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Ausgabe:

April/1996

Spalte:

394–397

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Knoll, Alfons

Titel/Untertitel:

Glaube und Kultur bei Romano Guardini.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1993. 620 S. gr. 8o. ISBN 3-506-74659-6.

Rezensent:

Christoph Schwöbel

Das Verhältnis von Glaube und Kultur, das in den Reflexionen römisch-katholischer und evangelischer Theologie am Anfang des 20. Jh.s einen zentralen Platz einnahm, gewinnt an seinem Ende erneut große Relevanz. Die Veränderungen der kulturellen Situation Europas im Kontext ihrer globalen Voraussetzungen und Folgen, in die Theologien und Kirchen in vielfältiger Weise verwickelt sind, machen die Reflexion der Kultur im Kontext der Theologie und der Theologie im Kontext der Kultur zu einer entscheidenden Aufgabe theologischer und kultureller Situationsanalyse. Die im Laufe dieses Jh.s entwickelten Deutungsmuster des Verhältnisses von christlichem Glauben und neuzeitlicher Kultur werden durch die mit dem Stichwort "Postmoderne" verbundenen Diskussionen zur Standortbestimmung der Gegenwart neu problematisiert und fordern zu erneutem Nachdenken auf. In diesem Zusammenhang ist es verständlich, daß dem Werk von Romano Guardini (1885-1968), der mit der These vom "Ende der Neuzeit" in seinem Werk dieses Titels aus dem Jahr 1950 einen "Versuch zur Orientierung" (so der Untertitel) vorlegte, neue Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung der von Walter Kasper angeregten und von Peter Hünermann betreuten Dissertation des Verfassers, die 1993 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen angenommen wurde. Die Hauptthese des Buches ist, daß die "Beziehung von Glaube und Kultur als die eigentliche Triebfeder im Leben und Schaffen von Romano Guardini" (21) zu betrachten sei, das in der Bemühung seinen Brennpunkt finde, "die ’Kultur’ wieder zu einem Thema des Glaubens zu machen, umgekehrt aber diesen ’Glauben’ angesichts einer nach-neuzeitlichen Kultur am Leben zu erhalten" (535). K. gelingt es überzeugend, in der direkten und indirekten Thematisierung dieser Beziehung den cantus firmus von Guardinis umfangreichem, facettenreichem und die unterschiedlichsten literarischen Gattungen umfassenden publiziertem Werk (unter gelegentlicher Einbeziehung unveröffentlichter Archivmaterialien) zu erweisen. Methodisch wird dabei so vorgegangen, daß die systematischen Reflexionen Guardinis vor dem Hintergrund des jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontextes entfaltet werden. In der Darstellung der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg überwiegt die Theologiegeschichtsschreibung in systematischer Absicht, danach die systematische Rekonstruktion auf zeitgeschichtlicher Grundlage.

K. arbeitet drei Phasen der Werkgeschichte heraus, denen er bestimmte inhaltliche Schwerpunktsetzungen korreliert sieht, wobei es in späteren Perioden zur Wiederaufnahme früherer Fragestellungen und zur Modifikation, Weiterentwicklung und gelegentlichen Retraktation früherer Antwortversuche kommt. Die erste Phase umfaßt die Arbeiten Guardinis von der Studienzeit bis zur Übernahme des Berliner Lehrstuhls für "Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung" (1923). Guardinis philosophisches Programmwerk "Der Gegensatz" von 1925 muß wegen seines Zusammenhangs mit dem frühen "Entwurf eines Systems der Typenlehre" ("Gegensatz und Gegensätze", 1914) nach K. noch zu dieser Phase gerechnet werden. Hier erweist sich die Methode der historischenKontextualisierung als besonders erfolgreich, indem Guardinis programmatisches Frühwerk als Teil der Überwindung der kulturellen Inferiorität des Katholizismus vor dem Hintergrund der Krise der protestantisch majorisierten Kultur des Bildungsbürgertums dargestellt wird (Kap. I, 29-64). Guardinis Werk erscheint in dieser Phase als Versuch, an die "Aufbrüche" der katholischen Ju-gendbewegung, der Liturgischen Bewegung und der Akademikerbewegung anzuknüpfen und sie durch im eigenen Denken gewonnene Impulse zu verstärken. Die neue kirchliche Orientierung ("Die Kirche erwacht in den Seelen") wird im Zusammenhang von Guardinis sich entwickelnder Gegensatzphilosophie gedeutet, die bemüht ist, an der kirchlichen Praxis (vor allem der Liturgie) ihre allgemeinen und insofern objektiven anthropologischen Grundlagen aufzuweisen. Das Christentum kann kulturell wirksam werden, weil die kirchliche Praxis grundlegende anthropologische Faktoren immer schon aufnimmt und zur Gestalt ihrer Wahrheit bringt. Insofern kann der Glaube durch die Kirche die Kultur in Anspruch nehmen, um die Vielfalt der Lebensphänomene in eine geordnete Ganzheit zu überführen. Dem entspricht die Reinterpretation des Katholischen als "alle Gegensätzlichkeiten voll entfalteter Lebendigkeit" umgreifende Ganzheit.

Dieser Erfassung der Beziehung von Glaube und Kultur nicht vollständig vermittelt sind Guardinis speziell theologische akademische Arbeiten über Bonaventuras Erlösungslehre und die "systembildenden Elemente" seiner Theologie. Guardinis theologischer Ansatz findet in seiner Bonner Antrittsvorlesung über das "Wesen der Theologie" (1922) programmatischen Ausdruck. Dabei werden in Anlehnung an Anselms "credo ut intelligam" Glaube und theologische Wissenschaft durch ihre Beziehung zur Offenbarung expliziert ­ ein in den kulturtheologischen Arbeiten dieser Zeit (noch) fehlender Bezug. Glaube wird so als "die lebendige Ueberzeugung von der Wahrheit des Offenbarungsinhalts um der Wahrhaftigkeit Gottes willen" bestimmt und "Theologie als wissenschaftlich-verstandesmäßige Beschäftigung mit Tatsache und Inhalt der Offenbarung" (139 f.).

Der zweiten Phase ordnet K. die Schriften vom Beginn der Lehrtätigkeit in Berlin bis zum Jahr 1940 zu. Hier tritt das in der Berliner Antrittsvorlesung (1923) vorgestellte Projekt der Ausarbeitung einer "katholischen Weltanschauung" in den Vordergrund, wobei der Übergang von der Anschauung des Konkreten zur Schau des Welthaften erst durch den "außerweltlichen Standpunkt" (vgl. 157) des Glaubens möglich wird, den Guardini als "im ’über-typischen’ Standort des sich selbst in Christus offenbarenden und von der Kirche vertretenen Gottes gegründet" (526) sieht. In den "Gedanken über das Verhältnis von Christentum und Kultur" (1926) werden die beiden Leitbegriffe explizit thematisch, wobei von nun an Kultur als Ausdruck menschlicher Personalität und das Christentum in einem christologisch präzisierten Sinn verstanden werden. Die Ausarbeitung dieser katholischen Weltanschauung erfolgt in den großen interpretatorischen Werken Guardinis, in denen die durch den christlichen Glauben ermöglichten und geforderten Transformationen der Kultur und die von der Kultur für das Christentum geschaffenen Herausforderungen an herausragenden literarischen Werken (Dostojewskij, Pascal, Augustinus, Dante, Hölderlin, Rilke) herausgearbeitet werden.

Die dritte Phase, die Schriften nach 1940, sieht K. von Guardinis These vom "Ende der Neuzeit" dominiert, die den Hintergrund von weitreichenden Überlegungen zur Zukunft des Glaubens unter nach-neuzeitlichen Bedingungen bildet. Ausgangspunkt ist hier die Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Autonomiebegriff, dessen "Übersteigerung" im "Autonomismus" Guardini kritisiert, dessen christliche Legitimität als "relative Autonomie" er aber in der wesensmäßigen Bezogenheit der Person auf Gott begründet sieht. Für Guardini geht es allerdings nicht um den Erweis der Möglichkeit von Glauben unter den Voraussetzungen der Neuzeit, sondern um die Frage, welchen Zukunftshorizont die "finitistische Grunderfahrung" radikaler Endlichkeit für den Glauben eröffnet. Glaube wird zur Perspektive der Bewältigung der nach-neuzeitlichen Transformationskrise der Kultur, in der die Beantwortung der Frage, wie der Mensch "Macht" über die "Macht" und ihre kulturellen Folgen gewinnen könne, im Vordergrund steht.

Die gelegentlich zwischen prophetischer Klarheit und dunkler Ahnung oszillierenden Reflexionen der Spätschriften Guardinis sind für K. der Ausgangspunkt für "Ausblicke" auf das Verhältnis von Glaube und Kultur in der von Guardini in vieler Hinsicht antizipierten Situation der Postmoderne. Auch in dieser Situation plädiert K. für die Relevanz von Guardinis Programm, "die Unbedingtheit des gläubigen Denkens mit dem unbefangenen Blick auf die Wirklichkeit der Dinge und den Reichtum der Kultur ins Verhältnis zu bringen" (15, 521, 553).

K. gelingt es vorzüglich, anhand der Leitfrage nach dem Verhältnis von Glaube und Kultur die Vielschichtigkeit von Guardinis Werk zu erschließen. Die systematische Strukturierung nach drei Phasen der Werkgeschichte mit ihren jeweiligen inhaltlichen Schwerpunkten erweist sich als wertvolles heuristisches Werkzeug, ist allerdings mit der in der Arbeit selbst gewählten Strukturierung in sieben Kapiteln nicht immer kongruent. Gerade bei dieser Fragestellung hätte es die Arbeit sehr bereichert, wenn die Rezeptionsgeschichte der Werke Guardinis mit in die Untersuchung einbezogen worden wäre und mit der an der Entstehungsgeschichte der Schriften erarbeiteten Deutung der Intentionen Guardinis verglichen worden wäre. K.s Untersuchung motiviert eine weitere Nachfrage, warum Guardinis Schriften und Vorlesungstätigkeit eine so außerordentliche kulturelle Wirkung in bestimmten katholischen Milieus haben konnte, während erst die Arbeit von Ulrich Kühn (Natur und Gnade, Berlin 1961) die intensive Beschäftigung mit den Grundlagen von Guardinis theologischer Konzeption einleitete.

Aus der Perspektive evangelischer Theologie ist das eigentlich Überraschende dieser Arbeit, daß Paul Tillich, dessen theologisches Gesamtwerk in ähnlicher Weise um das Verhältnis von Glaube und Kultur kreist, mit keinem Wort erwähnt wird. Tillich bietet eine höchst aufschlußreiche Kontrastparallele zu Guardinis Denkweg, wobei bis in Einzelheiten bestehende thematische Überschneidungen (Guardinis Gegensatzdenken und die Polaritätsstrukturen bei Tillich, der programmatische Gebrauch der Begriffe Autonomie, Heteronomie und Theonomie usw.) Anlaß zu weiteren Vergleichen böte. Hier ergäbe sich auch eine Möglichkeit, Guardinis Verständnis der Katholizität der Kirche als lebendiger Ganzheit mit Tillichs Verständnis der "katholischen Substanz" zu kontrastieren, die bei Tillich allerdings immer auf die polare Beziehung zum "protestantischen Prinzip" angewiesen bleibt. Es ist für Tillich das protestantische Prinzip, das die reformatorische Unterscheidung und Beziehung von opus Dei und opus hominum bewahrt und so gegen die Identifikation des unbedingten Gottes mit irgend einem Bedingten Einspruch erhebt. Solche Kritik wäre aus Tillichs Perspektive wohl dort nötig, wo die katholische Weltanschauung, "der Blick auf das Ganze, aus der Totalität ursprünglichen, allen typischen Besonderungen gegenüber souveränen Lebens heraus" der Kirche zugesprochen wird und diese als "die ge-schichtliche Trägerin des vollen Blickes Christi auf die Welt" betrachtet wird (vgl. 160). Die von K. intendierte Pluralismusfähigkeit einer katholischen Weltanschauung entscheidet sich letztlich daran, ob sie sich selbst als Kulturgestaltung des Glaubens von Gott begründet und begrenzt weiß. Andernfalls negierte ihr Selbstverständnis die Bedingung der Möglichkeit für den von K. im Anschluß an Guardini geforderten Dialog mit der Kultur.