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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

704–706

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Heinz, Daniel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Freikirchen und Juden im »Dritten Reich«. Instrumentalisierte Heilsgeschichte, antisemitische Vorurteile und verdrängte Schuld.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2011. 343 S. = Kirche – Konfession – Religion, 54. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-89971-690-0.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die noch stets von zahlreichen Desideraten geprägte Erforschung des Verhältnisses der Freikirchen zu Juden und Judentum in der Zeit des Nationalsozialismus erfährt durch die vorliegende Veröffentlichung wertvolle Impulse. Auch kann man die vom Herausgeber eingangs gemachten Einschränkungen im Blick auf die unterschiedliche Qualität und Vorgehensweise der Einzelbeiträge nur unterstreichen – Zusammenschau und vergleichende Bewertung werden dadurch erheblich erschwert –, zeigen sich doch wiederkehrende Grundmuster breit getragener Anpassung an den NS-Staat und die völkische Ideologie. Entsprechend zahlreich sind die Bekenntnisse der Betroffenheit über das Ausmaß schuldhaften Versagens, das sich (auf den ersten Blick) so schwer mit der traditionell eher distanzierten Haltung der Freikirchen gegenüber dem Staat und den zum Selbstbild gehörenden hohen moralischen Ansprüchen vereinigen lässt.
W. E. Heinrichs sortiert in einem einleitenden Beitrag die Aspekte des in sich ambivalenten freikirchlichen Judenbildes um 1933 und seine Hintergründe. Die freikirchlichen Vorstellungen von Juden und Judentum umfassten dabei stets, wenngleich unterschiedlich akzentuiert, das Bild vom »Heilsbringer« und vom »Verderber«. Für beide Rollen ließen sich heilsgeschichtliche Referenzen finden, vor allem aber boten sie die Möglichkeit, ein nostalgisches Bild vom orthodoxen Juden in anderen Weltteilen zu entwerfen und zugleich den westlich emanzipierten Juden als Inbegriff der verabscheuten »Moderne« staatlicher Willkür zu überlassen. Der von Heinrichs gebrauchte Mentalitätsbegriff wäre (noch stets) eigens zu besprechen.
Der Beitrag von C. Bernet widmet sich dem Verhalten der kleinen Gruppe der Quäker, die sich in großer Einmütigkeit vom Rassenwahn distanzierte und sowohl auf der institutionellen wie der individuellen Ebene bedrängten und verfolgten Mitbürgern, darunter vielen Juden, karitativ zu Hilfe kam. Es erstaunt, dass sich schon 1931 die Berliner Quäker angesichts antisemitischer Ausschreitungen in der Stadt an alle christlichen Kirchen wandten, um gemeinsam »der Verrohung unseres öffentlichen Lebens« (40) zu widersprechen und Solidarität mit den Juden einzufordern. Sie fanden kein Gehör. Politischer Widerstand war allerdings aufgrund der pazifistischen Grundorientierung ausgeschlossen.
D. G. Lichdi nahm sich die Rolle der Mennoniten vor, kommt allerdings über eine knappe Skizze zum Thema nicht hinaus. Wichtig ist immerhin die Erinnerung an die u. a. auf mennonitischen Höfen eingesetzten Häftlinge des Konzentrationslagers Stutthof, die im Einzelfall verschwiegene Hilfe erfuhren. Als Glaubens- und Lebensgemeinschaft wollte man freilich die Maschinerie des Mordens nicht wahrhaben.
Der Beitrag von A. Liese zur Brüderbewegung sieht die von W. Heinrichs beobachtete strukturelle Ambivalenz im Judenbild auch bei der Brüderbewegung. Vor allem bei den »Geschlossenen Brüdern« finden sich zahlreiche antisemitische Vorurteile, gerechtfertigt u.a. durch dispensationalistische Ge­schichtskonstruktionen und die rassistisch erweiterte Theologie der sog. Schöpfungsordnungen. Der Glaube an eine »bleibende Erwählung Israels« ließ sich offenbar mühelos mit der Tatsache der Judenverfolgung verbinden, da erstere sich erst endzeitlich offenbaren werde.
M. Weyer beschreibt die Verhältnisse im deutschen Methodismus. Reichlich finden sich überkommene judenfeindliche Stereotypen, u. a. im weiteren Gefolge A. Stöckers. Vor allem wegen des heilsgeschichtlich-missionarischen Interesses an den Juden wollte man nicht als »(Rassen-)Antisemit« gelten, hatte aber wenig gegen den sozusagen »anständig-nüchternen«, politisch opportunen Antisemitismus einzuwenden.
Beispiele aus der Pfingstbewegung stellt G. Sommer vor. In den etablierten Gruppen wie dem Mühlheimer Gemeinschaftsverband wurde heftig gegen den jüdischen Talmudismus, das »Weltjudentum« und die »Geldjudenheit« polemisiert. 1938 passte der Gemeinschaftsverband seine Satzung der offiziellen Ideologie an, indem ein ausdrückliches Bekenntnis zur angeblich gottgewollten Rassegesetzgebung abgelegt und die Judenverfolgung, zur »Herausführung der Juden aus der Gemeinschaft unseres Volkes« bagatellisiert, als Akt göttlicher Vorsehung verbrämt wurde (140). Andere Gruppierungen scheinen aufgrund ihrer stärkeren Einbindung in die weltweite Pfingstbewegung zurückhaltender aufgetreten zu sein.
A. Strübind nimmt in ihrem Artikel über die deutschen Baptisten im Wesentlichen auf, was sie bereits 2007 in der Festschrift für G. Besier ausgeführt hatte. Die an sich naheliegende Einteilung des Materials nach den bekannten vier Phasen der staatlichen Judenverfolgung von 1933–1945 hätte im Dienste der Vergleichbarkeit auch in den anderen Beiträgen deutlicher als Referenzpunkt herausgearbeitet werden können.
H. Weyel zeichnet die strukturell verwandte Stellung der Freien evangelischen Gemeinden »zwischen antisemitischen Verwerfungen und heilsgeschichtlichen Perspektiven« nach.
V. Stolle beschreibt die weithin distanzierte Haltung der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche gegenüber den Juden. Dabei erwiesen sich vor allem die dem Rassenwahn angepasste Schöpfungstheologie und die zur kritiklosen Legitimation des faktischen Handelns der Obrigkeit gebrauchte Zwei-Regimente-Lehre als problematisch.
D. Meyer geht dem »Einfluss der nationalsozialistischen Judenpolitik auf die Brüdergemeine von 1933 bis 1945« nach. Dabei konstatiert er einen »krassen Gegensatz« zwischen der Haltung der Brüdergemeine in der NS-Zeit und in ihren Anfängen. Die Provinzialsynode von 1935 sprach im Unterschied zur Barmer Theologischen Erklärung ausdrücklich vom erwählten Volk Israel, doch der Judenemanzipation stand man skeptisch gegenüber. Politisch wollte man in jedem Fall strikt neutral sein. Nur noch vereinzelt fand sich die heilsgeschichtlich motivierte Hochachtung vor dem Judentum der Gegenwart im Sinne Zinzendorfs. Zunehmend trat die Sorge um den Selbsterhalt in den Vordergrund.
Den Band beschließt der Beitrag von D. Heinz zu den Siebenten-Tags-Adventisten unter dem Motto: »Missionarische Offenheit in der Welt, ideologische Anpassung in Deutschland«. Demnach herrschten »Anpassen, Wegschauen und Schweigen« vor, erklärt als taktische Verhaltensweisen in der Sorge um den Erhalt der eigenen, vom Verbot bedrohten Gemeinschaft. Allerdings sollte die Frage der Taktik in jedem Einzelfall aufs Neue gestellt und nicht zu schnell als allgemeines Erklärungsmuster eingesetzt werden. Einzelne Adventisten zeichneten sich durch mutigen Einsatz für die Rettung von Juden vor dem Holocaust aus. Als einziger Beiträger weist Heinz auf die Bedeutung der Befragung von Zeitzeugen für das Thema hin, doch dafür dürfte kaum noch Zeit sein. Auf die Auswertung der von ihm bereits durchgeführten Interviews wird man in jedem Fall gespannt sein dürfen.
In einem Anhang behandelt F. Graf-Stuhlhofer das Verhältnis von Juden und Freikirchen in Österreich. Dabei dient das historische Material in erster Linie der Veranschaulichung höherer theologischer Einsichten in das angeb­-liche »Wesen« der Freikirchen. Ob damit wenigstens dem Dialog zwischen den Freikirchen gedient ist, bleibt abzuwarten.
Insgesamt ist zu wünschen, dass der vorliegende Band die zeitgeschichtliche Freikirchenforschung weiter beflügelt und die historische Aufarbeitung des jüdisch-christlichen Verhältnisses in seiner ganzen Breite bereichert. – Ein Personenregister beschließt den Band. Leider wurde auf ein Sachregister verzichtet.