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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

714–715

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Espinet, David, u. Tobias Keiling[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

HeideggersUr­sprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2011. 300 S. m. Abb. = Heidegger Forum, 5. Kart. EUR 24,80. ISBN 978-3-465-04132-0.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Zu den wegweisenden Beiträgen philosophischer Ästhetik in den ersten beiden Dritteln des 20. Jh.s gehören die entsprechenden Entwürfe von Martin Heidegger, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Sie fanden und finden auch in der Theologie ein Echo. Während Walter Benjamin den Blick auf die Gegenwart lenkt, in dem die technische Reproduktion insbesondere von Bildern – in der Fotografie und im Film – die religionsaffine Aura des Kunstwerks seines Erachtens erfreulicherweise abschafft, ist Theodor W. Adorno gegenüber den Möglichkeiten der medialen Gegenwart skeptischer. Er versteht unter Kunst ein nicht positiv verwertbares Bewusstsein von Negativität, das auf die Entfremdung der Gegenwart und die uto­-pischen Ressourcen der Zukunft verweist. Noch einmal anders positioniert sich Martin Heidegger, der in dieser Weise weder Gegenwart noch Zukunft, weder mediale Bedingtheiten noch kultkritische Ne­gativität in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit rückt. Martin Heidegger geht es vielmehr um den »Ursprung des Kunstwerks« (1935/36), wie sein Beitrag programmatisch überschrieben ist, und zwar um einen Ursprung, der durchaus kultisch aufgeladen ist – und den zu verabschieden, keineswegs einfach begrüßenswert ist. In der Kunst, so Martin Heidegger, erschließt sich der Mensch in seiner Existenz die Unverborgenheit der Phänomene und die Wahrheit des Seins. Im Kunstwerk kommt es zu einem »Ins-Werk-Setzen der Wahrheit«, und den Vorrang unter diesen Kunstwerken hat die Dichtung. Diese Werkästhetik unterscheidet sich nicht nur von einer kantischen Rezeptionsästhetik, sondern leitet auch dazu an, die Erschließung von Faktizität sprachlich und die Phänomenologie insofern hermeneutisch zu verstehen.
Dies ist ein Hinweis darauf, dass Martin Heideggers Kunst-werk­aufsatz in den Zusammenhang der »Kehre« seines Verfassers gehört. Angesichts dieser Doppelstellung als eines ästhetischen und werkimmanenten Schlüsseltextes verwundert es, dass dieser Kunstwerkaufsatz, ein in seiner Verdichtung und zugleich Offenheit interdisziplinär wirkmächtiger wie notorisch erläuterungsbedürftiger Text, bisher noch keinen kooperativen Kommentar ge­funden hat, wie es inzwischen bei einer Vielzahl philosophischer Texte der Fall ist. Gleichwohl liegt – neben Einzelstudien, die sich in der Regel speziellen Fragen zuwenden – mit Hans-Georg Gadamers Einleitung in die Reclam-Ausgabe des Kunstwerkaufsatzes (1960) und Friedrich Wilhelm Hermanns »Heideggers Philosophie der Kunst« (1980) eine bündige und detaillierte Auslegung vor. Der Charme des nun erschienenen Kommentars besteht darin, dass eine interdisziplinäre und hauptsächlich akademisch in Freiburg tätige Gruppe von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern versucht, in der Vielfalt ihrer Perspektiven die Einheit des Kunstwerkaufsatzes plausibel werden zu lassen: Die Einzelbeiträge des Kommentars sind offenkundig aufeinander abgestimmt und miteinander vernetzt. Es handelt sich also um den ersten und tatsächlich kooperativen Kommentar zu Martin Heideggers Kunstwerkaufsatz.
Der Kommentar gliedert sich in vier Teile. Im ersten und längs­ten Teil legen Francisco de Lara, Diana Aurenque, David Espinet, Tobias Keiling, Manuel Schölles, Matthias Flatscher und Antonio Cimino sukzessiv den Text von Martin Heideggers Kunstwerkaufsatz anhand seiner wichtigsten Themen aus. Hier rücken insbesondere der phänomenologische Wahrheitsbegriff und die Zentralstellung der Dichtung in den Vordergrund. Im zweiten Teil gehen Michail Pantoulias, Sebastian Schwenzfeuer, Nikola Mirkovi und Antonia Egel den antiken, idealistischen, dichterischen und literarischen Quellen des Kunstwerkaufsatzes nach. Konkret bedeutet dies, dass der Bezug auf und die Affinitäten zu Aristoteles, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich Hölderlin und Rainer Maria Rilke in unterschiedlicher Art und Plausibilität deutlich werden. Die Bedeutung des Kunstwerkaufsatzes für Martin Heideggers Denken steht im dritten Teil in den Beiträgen von Nikola Mirkovi, Toni Hildebrandt, Fredrik Westerlund und Jerome Veith im Mittelpunkt. Dabei wird letztlich klar, dass der Kunstwerkaufsatz schon einen starken Zug zur späteren Sprachphilosophie Martin Heideggers aufweist, welche die Sprache gleichsam zu einem Subjekt macht, auf das die einzelnen Menschen angewiesen sind. Im vierten und letzten Teil wenden sich Adrián Navigante, Emmanuel Alloa und Morten Thaning der Wirkung des Kunstwerkaufsatzes zu. Nicht nur die Kritik Theodor W. Adornos und die Rezeption im französischsprachigen Raum, sondern auch die kritische wie produktive Aufnahme in der gegenwärtigen Hermeneutik werden ausgelotet.
Überblickt man den Kommentar als Ganzen, dann sind es meines Erachtens zwei Überzeugungen, die eine formierende Funktion haben. Zum einen sind diagnostisch die Beiträge in ihrer Mehrzahl der Ansicht, dass Martin Heideggers Ästhetik eine dezidiert moderne und veritable Position darstellt. Zum anderen wird sachlich in einer Vielzahl von Beiträgen deutlich, dass Martin Heideggers Kunstwerkaufsatz auf eine Werkästhetik hinausläuft, die im Rahmen einer strittigen Wahrheitstheorie den sprachlichen – genauer gesagt: den dichterischen – Zugang zur Welt gegenüber anderen Symbolisierungen bevorzugt. Ob man diesen beiden Überzeugungen – auch in dieser Kombination – so zustimmen sollte, bedarf angesichts der zeitgenössisch alternativen, medial sen­siblen und allgemein an einer rationalen Rechenschaft zumindest orientierten Entwürfe von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno weiterer Diskussion. Keiner Diskussion bedarf es, um festzustellen, dass dieser Kommentar in Zukunft wesentlich sein wird, wenn es um Martin Heideggers Kunstwerkaufsatz gehen sollte. Man wünscht dem Kommentar einen schnellen Eingang in die Dis­kussion.