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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

712–714

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U., u. Andreas Hunziker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Seinkönnen. Der Mensch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XXI, 345 S. = Religion in Philosophy and Theology, 54. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-150634-5.

Rezensent:

Magnus Striet

Der auf eine durch das Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie in Zürich veranstaltete interdisziplinäre Tagungsreihe in den Jahren 2007 bis Ende 2008 zurückgehende Band fragt angesichts des »kulturellen Paradigmenwechsels zum evolutionären Denken«, das seit dem 19. Jh. um sich greife, ob dies nicht auch zu einem grundsätzlich neuen Nachdenken über den Menschen führen müsse. Ich kann nur beipflichten. Seit dieser Zeit ist der Mensch vor allem eines, nämlich – um es mit Friedrich Nietzsche zu sagen – das »nicht festgestellte Tier«. Völlig zu Recht registrieren die Herausgeber, dass angesichts dieses Wechsels »weder orthodoxe Verweigerung noch modernistisches Aggiornamento« weiterhelfe. Die entscheidende Frage sei nicht, wie »das alte Verständnis unter den neuen Bedingungen aufrecht erhalten werden« könne, sondern was »aus christlicher Sicht unter den gegenwärtigen Bedingungen theologisch vom Menschen zu sagen« sei (XI). Gegen eine rein deskriptiv-positivistische Anthropologie gewendet, wird an die bis heute gül­-tige Einsicht philosophischer Anthropologie zumal des 19. Jh.s er­innert, dass der Mensch ein Selbst-Verhältnis ist, das nicht nur einfach existiert, sondern das sich selbst bestimmen und somit in einen Möglichkeitshorizont hinein entwerfen kann, aber eben auch muss. Der Mensch ist eben nie nur Natur, sondern immer bereits Kultur, präziser: Das, was vom Menschen gedacht wird, verdankt sich kulturellen und damit geschichtlich kontingenten Zuschreibungen. Ist dies die leitende Hermeneutik philosophischer Reflexion auf den Menschen, so unterscheidet sich die theologische in einem bestimmten Punkt: »Nach theologischem Urteil ist Wirkliches nicht nur das, was es faktisch ist, aber auch nicht nur das, was es angesichts dessen, was es faktisch ist, möglicherweise noch hätte sein können, sondern vor allem das, was es als faktisch Wirkliches mit seinem Horizont von Möglichkeiten coram deo und damit nach Einsicht des Glaubens in seinem gottverdankten Existenz- oder Lebensspielraum in Wahrheit ist: Schöpfung Gottes.« (XIX f.)
Die im Band versammelten Beiträge (insgesamt 18) gliedern sich in zwei Sektionen. Die erste umfasst 11 Beiträge in philosophischen Perspektiven, die zweite 7 Beiträge in theologischen Perspektiven. Diese hier im Einzelnen gebührend würdigen zu können ist nicht möglich; ich kann nur selektiv und pointierend verfahren. Aus der philosophischen Sektion sei hervorgehoben, wie die »Fragwürdigkeit des Menschen« (Emil Angehrn) im Verlauf der philosophischen Selbstreflexion des Menschen auf sich selbst immer stärker akzentuiert wird. Grundsätzlich hängt dies mit der Faszination, aber auch der Not zusammen, sich selbst feststellen und damit immer auch einen Begriff von sich selbst geben zu müssen. Sich als ein ins Dasein Geworfener notwendig zu sich selbst verhalten zu müssen, konfrontiert den Menschen unausweichlich mit der Erfahrung von Negativität (Endlichkeit, Schuld etc.). Sich in Sprache begrifflich verständigen und orientieren zu müssen, verlangt aber zudem, wie Werner Stegmaier im Anschluss an Friedrich Nietzsche herausstellt, eine »Weltabkürzungskunst« (69) zu betreiben. Solche Verständigungen sind immer ausschließend. Obgleich sie aber un­-verzichtbar sind und das Menschliche erst möglich machen, ist das Bewusstsein ihrer geschichtlichen Kontingenz einzuschärfen, was auch bedeutet, sie als veränderbar zu erlernen. Dies gilt dann ebenfalls für zentrale Begriffe wie den des Menschenbildes.
In seiner Funktion unverzichtbar, zeigt eine historische Rekonstruktion, wie der Begriff entsteht und historischer Variabilität unterliegt. Jakob Tanner weist darauf hin, dass das Unternehmen einer historischen Anthropologie schon deshalb unverzichtbar ist, um das immer bereits wirksame alter ego des Menschen überhaupt in den Blick bekommen zu können. Wichtig ist aber, dass die his­-torische Anthropologie sich hermeneutisch erweitert. Ausgangspunkt einer »anthropozentrischen Kurzschlüssen« entgegenwirkenden Beschreibung des Menschen habe die »Einsicht« zu sein, »dass an der Konstitution von Erfahrungsräumen nicht nur die in Symbolsystemen handelnden Menschen, sondern auch die Materialität, die materiale Eigenlogik der Dinge beteiligt« (156) seien.
Die theologische Sektion wird eröffnet mit zwei biblischen Beiträgen (Thomas Krüger, Jean Zumstein). Auffällig ist hier, wie die Rede von der Sünde als hermeneutisch-orientierende Kategorie in der Anthropologie Gewicht bekommt. So arbeitet Zumstein als eine der Grundaussagen neutestamentlicher Theologien heraus, dass das faktisch falsche Wissen über Gott katastrophale Alltagskonsequenzen zeitigt (219). Aber auch wenn programmatisch an einer »christologischen Entzifferung der menschlichen Existenz« gearbeitet werde, so werde kein »geschlossenes Bild« ausgearbeitet: »Die neutestamentliche Anthropologie steht unter dem Zeichen des Fragmentarischen und des Exemplarischen.« (231) Reiner An­selm weist darauf hin, dass unter den neuen Bedingungen der Reproduktionsmöglichkeiten von Menschen und von Nanotechnologie das ethische Feld deutlich unsicherer geworden ist. Gerade deshalb müssten diese »immer im Kontext einer Ganzheitsvorstellung« interpretiert werden. Eine solche Ganzheitsvorstellung ist für Anselm »durch den Entwurf einer Zukunftsperspektive« zu gewinnen, »die notwendigerweise mit Unsicherheit und Risiken behaftet« sei, »zu der es aber keine Alternative« gebe (284). Daraus folgert er, dass Ethik immer an eine Geschichtsphilosophie gebunden ge­wesen sei, die wohl »nur eine Geschichtstheologie« sein könne (284). Allerdings wird letzterer Schritt wohl kaum ein philosophisch zwangsläufiger sein können. Denn zur – um den Begriff der Kontingenz hier zu vermeiden – Erfahrung der Entsicherung aus metaphysischen Gewissheiten in den letzten Jahrhunderten ge­hört es auch, dass die Vernunft im Denken des Absoluten ihre eigene Abgründigkeit und Haltlosigkeit erfuhr, eine Erfahrung, die sich nur in der dann notwendig relativ bleibenden Gewissheit des Glaubens beruhigen kann.
Eine offene, duch Gott und dessen Treue charakterisierte Zu­kunft zu denken, könnte in der Tat das Projekt einer künftigen Theologie werden. Der vorgelegte Band bietet hierfür eine ausgezeichnete Gelegenheit. Entschieden anzuknüpfen wäre meines Er­achtens konfessionsübergreifend an den späten Dietrich Bonhoeffer. Dessen Überzeugung, in der Welt ohne Gott vor Gott leben zu müssen, aber auch zu dürfen, bietet ein enormes Potential, Kontingenz zu denken und als Erfahrung von Ungewissheit theologisch zu integrieren.