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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

731–733

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Merks, Karl-Wilhelm

Titel/Untertitel:

Grundlinien einer interkulturellen Ethik. Moral zwischen Pluralismus und Universalität.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg u. a.: Herder 2012. 314 S. = Studien zur Theologischen Ethik, 132. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-7278-1707-6 (Academic Press Fribourg); EUR 52,00. ISBN 978-3-451-34130-4 (Herder).

Rezensent:

Thorsten Moos

Die Auseinandersetzung um die Moderne ist in der theologischen Ethik lange unter dem Begriff der Autonomie geführt worden. Evangelischerseits suchte man seit dem 19. Jh. die Ansprüche autonomer Vernunft etwa mittels der Zuordnung von »Autonomie« und »Theonomie« theologisch zu reflektieren und zu domestizieren (Hans Lassen Martensen; Paul Tillich u. a.). Die katholische Moraltheologie hat im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils das Recht autonomer Moralbegründung unter Rückgriff auf Thomas von Aquin rekonstruiert (Alfons Auer; Franz Böckle u. a.). Dieser Denktradition ist auch der niederländische Moraltheologe Karl-Wilhelm Merks verbunden, der (nach: Gott und die Moral, Münster 1998) nun eine weitere Sammlung von Beiträgen zur Moraltheologie in deutscher Übersetzung vorgelegt hat. M. geht von einer verschärften Modernitätsdiagnose aus, die nicht mehr nur den antitraditionalen Anspruch einer universalen Vernunftethik, sondern auch eine Pluralität von Moral und Moralbegründungen zur Kenntnis nimmt, angesichts derer Behauptungen moralischer Universalität generell fraglich werden. Auch wenn M. Pluralismus und Individualismus grundsätzlich befürwortet, sieht er doch auch in modernen Gesellschaften einen Bedarf an gemeinsam geteilter Moral. Diesen gilt es zu entwickeln und zu begründen. Das Buch zielt mithin auf die »Herstellung einer neuen Balance zwischen Universalität und Pluralität der Moral« (21).
Der Gedankengang kann grob in zwei Teile gegliedert werden. Die Kapitel I bis X sind der theologischen Wahrnehmung der moralischen und ethischen Pluralität gewidmet, während in Kapitel XI bis XVII nach verbindenden Momenten in Moral und Moralbegründung gesucht wird.
Im ersten Teil wendet sich M. gegen moralische Verfallsdiagnosen und unternimmt eine »positive Lektüre der Moderne« (16). Es gelte, die moderne »Kultur der Freiheit« (25) ernst zu nehmen. Moralische Legitimation könne nicht am verantwortlichen Subjekt und seinem Gewissen vorbei geschehen. Ein Traditionalismus in der Moraltheologie sei daher abzulehnen. Die drei Quellen der Moraltheologie – die Bibel, die naturgesetzlich verstandene Vernunft und das Lehramt – lieferten keine per se verpflichtenden Normen, sondern dienten lediglich als »Hinweise[] in der mora­-lischen Reflexion« (32), die als ein unabgeschlossener Prozess im moralisch pluralen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zu verstehen sei. Ein solcher »Paradigmenwechsel hin zu einer autonomen Moral« (95) ermögliche auch die Suche nach moralischen Gemeinsamkeiten. Individualisierung und Pluralisierung auf dem Gebiet der Moral seien mithin nicht nur faktische Signaturen der Moderne, die es zur Kenntnis zu nehmen gelte, sondern sie seien auch moralisch positiv zu beurteilen.
Für die Wahrnehmung moralischer Pluralität bietet die katholisch-theologische Tradition eine Reihe von Reflexionsinstrumenten an. M. findet hierfür die Formel: »Eine einzige Moral, aber plural.« (153) Anschließend an den flexiblen innerbiblischen Umgang mit Normenpluralität kann Thomas von Aquin das Viele im Einen etwa durch die Abstufungen von Normen nach Allgemeinheit (Prinzip, Konklusion, Determination) und nach Verpflichtungsgrad denken. Ertragreich ist auch der flexible Umgang mit normabweichendem Verhalten bei Thomas und in der späteren Moral­-tradition, dem M. einen eigenen Exkurs widmet. Hier erkennt er eine Achtung vor der Freiheit des Einzelnen auch angesichts einer als einheitlich gedachten normativen Ordnung, an die er positiv anschließen kann.
Den Kern seines Arguments entfaltet M. in Kapitel XII (»Umrisse eines gemeinsamen Grundethos«). Gesellschaftliche Integration kann, so schließt M. aus den niederländischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, nicht allein im Modus der Tolerierung »multikulturellen« Nebeneinanders gelingen. Es bedarf eines Mindestmaßes an »interkultureller Verständigung« (220), die über das liberale Minimum rechtlichen Freiheitsschutzes hinaus nach dem »Ge­meinsam-Verbindlichen« (221) sucht. Die neuere Moraltheologie stellt dafür zwei Einsichten bereit, die dieser Suche dienen können: Dass Moral vernünftig, also auch nichtreligiös, zu begründen ist, ermöglicht interreligiöse Kommunikation und Konsens; und das nach Verbindlichkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit abgestufte Modell moralischer Bindung ermöglicht das gleichzeitige Bestehen gruppenbezogener Moralüberzeugungen und eines allgemein akzeptierten normativen Grundkonsenses. Das Recht als höchs­­te normative Verbindlichkeitsstufe einer Gesellschaft ist von Moral zu un­terscheiden, hat aber moralische Voraussetzungen. Recht ruht auf einer jenseits der Pluralität von Moralverstellungen liegenden »eigene[n] Moralität der Rechtsordnung« (231). Die Grenze zwischen dieser »öffentlichen Moral« im Sinne Emile Poulats und den pluralen Privatmoralen ist dabei beständig in Bewegung. Gerade in den Menschenrechten, die die Entfaltung des Einzelnen und die Pluralität von Moral schützen, wird etwas von dem ge­meinsamen Ethos sichtbar, das plurale Gesellschaften zur Integration brauchen. – Problematisch wird kulturelle Pluralität dann, wenn zwischen Recht und privaten Moralvorstellungen noch religiös-kulturell ge­stützte moralische Gruppenüberzeugungen treten mit An­spruch auf Rechtsgeltung (Scharia). Demgegenüber hält M. am Prinzip einer einheitlichen, auf den Menschenrechten ge­gründeten säkularen Rechtsordnung fest. Dieses Prinzip sei autonom begründbar und fuße auf universalen »menschliche[n] Erfahrungen« (269), gelte also kul­turunabhängig. Daher: »Religiöse Son­derrechtsregelungen können nur für Bereiche erfolgen, die nicht als Gegenstand der staatlichen Rechts- und Gesetzesordnung beansprucht sind.« (266) Für den deutschen religionsrechtlichen Son­derweg darf darauf hingewiesen werden, dass hier innerhalb der Rechtsordnung Spannungen bestehen, die erhebliches Konfliktpotential bergen, wie etwa das kirchliche Arbeitsrecht zeigt.
Die Menschenrechte können ihrerseits durchaus unterschiedlich ausgelegt und konkretisiert werden, wobei kulturell geprägte Vorstellungen des Guten einfließen. Was dabei zur unaufgebbaren »Substanz« (286) der Menschenrechte gehört und was in einer Pluralität der Konkretionen nebeneinander bestehen kann, ist selbst der Aushandlung bedürftig. Die Beschränkung auf rein negative Abwehrrechte ist nach M. jedenfalls nicht ausreichend. Entsprechend gilt für den Toleranzgedanken als »Strukturmodell interkultureller Ethik« (295): Eine Duldung des ›Abweichenden‹ ist unzureichend, wenn nicht die kommunikative Suche nach Gemeinsamkeit und positive Fürsorge hinzutreten.
In der Pflege einer solcherart gehaltvollen Toleranz, in der Verteidigung individueller Verantwortung und der Säkularität der Rechtsordnung wie auch im Streben nach Integration des Pluralen sieht M. denn auch die Aufgaben von Kirche und Theologie in einer interkulturellen Gesellschaft. Die Betonung des spezifisch Eigenen in der Moral müsse demgegenüber zurückstehen. »Weniger Katholizismus, mehr Katholizität!« (303)
Das Buch hat m. E. seine stärksten Passagen dort, wo M. das Potential der katholischen Moraltheologie zur Wahrnehmung und Legitimierung von modernem Freiheitsdenken und moralischer Pluralität auslotet. Diese katholische Hermeneutik des Pluralis­mus ist auch für evangelische Theologen lesenswert. Der wesentliche Mangel des Buches liegt hingegen im unkonkret-programma­tischen Status der Argumentation.
Sozialwissenschaftliche Forschungen werden kaum rezipiert, weswegen die Zeitdiagnose em­pirisch wenig untermauert ist. Entsprechend nähert sich die Sprache zuweilen dem Stil des politischen Essays. Diese Lücke erscheint umso schmerzhafter, als M. selbst die Bedeutung von (auch wissenschaftlicher) Empirie für die Moraltheologie ausführlich betont (vgl. 200 ff.). Auch der Kulturbegriff wird merkwürdig ungeklärt verwendet (vgl. etwa 223) und material­ethische Debatten werden nirgendwo detailliert berücksichtigt. Da­bei hätten sich hieran die Herausforderungen des Umgangs mit pluralen moralischen Orientierungen konkret aufzeigen lassen. Da das Buch nicht aus einem Guss geschrieben ist, sondern veröffentlichte und un­veröffentlichte Beiträge zu­sam­menführt, bleiben erhebliche Re­dundanzen nicht aus, der Gedankenfortschritt wird nicht immer deutlich. Die Gliederung erschließt sich nur schwer und die Unterscheidung in Exkurse und übrige Kapitel ist nicht hilfreich.
Dennoch ist das Buch trotz einiger Niederlandismen gut lesbar. Es enthält ein umfängliches Literaturverzeichnis, aber kein Register.