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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

721–722

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

O’Leary, Joseph S.

Titel/Untertitel:

Christianisme et philosophie chez Origène.

Verlag:

Paris: Les Éditions du Cerf 2011. 248 S. = Philosophie & Théologie. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-2-204-09633-1.

Rezensent:

Franz Xaver Risch

Seit dem zweiten Vatikanischen Konzil, bemerkte Charles Kannengiesser in einem Vortrag am 3.12.1986, habe sich die Kirche so sehr verändert, dass man eine neue theologische Begründung für sie suchen müsse. Man befinde sich in einem Niemandsland. Eine ähnliche postvatikanische Motivation kennzeichnet auch noch das Buch von Joseph S. O’Leary. Inmitten des modernen theologischen Experimentierens (103) findet er in Origenes’ Arbeit ergiebiges Material für die Frage, wie eine Interaktion von Philosophie und biblischem Gottesglauben erfolgen kann, und demonstriert damit das gegenwärtige Forschungsinteresse an Origenes in einem aktuellen Punkt, der den üblichen historischen Untersuchungen oftmals nur latent zugrunde liegt, nämlich der Inkulturation des biblischen Glaubens. In einer lecture déconstructrice (85 und öfter) zieht er sozusagen die Schlussfolgerungen aus der ideengeschichtlichen und hermeneutischen Forschung und geht über historische Analysen weit hinaus, um die Bedeutung des Origenes in einer neuen Problemstellung zu erfassen (51: formuler une nouvelle problématique concernant la signification d’Origène).
O’L. sucht in Origenes nicht ein simples Muster, denn gerade das, was einer modernen Inkulturation wie ein unbeweglicher Block entgegensteht, kann er in ihm entdecken: Er hält ihn für einen Systematiker, weiß aber, dass das nicht unproblematisch ist (62–66). Origenes teilt in seinem sog. systematischen Denken zwar das Ideal Plotins (100), geht aber nicht von philosophischen Fragestellungen aus, sondern von innerkirchlichen Diskrepanzen (97), wie auch in den Spekulationen der Bibeltext die Grundlage bleibt (137.169). Er schuf seine Theorie in einer Epoche, als die regula fidei noch nicht durch Dogmatismus beherrscht war. Durch die Einflechtung philosophischer Metaphysik in den biblischen Glauben kann die Eigenständigkeit der Kulturen verloren gehen. Sie will O’L. bewahrt wissen, ohne dass es zu einer Trennung kommt, um einen Beitrag zur plurikulturellen Aufgabe der Theologie zu leisten, denn der vordogmatische Origenes ist unserer postdogmatischen Situation nahe (vgl. 241).
Dem Pluralismus haftet eine gewisse Unentschiedenheit an. So ist es nur natürlich, dass die Spannungen, die durch Dekonstruktion aufgedeckt werden, zugleich in ihr erhalten bleiben; sie erlaubt keinen hermeneutisch gesteuerten Ausgleich. Einerseits spricht sich O’L. dafür aus, dass Origenes die Synthese von Bibel und Philosophie nicht gelungen sei (58), andererseits sind in der Identifikation von personalem Logos und universaler Rationalität Bibel und Metaphysik unvermeidlich synthetisiert (vgl. 124–125). Man kann Origenes Vorwürfe machen, etwa dass er sich in der johanneischen Terminologie getäuscht hat (138: Il est peut-être devenue la proie d’une affinité trompeuse; vgl. 166), dass er angesichts für rätselhaft befundener Bibelstellen nicht an der Angemessenheit seiner Methode gezweifelt hat (138) und einen von ihm nicht durchschauten hermeneutischen Mangel genutzt hat, um eine Theorie zu bilden (vgl. 166 f.). Wenn er anderen ein oberflächliches Bibelverständnis vorwirft, bemerkt er die eigene Vermengung von theoretischer Doktrin und phänomenologischem Bibeltext nicht (167). So wird manche Selbstgewissheit des Origenes zum Beweis mangelnder Selbstkontrolle. Zugleich ist er ein unschuldiger Intellektueller (102) mit unterschiedlichen In­tentionen, zum Beispiel in der Geschichtsvorstellung: Apokatastasis in De principiis, fortschreitende Offenbarung im Johanneskommentar (182). Aber wenn Origenes in den Logos-Spekulationen auf der Gleichwertigkeit von kosmischem Prinzip und Person beharrt (124), würde ich darin nicht eine weitere logische Spannung sehen, sondern eine Erkenntnis von explosiver Macht, die wahrscheinlich erst durch Fichtes Wissenschaftslehre an moderne Intelligenz mitteilbar wird.
In vielen Motiven und Aspekten durchleuchtet O’L. scharfsinnig den Mann, den Bezauberung durch Platonismus, dem er zugleich mit der Bibel widersteht (208), und eigenständiges spekulatives Interesse zu einem überraschenden Bibelleser formten. Glücklicherweise sieht er in ihm nicht einen Philosophen oder gar einen Universalgelehrten. Er urteilt umsichtig, aber auch deutlich, zum Beispiel, wenn er dem gern geübten Lob der Freiheitsidee beschwichtigend gegenübertritt (79–85.98). Origenes führt weder einen philosophischen Dialog mit Philosophen (45) – die Auseinandersetzung mit Kelsos erfolgt unter historischer und theologischer Perspektive (48 f.) – noch hat er die wenigen von ihm angewandten Termini und Vorstellungen selbst entwickelt. Origenes ist für O’L. ein vir ecclesiasticus (21), der die intellektuelle und spirituelle Kraft stets aus der biblischen Verwurzelung zieht (43). Selten, wie beim Begriff der Bedürfnislosigkeit Gottes, ist die Bibel nachrangig (157). Die Adaption der philosophischen Kultur erfolgt über die Exegese. Trotzdem hat die Art zu kommentieren keine Entsprechung bei den paganen Philosophen. So wurde Origenes zu einem Autor, der sich nicht von der Ratio befreien kann und nicht von der Bibel befreien will (60). Theologie wird durch Irrationalität nicht weniger behindert als durch Asebie (117): Nur der Heilige denkt rational (134). Diesen bemerkenswerten Standpunkt kann O’L. nicht teilen, wenn er die synthetischen Anstrengungen des Origenes offenbar nicht gutheißen will (192) und mit Heidegger die Metaphysik überwinden möchte (243).
Das Buch besteht aus vier Teilen. Den Hauptteil machen drei Untersuchungen aus, je zu Passagen aus De principiis, dem Johan­-nes­kommentar und Contra Celsum, also aus systematischer, exege­tischer und apologetischer Arbeit, an der eine Entwicklung von der rein theologischen Spekulation über die Formen der Ankunft des Logos zur konkreten jüdischen und christlichen Geschichte erkennbar ist (242–243). Vorbereitet werden sie mit Perspectives pour une lecture critique, einer gut begründeten hermeneutischen Positionierung und zugleich einem facettenreichen Porträt der Intellektualität des Origenes. Was daran in einzelnen Aspekten etwas negativ ausfällt, zum Beispiel dass sie oft platt und steif sei (53) und er selbst die spleenigsten Allegoresen (farfelues) mit dem größten Ernst vortrage (33), wird spätestens in der Conclusion (241–245) kompensiert: Origenes ist ein Respekt heischender, innovativer Denker.
Unbestreitbarer Vorzug des Buches ist es, den Begründer der kirchlichen Wissenschaft realistisch zu sehen. Man sollte es aber auf keinen Fall für ein vollständiges Origenes-Porträt halten. Den Kritikern, die O’L. sicher finden wird, kann er entgegenhalten: Notre auteur est plus examiné que lu (52). Lesenswert ist O’L. selbst, wenngleich der Nutzen einer Dekonstruktion für die moderne Theologie nicht konkret erwiesen wird; es genügt nicht, ihr den Mut des Origenes vorzuhalten (104: largeur et liberté de la vue). Das Buch sollte unbedingt einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht, dann aber mit griechischem Zeichensatz und Registern versehen werden.