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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

726–727

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd

Titel/Untertitel:

Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012. 448 S. Geb. EUR 24,99. ISBN 978-3-579-08148-9.

Rezensent:

Matthias Krieg

Gerd Theißens Buch ist reich und macht reich. Es ist geschrieben für alle, die derlei Reichtum suchen und vertragen. Sie werden bereichert werden!
Auf 414 Seiten werden 235 Fragen gestellt und 235 Antworten gegeben. 21 davon sind Prolegomena, 214 Durchführung nach trinitarischem Muster. In neun Kapiteln werden 74 Fragen über Gott behandelt, in sechs Kapiteln 47 über Jesus, in sieben Kapiteln 93 über den Geist. Das kann nur den ermüden, der meint, sich durch Prosa kämpfen zu müssen. Das aber widerspräche der Absicht, die auch eingehalten ist: Jedes Stück ist in sich rund und verständlich. Wie man mit dem Glauben nicht fertig wird, so auch nicht mit diesen Glaubenssätzen. Sie lassen sich hin und wieder lesen, überspringen und wiederholen. Einer pro Tag reicht. Wie in einem guten Gedichtband oder in einer guten Architektur ist das Entde-cken neuer Aspekte im bereits Gelesenen oder neuer Perspektiven im bereits Gesehenen jederzeit möglich.
Drei Register auf 15 Seiten Anhang unterstützen das Zurück-kommen und Weitersuchen: Wertvoll dabei ist das Sachregister mit 76 Schlagwörtern, eher eine überflüssige Pflichtübung stellt das Personenregister dar, wichtig hingegen ist das Bibelstellenregister, das im Unterschied zur erstaunlichen Gewichtung der drei Glaubensartikel dann doch den emeritierten Neutestamentler verrät, denn dreieinhalb Spalten Alten Testaments stehen neun Spalten Neues Testament gegenüber.
T. deklariert seinen Anspruch in einem wohltuend straffen Vorwort: Wie in ästhetischer Erkenntnis, wobei er an die Gattungen der Lyrik denkt, oder in ethischer Erkenntnis, womit wohl die Gattungen der Weisheit gemeint sind, solle der Glaube kontemplativ bedacht werden. Die Antworten verstehen sich denn auch als Me­ditationen. Sie sind als Sinnzeilen geschrieben, nähern sich durch fortlaufendes enjambement allerdings doch wieder einer wohlkomponierten und gedanklich durchtrainierten Prosa. Philosophische poèmes en prose sind sie, Gedankenlyrik für Nachdenk­liche. Diese Idee, gedankliche Struktur durch Zeilensetzung sichtbar zu ma­chen, knüpft an psalmodierende Texturen an, rekurriert auf frühkirchliche Bekenntnisse und nutzt das Organon klas­-sischer Rhetorik. Es hält Gedankenspiele spielerisch und macht Schweres leicht.
Die Idee ist genial! Und kongenial dazu, denn nun wird über Gott meditiert und gesprochen, wie Gott selbst, wenn er in der Bibel spricht und sich offenbart, redet: nämlich poetisch, in gehobener und gebundener Sprache. Dass Gedicht und Gebet derselben literarischen Geste entstammen, wird dem Auge sichtbar und beim Lesen spürbar. Leider wird etwas, das in keiner lyrischen oder weisheitlichen Gattung vorkommt, hier immer wieder zur professoralen Störung: Der Universitätslehrer kann auf den Apparat der Anmerkungen nicht verzichten. Schade.
Wer in Heidelberg lebt und lehrt, wer geographisch im Übergangsbereich von lutherischer und reformierter Obödienz zuhause ist, wer 2012 ein Buch veröffentlicht, das 2013 seine höchsten Verkaufszahlen schreiben soll, der kommt am Heidelberger Katechismus von 1563 nicht vorbei. Die Rehabilitierung dieses Werks und dieser Gattung, die im 19. Jh. als Zuchtmittel schwarzer Pädagogik in Verruf geraten war, ist eine gute Sache. Wir leben nicht mehr in den Tagen des Grünen Heinrich, dessen eine peinliche Erinnerung an die frühe Schulzeit die Züchtigungen des Lehrers war, die andere quasi kongenial der Heidelberger: Ein kleines Buch voll hölzerner, blutloser Fragen und Antworten, losgerissen aus dem Leben der biblischen Schriften, nur geeignet, den dürren Verstand bejahrter und verstockter Menschen zu beschäftigen. Nein, wie Gottfried Keller diesen Katechismus erlebt hat, war er 1563 nicht gedacht gewesen und kann er 2013 nicht gedacht sein. Doch wie geht es der Gattung bei T.?
Wie schon beim Heidelberger sind auch hier die Fragen wegen der Antworten, die er geben will, gestellt. Der Habitus des Lehrenden stellt die Fragen. Eher selten lesen sie sich so, wie Menschen heute sie stellen würden, sondern in der Regel so, dass sie die Antwort vorbereiten. Wie erschließt sich das Geheimnis des Seins durch Freiheit? So fragt niemand, außer einer, der darauf die Antwort weiß. Die Fragen sind antwortförmig. Das darf selbstverständlich so sein, macht aber nur eine kleine Menge potentiell Lesender mental zu Beteiligten. 450 Jahre nach dem Heidelberger Katechismus und bald einmal 500 Jahre nach der Reformation ist die erwachsenenbildnerische Beteiligung des erwachsen gewordenen Subjekts angezeigt.
Das gilt auch für die Antworten: In Antwort 27 und auf S. 55 begegnet zum ersten Mal ein Ich, um allerdings sogleich wieder zur Allgemeinaussage objektiviert zu werden: Ich muss mein Leben än­dern! / Dann ist es so, / als höre ein ICH / ein ewiges / DU. T. ergänzt das allgemeine Es und Man gerne um das Wir, das einvernehmlich oder vereinnehmend gelesen werden kann. Mich erinnert es an das Wir einer Vorlesung, einer durch Wissensvorsprung geführten Lerngemeinschaft. Eigentliche Ich-Aussagen aber gibt es nicht. Warum nicht? Der wissende und erfahrene Hochschullehrer könnte es sich längst leisten, die wissenschaftliche Geste der objektiven Aussage und der Deskription, die hehre Konstruktion der fides quae und des Heiligen Kosmos zu verlassen und als glaubendes und fragendes, zweifelndes und überraschtes Subjekt zu schreiben. Dann würden sich Autor und Leser als Subjekte begegnen.
Nein, hölzern, blutlos und losgerissen ist nichts in diesem Katechismus. Aber es ist auch nichts auf Ich und Du. Angesichts der Intimität, die dem persönlichen Glauben ebenso eignet wie der persönlichen Liebe, hätte dem Katechismus etwas mehr subjektive Ich-Aussage und etwas weniger objektive Es-Aussage gut getan.
Eine weitere Anforderung T.s an sich selbst lautet, bei der Frage nach Gott den Ausgangspunkt bei menschlichen Erfahrungen zu nehmen. Ist diese Anforderung eingehalten? Ist sie überhaupt einzuhalten? Ich will im Blick auf die mutmaßliche Leserschaft eine Antwort versuchen. Wer verträgt ein solches Buch?
Dieser Katechismus wird für die philosophisch Gestimmten unter den Bildungsnahen ein spannender Schmöker sein. Es wird ihnen Anregungen und Themen ohne Ende offerieren. Akademische Lesezirkel werden sich das Buch als Jahreslektüre vornehmen, mit oder ohne Leitung durch eine Theologin. Für die Lebenswelt der Intellektuellen, nahe oder fern der Kirche, sind hier Erfahrungen angesprochen, weil Erfahrung für sie bereits Reflexion von Erleben ist. Sie bilden das Marktsegment dieser Neuerscheinung.
Wer diese Vorstellung von Erfahrung nicht teilt, weil er nicht die Bürgerlichkeit dieser Bildung teilt oder tiefer in der Alltäglichkeit und ihren Brüchen steckt oder die Expressivität des Trivialen ihn eher anspricht, wer also Erfahrung eher als Dschungel versteht, der kaum zu bändigen ist, denn als Garten, der planvoll gestaltet werden kann, der wird dieses Buch, vermute ich, abgehoben finden. Theologinnen und Theologen freilich ist es als Pflichtlektüre zu empfehlen: das glänzend geschriebene Credo eines engagierten Neutestamentlers, das Kompendium theologischer Fragestellungen für den interdisziplinären Dialog, die Fundgrube für Themenabende und Predigtideen. Als Theologe und Intellektueller, auch als Verantwortlicher für kirchliche Bildungsarbeit danke ich T. für seine Arbeit.