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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

702–704

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wengert, Timothy J.

Titel/Untertitel:

Defending Faith. Lutheran Responses to Andreas Osiander’s Doctrine of Justification, 1551–1559.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XIV, 468 S. = Spätmittelalter, Humanis­mus, Reformation, 65. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-151798-3.

Rezensent:

Gerhard Müller

In diesem gelehrten Werk von Timothy J. Wengert wird der Osiandrische Streit aus der Sicht seiner Gegner dargestellt. Sie alle lehnen Osianders Verständnis der Rechtfertigung ab, aber sie argumentieren sehr unterschiedlich. »Unity in diversity« nennt W. dies treffend. Die theologischen Fragen stehen bei dieser Analyse im Mittelpunkt, nicht nichttheologische Faktoren.
Es sind etwa 90 Bücher und Schriften in den Jahren 1551 bis 1559 erschienen, die mit der Rechtfertigungslehre des Königsberger Theologen nicht einverstanden sind. In einigen wird Osianders Bibelexegese kritisiert, in anderen seine Lutherinterpretation, in anderen die christolo­gischen Folgerungen, die sich aus Osianders Lehre ergeben. W., der sich durch zahlreiche Studien in diesem Themenbereich ausgewiesen hat, beherrscht seinen Stoff souverän und erklärt hervorragend. Ganz wichtig ist ihm, dass die Fronten des vorhergehenden Adiaphoristischen Streits sich hier völlig verändern. Der Landesherr Osianders, Herzog Albrecht von Preußen, hatte gehofft, dass Matthias Flacius und seine Freunde seinen Theologen unterstützen würden. Doch das war nicht der Fall. W. hat gezählt, dass von den 90 Streitschriften 32 auf nur drei Autoren zurückgehen: Joachim Mörlin, Flacius und Nikolaus Gallus, die von W. pit bulls genannt werden. Diese Front lässt sich vor allem mit dem Namen Melanchthon erweitern, aber auch die übrige Prominenz ist hier zu finden: Bugenhagen, Amsdorff und viele andere. W. folgert daraus, dass dieser Streit erheblich zur Konfessionalisierung beigetragen habe. Das ist für dieses Thema richtig. Aber Er­nüchterung folgte bald. Spätestens 1557 zerbrach diese Koalition wieder.
W. geht zunächst historisch vor: Die Anfänge der Kontroverse in Königsberg 1549 bis 1550, dann die Proteste gegen Osiander 1551 und 1552. Er fährt dann jedoch systematisch fort: Vertritt Osiander wirklich Luthers Verständnis der Rechtfertigung? Im nächsten Kapitel werden die wichtigsten Schriften von Mörlin, Flacius und Gallus gegen die »preußischen Götter« vorgestellt, bevor Johannes Brenz ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Welche Autorität besitzt Luther und wie ist er wirklich zu verstehen, wird sodann gefragt, bevor Melanchthons Anteil am Streit den Höhe- und Schlusspunkt bildet. Ein bibliographischer Essay mit launigen Überschriften (»Batten down the Hatches!« oder – hintergründig – »The Fall of Osiander« – es war der Herbst, in dem er starb – bis hin zu »The Last Hurrah: 1556–1559 [1567])« wiederholt chronologisch die Streitschriften. Die Diskussion wird mit ihren verschiedensten Wendungen spannend dargestellt. An etlichen Stellen hätten allerdings Erläuterungen gut getan. So lautet die Überschrift von Kapitel 1: »Why Some Pastors Should Not Become Professors«. Wie Recht W. hat! Denn Osiander, der wegen seiner Ablehnung des Interims Nürnberg verlassen musste, ging nach Königsberg. Das allein ist nicht ungewöhnlich: Martin Bucer ging zur gleichen Zeit aus demselben Grund nach England. Aber Herzog Albrecht hatte als Hochmeister des Deutschen Ordens in Nürnberg Predigten Osianders Anfang der 20er Jahre gehört und betrachtete ihn als seinen geist lichen Vater. Dass dieser fast ans Ende der damaligen Welt kam (Preußen gehörte nicht mehr zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation), das betrachtete er als einen Glücksfall und machte ihn 1549 zum Professor primarius seiner 1544 eröffneten Universität und betraute ihn mit einer Pfarrstelle. Osiander hatte aber keinen Doktor, ja nicht einmal einen Abschluss der Artistenfakultät. Nun waren damals alle Professoren abhängig von ihren Landesherren. Aber wer lässt sich im Leben gerne einen anderen vor seine wohlgestaltete Nase setzen? Damit war Streit programmiert. Er eskalierte bei einem Thema, bei dem Melanchthon und seine Schüler ganz andere Vorstellungen hatten als der Immigrant.
Ist es eigentlich methodisch angemessen, bei einem Streit vorwiegend die Quellen nur einer der beiden Seiten zur Grundlage der Analyse zu machen? Dadurch gewinnt das Bild zwar an Schärfe, aber auch an Einseitigkeit. Doch keine Sorge: Natürlich lässt W. auch Osiander zu Wort kommen. Dieser methodische Zugriff hat nicht nur quantitative Folgen: Sehr viel wird von Osianders Gegnern referiert, auch sehr viel darüber, wie sie ihn gedeutet haben. Aber welche Folgen hat das für die Darstellung der Streitfragen? Dies sei am Beispiel von Brenz exemplifiziert. Die Überschrift eines Kapitels lautet: »Johannes Brenz and Philip Melanchthon against Osiander: Differentiated Consensus in the Sixteenth Century?« Daraus muss man folgern, das Brenz sich wie Melanchthon gegen Osiander gewandt hat. Er und die schwäbischen Theologen haben sich zwar geäußert, aber ihnen lag daran, zu Besonnenheit zu mahnen, weil es nur einen Streit um Worte gebe. Brenz bat Osiander: Bitte, lobe Melanchthon! Er schätzt dich! Aber da waren die Fronten schon verhärtet. Der Schwabe hatte auch bei Melanchthon keinen Erfolg: Er legte ihm nahe, Sätze wegzulassen, die nicht nur Osiander, sondern auch Luther treffen würden. Aber Melanchthon war auf diesem Ohr taub. Von einem »differenzierten« Konsens mit ihm kann man deswegen nicht sprechen – auch nicht von einem solchen mit Osiander, weil Brenz sich aus dem Streit heraushielt. W. ist jedoch darin zuzustimmen, dass die Schnittmenge in der Deutung der Rechtfertigung zwischen Melanchthon und Brenz erheblich größer ist als zwischen Brenz und Osiander. Auch ohne die Württemberger gab es genug Kämpfer! Man bezichtigte sich ge­genseitig der Häresie oder als unter dem Einfluss des Teufels stehend. Das wird von W. häufig aus bisher kaum oder noch gar nicht beachteten Quellen wie den Orationes Melanchthons dargelegt. Insoweit wird unser Bild erheblich bereichert.
Jedoch ist multa bekanntlich nicht multum. Eine Darstellung, die an einer wichtigen Schrift Melanchthons und einer zentralen Osianders sozusagen pars pro toto die Probleme eruierte, könnte man sich auch nach dieser materialgesättigten Studie vorstellen. Osiander hatte nicht viele Unterstützer, aber doch mehr, als hier zu Wort kommen. Dafür muss man auf Martin Stupperich oder Jörg Rainer Fligge zurückgreifen. Da sich Osiander aber nach Kräften verteidigte, kommt durch diese Darstellung ein geradezu tragisches Bild zustande. Der Königsberger erwehrt sich der An­griffe mit Vehemenz, auch mit Lust und Spott: Das »Schmeck-bier«, das die Gegner brauten, ist ungenießbar, kann also nur weggekippt werden. Osiander starb mitten im Kampf, im Oktober 1552. Die Wogen glätteten sich dadurch nicht. 1555 ging Melanchthon nach Nürnberg und sorgte dort für eine Säuberung vom Osiandrismus. Brenz half ihm dabei nicht. Aber die beiden aus Nürnberg vertriebenen Prediger fanden im Hoheitsgebiet Ulms bzw. in Württemberg ein Unterkommen – auch das war eine Stellungnahme. Für Melanchthon war Osiander ein spekulierender Philosoph. Osiander meinte, Magister Philippus werde von seinen Schülern »praeceptor communis« und »magister veritatis« ge­nannt, dessen »Loci communes« sie für sakrosankt erklärten. Korrigieren konnten sie sich angesichts dieser Wertungen gegenseitig nicht. W. warnt davor, Melanchthon zu unterschätzen. Aber auch Osiander wird sachlich dargestellt. Dieses Buch ist auch durch Ergänzungen und Korrekturen zu Textausgaben und Sekundärliteratur ein wichtiger Beitrag zur Forschung.