethik, 9. Geb. EUR 48,90. ISBN 978-3-7675-7151-8.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Im vergangenen Jahrzehnt standen Patientenverfügungen in Deutschland in medizinethischen und -rechtlichen Debatten ganz im Vordergrund. Durch das vom Deutschen Bundestag 2009 verabschiedete Patientenverfügungsgesetz kam die Diskussion zu einem vorläufigen Abschluss. Obwohl das Gesetz manche Regelungslücke hinterlässt – z. B. in Bezug auf die Notfallmedizin –, hat es dem Wunsch zahlreicher Menschen, auf der Basis ihres Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsgrundrechts über die Umstände ihres Lebensendes und die passive Sterbehilfe Vorabentscheidungen zu treffen, insgesamt angemessen Rechnung getragen. Für Ärzte, An­gehörige und die Patienten selbst wurden Rechtsklarheit und Rechtssicherheit substantiell verbessert. Dem Gesetz zufolge sind schriftlich abgefasste Patientenverfügungen, die hinreichend differenziert sind, rechtsverbindlich. Weitere Klarstellungen, die auf dieser Linie liegen, erfolgten höchstrichterlich. Am 20.Juni 2010 urteilte der Bundesgerichtshof (Az. 2 StR 454/09), dass gegebenenfalls auch frühere mündliche Äußerungen eines Patienten, der aktuell nicht mehr urteils- und äußerungsfähig ist, Verbindlichkeit besitzen und von Dritten nicht übergangen oder beiseitegeschoben werden dürfen. – Die vorliegende Göttinger Dissertation von Lüder Meyer-Stiens zielt darauf ab, zu Patientenverfügungen speziell eine evangelisch-theologische Bewertung vorzulegen. Sinnvoll ist, dass sie die Perspektive von Patienten selbst zugrunde legt. Zusätzlich zu theologischen Aspekten stellt sie ausführlich medizinische, juristische sowie empirisch-sozialwissenschaftliche Zu­gangswege dar und nimmt für sich in An­spruch, zu dem Gesamtthema »kompendienhaft eine Übersicht« zu bieten (so der Text auf der Rückseite des Bandes). Teilweise ist das Buch dann aber allzu breit und redundant angelegt. Etliche Formulierungen (z. B. 83: »akademistische Albernheit«) hätten sachlich und sprachlich ad­-äquater ausfallen müssen. Andererseits finden sich immer wieder interessante Hinweise oder Einzelaspekte. Hierzu gehört die Beobachtung, dass auf Seiten der Ärzteschaft die Bereitschaft, vom tradierten Paternalismus abzurücken und die Selbstbestimmung von Patienten am Lebensende zu respektieren, weniger binnenärztlichen als vielmehr medizinexternen Impulsen zu verdanken ist, die von der Rechtswissenschaft, der Rechtsprechung und der Rechtsordnung stammen (195, Anm. 260).
Der Vf. selbst äußert sich zur Patientenautonomie und -selbstbestimmung als normativer Basis von Patientenverfügungen eher zurückhaltend. Er grenzt sich von einem »solipsistischen« (300) oder »verabsolutierenden« (291) Verständnis von Autonomie ab, bei dem der Dialog mit den Mitmenschen und das Eingebundensein von Menschen in ihre soziale Lebenswelt nicht genügend beachtet werde. Damit wird er bei Juristen, Ethikern und Philosophen, die auf Selbstbestimmung und Patientenautonomie Wert legen, offene Türen einrennen. Zu plakativ und zu schematisch bleibt es aber, »Philosophie« einerseits und »evangelische Ethik« andererseits – jeweils im Singular! – in der Weise zu konfrontieren, dass Erstere für Selbstbestimmung stünde und nur Letztere ein kommunikatives Menschenbild repräsentiere (vgl. z. B. 281). Der Vf. selbst betont, dass der sterbende Patient Anspruch auf Fürsorge hat, und interpretiert Patientenverfügungen als »Kommunikationsinstrument« (51.113.275 u.o.). Diese Leitidee des Buches hat zwei Seiten. Sie greift zu Recht auf, dass im Gegenzug zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens und zur Technisierung medizinischer Be­handlungsabläufe heutzutage die dialogisch-kommunikative Struktur der Arzt-Patient-Beziehung neu zu akzentuieren ist (vgl. z. B. 309); und sie trägt dem Problem Rechnung, dass viele Patientenverfügungen nicht exakt genug auf die akute Entscheidungssituation zugeschnitten sind, so dass sie im Anwendungsfall einer konkretisierenden Auslegung bedürfen. Die Kehrseite der Charakterisierung von Patientenverfügungen als eines bloßen »Kommunikationsinstruments« besteht jedoch darin, die Rechtsverbindlichkeit, die solche Verfügungen seit 2009 auch in der Bundesrepublik Deutschland haben, oft nicht deutlich genug hervortreten zu lassen.
Sinnvoll ist ein weiterer Gesichtspunkt des Buches. Der Vf. entfaltet, dass Patientenverfügungen im Horizont der persönlichen Lebensgeschichte ihrer jeweiligen Verfasser abgefasst und verstanden werden sollten (z. B. 315.322). Dieser individualethisch-existenzielle Aspekt wäre noch prägnanter zutage getreten, wenn der Vf. die Reflexionen des Philosophen Hans-Martin Sass zur Wertanamnese und zur narrativen Ethik als Zugang zu Patientenverfügungen gezielter und umfassender rezipiert hätte. Im Blick auf Patientenverfügungen lässt sich das Modell narrativer Ethik sogar didaktisch fruchtbar machen. Sass hat konzeptionell Beispielgeschichten zusammengestellt, die Interessierte nutzen können, um – als Basis für eigene Entscheidungen – aussagekräftiges Anschauungsmaterial über verschiedene Konstellationen von Krankheit und Sterben zu erhalten. Auf der Grundlage narrativ präsentierter Fallbeispiele können Patientenverfügungen zustande kommen, die sowohl persönlich authentisch sind und der eigenen Lebensgeschichte ihrer Verfasser gerecht werden als auch sachlich so differenziert ausfallen, dass sie den Anforderungen des Gesetzes zur Rechtsverbindlichkeit Genüge leisten. Das Anliegen der vorliegenden Dissertation, für Patientenverfügungen auf narrative Ethik zurückzugreifen, lässt sich mithin noch ausweiten.