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Ausgabe:

April/1996

Spalte:

392–394

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Claus, Ina

Titel/Untertitel:

Intensität und Kontrast. Eine Auseinandersetzung mit der Gottesvorstellung ausgewählter Entwürfe der Prozeßtheologie.

Verlag:

Münster-Hamburg: LIT Verlag 1994. XIV, 283 S. 8o = Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 4. Kart. DM 58,80. ISBN 3-8258-2022-X.

Rezensent:

Ernstpeter Maurer

Der Untersuchung liegt die These zugrunde, prozeßtheologische Rede von Gott stelle eine Übersetzungsleistung in hoffnungstheologischer Perspektive dar. Biblische Traditionen und Symbole sollen das zeitgenössische Bewußtsein durchdringen, wobei die Grundgedanken der "Prozeßphilosophie" von Alfred N. Whitehead als Katalysator wirksam werden. Die Prozeßphilosophie betont den offenen Charakter der werdenden Wirklichkeit und die Vielschichtigkeit dieser Wirklichkeit, deren Intensität einer Integration von Kontrasten entspringt. Prozeßtheologie entwirft auf dieser Grundlage die Vision einer Welt, in der die Geschöpfe von Gott dazu verlockt werden, einander zu bereichern. Den Ertrag dieser Vision sieht Ina Claus in der Ermutigung zum Umdenken "inmitten der Katastrophe einer auf ihren Abgrund zurennenden Welt" (214).

Eine kraftvolle Vision müßte sich von bloßem Wunschdenken unterscheiden, und dazu gehört gedankliche Prägnanz. Daran fehlt es der Untersuchung ­ was teils an den dargestellten theologischen Entwürfen und teils daran liegt, daß C. zwar die Vagheit prozeßtheologischen Denkens aufweist, aber nicht zur konstruktiven Kritik vorstößt. Die übersichtliche Darstellung läßt immer wieder Ansätze zu präziseren Formulierungen erkennen, die nicht weiter verfolgt werden.

Der fruchtbare Grundgedanke der Prozeßphilosophie liegt im irreduziblen Ereignischarakter der Wirklichkeit. "Der Ereignisbegriff löst den Substanzbegriff ab" (43), wobei jedes Ereignis im Moment seiner Selbstvollendung schon wieder vergeht, von anderen Ereignissen integriert wird, wie es selbst vorige Ereignisse gebündelt hat. Das gilt auch für das erkennende Subjekt, so daß die erkenntnistheoretische Unterscheidung von Sein und Bewußtsein in einen organischen Prozeß integriert wird. Erkenntnis unterscheidet sich nicht grundsätzlich von anderer Wirklichkeit, sofern sie als Ereignis, als con-crescere der erfaßten Daten beschrieben wird. Wohl aber unterscheidet White-head zwischen physischem und begrifflichem Erfassen, zwischen aktuellen Ereignissen und zeitlosen Objekten. Diese "eternal objects" sind zwar unveränderlich und strukturieren die prozeßhafte Wirklichkeit, bleiben aber "reine Potentiale" (45). Paradigmen für die intensive Wirklichkeit sind vielmehr die komplexen Organismen. Wie sich die Polarität von physischem und begrifflichem Erfassen auf diese Komplexität auswirkt, wäre eine interessante Frage gewesen. Es bleibt bei der Andeutung, Whitehead ersetze die (!) Substanzmetaphysik durch eine Perspektivitätsmetaphysik. In der Tat ist jedes Ereignis als Subjekt zu denken und erfaßt mithin die Wirklichkeit aus seiner spezifischen Sicht. So leuchtet es ein, daß eine angemessene Beschreibung von Wirklichkeit vielfältige und womöglich gerade widerstreitende Perspektiven integrieren kann.

Der Gottesgedanke läßt sich nun zwanglos als umfassende Integration dieser vielschichtigen Wirklichkeit einführen. Hier nimmt die Unterscheidung zwischen zeitlosen Objekten und aktuellen Ereignissen eine wichtige Wendung: Gottes vorgeordnete Natur faßt den Reichtum aller nur denkbaren Potentialitäten zusammen, und zwar als Begriff, der sogleich die prozeßhafte Wirklichkeit in Gang setzt ­ die ultimative causa finalis (55). Gottes Folgenatur ist die Wirklichkeit Gottes, die im Prozeß der Schöpfung allmählich immer komplexere Züge gewinnt und dabei die Wirklichkeit insgesamt integriert. "Sowie der Wirklichkeitsprozeß die Einheit Gottes in seinen beiden Naturen konstituiert, so ist umgekehrt der Vervollständigungsprozeß Gottes die Konstitution der Einheit der Welt" (55). Demnach müssen zeitlose Gegenstände und aktuelle Ereignisse ineinandergreifen: Die aktuellen Ereignisse, in denen Gott sich verwirklicht, bringen die Möglichkeiten hervor, die im Weltprozeß realisiert werden und die Welt als gegliederte Mannigfaltigkeit ordnen. Diese Struktur müßte entfaltet werden ­ vor allem im Hinblick auf die Unterscheidung in der Durchdringung von Gott und Welt. Nur dann läßt sich eine kriterienlose Allintegration unterscheiden von der Folgenatur Gottes, die ein Gericht über die Ereignisse vollzieht. Andernfalls wird der Gottesbegriff zum Etikett für die postulierte, aber nicht mehr bestimmbare Einheit der prozeßhaften Wirklichkeit. Wie kann das menschliche Bewußtsein von einem solchen Gott zum Umdenken verlockt werden?

Den prozeßtheologischen Entwürfen fehlt es freilich hier an Präzision. Gott ist nach Charles Hartshorne unübertrefflich, was eine Bereicherung Gottes durch die göttlich inspirierte menschliche Freiheit keineswegs ausschließt. Nun ist dieser Gedanke keine Entdeckung prozeßtheologischen Denkens. Worin der spezifische Beitrag der Prozeßtheologie liegt, bleibt unklar. Sollte deren theologisches Fündlein darin liegen, daß Gott nicht im voraus weiß, wie er reagieren wird, so setzt das jedenfalls ein naiv lineares Bild der göttlichen Providenz voraus. Überdies verrät sich hier eine metaphysische Schwäche der Überlegungen von C.: ein zu enger Begriff von Zeit überhaupt, die auf die Abfolge von Ereignissen reduziert wird. Warum kann nicht im Rahmen einer "Perspektivitätsmetaphysik" die menschliche Freiheit mit Gottes ewigem Ratschluß konvergieren, der jene Freiheit erschafft, erhält und fruchtbar provoziert? Und kann sich nicht gerade ein allwissender Gott in hervorragend überzeugender Weise in die Weltprozesse verwickeln?

Hier rächt sich die Unschärfe bei der Bestimmung der Relation von aktuellen Ereignissen und zeitlosen Objekten. Eine Entfaltung der angedeuteten "Perspektivitätsmetaphysik" hätte über schroffe Alternativen hinausführen können. Dazu wäre aber eine eindringliche Analyse etwa der Grundkontraste erforderlich gewesen, die Hartshorne namhaft macht (74 f.). Inwiefern durchdringen "successor" und "predecessor" einander? Und wie verhalten sich solche "ultimate contrasts" zum Prozeßcharakter der Wirklichkeit? Die Untersuchung bedenkt nirgends die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder die Simultaneität verschiedener nicht-synchronisierbarer Prozesse. Das Prozeßdenken richtet sich gegen die selbstregulierenden technologischen Systeme mit ihrer "Verkümmerung des schöpferischen Potentials" (203). Aber hier wäre eben zu unterscheiden: Schließlich sind gerade komplexe Organismen auch selbstregulierende Systeme.

Solange solche Fragen unbeantwortet bleiben, kann der sympathische Gedanke von Marjorie Suchocki nicht mehr als ein Postulat sein: Gott zielt darauf, das Bewußtsein aus der Routine herauszureißen und es auf komplexe und harmonische Lebenszusammenhänge auszurichten. Wie verhalten sich Komplexität und Harmonie zueinander? Sicherlich wäre "empathische Selbsttranszendenz" (147) dafür ein interessantes Paradigma ­ aber was gewinnen wir dabei durch den erheblichen Aufwand des Prozeßdenkens? Ähnliches gilt für die skizzenhaften Gedankengänge von Bernard Loomer, der die Vieldeutigkeit der Wirklichkeit zum Ausgangspunkt theologischen Denkens macht, aber die mehrdeutige Realität gegen theoretische Erwägungen ausspielt (163) ­ womit die Chance vertan ist, die Vieldeutigkeit zu präzisieren und von bloßer Vagheit zu unterscheiden. Dabei wird "Größe" als ästhetische Intensität umschrieben und besteht darin, Kontraste und Antinomien (!) zu ertragen. Wäre dies nicht im Rahmen einer "Perspektivitätsmetaphysik" zu bestimmen gewesen, sofern widerstreitende Perspektiven ineinander umschlagen? Dazu freilich bedarf es einer Anstrengung des Begriffs!