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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

683–684

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dunson, Ben C.

Titel/Untertitel:

Individual and Community in Paul’s Letter to the Romans.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XII, 217 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 332. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-152057-0.

Rezensent:

Stefan Krauter

Die »alte« Deutung der paulinischen Briefe, dass es in ihnen im Kern um die Frage gehe, »wie ich einen gnädigen Gott kriege«, ist im Lauf der letzten Jahrzehnte mehr und mehr in die Defensive gedrängt worden. In vielen Werken, insbesondere aus dem englischen Sprachraum, kommt sie, wenn überhaupt, dann nur als »Pappkamerad« vor, der meist bereits in der Einleitung »abgeschossen« wird: als anachronistische Eintragung des modernen westlichen Individualismus in antike Texte.
Der schlanke Band von Ben C. Dunson (217 Seiten inklusive Bib­liographie und Register), eine von Francis Watson betreute Durhamer Dissertation, nimmt sich nicht weniger vor, als diesen Trend der angelsächsischen Paulusexegese grundsätzlich in Frage zu stellen. D. will nachweisen, dass das Individuum in der Theologie des Paulus eine zentrale Rolle einnimmt, allerdings – insoweit gibt er den Vertretern der Gegenposition recht – nie als isoliertes Individuum, sondern stets als Individuum in Gemeinschaft.
D. beginnt mit einer kurzen Einleitung (1–17), in der er die verschiedenen Forschungsströmungen darstellt, die zur Marginalisierung oder gar völligen Leugnung der Bedeutung der Kategorie des Individuums für Paulus geführt haben: die sozialwissenschaftliche Auslegung, die »New Perspective on Paul« und die apokalyptische Paulusauslegung.
In einem zweiten Kapitel (18–63) beschäftigt sich D. genauer mit der Kontroverse zwischen Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann über die Rolle des Individuums in der paulinischen Theologie. Ausführlich und sensibel werden beide Positionen unter Heranziehung der deutschen Originaltexte dargestellt und gewürdigt. Das ist, insbesondere was Bultmann angeht, eine positiv hervorzuhebende Ausnahme innerhalb der englischsprachigen Exegese.
Ein drittes Kapitel widmet sich dem Thema Individuum und Gemeinschaft in den Diatribai des Epiktetos (64–107). Unter Rück-griff auf die Quellentexte und die einschlägige Literatur zum antiken Stoizismus analysiert D. die Ethik des Epiktetos mit dem Ziel, die Angemessenheit der Kategorie »Individuum« nachzuweisen.
Die folgenden beiden Kapitel bieten dann eine Typologie von verschiedenen Individuen im Römerbrief. In Kapitel 4 (108–146) sind dies das »characteristic individual«, der von Paulus zur Verdeutlichung seiner Argumente eingeführte fiktive Gesprächspartner (Röm 2,1–5.17–25), das »generic individual«, der als Einzelner von Gottes Urteil getroffene Mensch schlechthin (Röm 2,6–16; 3), das »binary individual«, der Mensch in seiner – von Paulus in ihrer Wichtigkeit deutlich relativierten – Ausdifferenzierung in Jude und Nichtjude (Röm 2–3), und schließlich das »exemplary individ­ual«, nämlich Abraham in seiner Rolle als Vorbild der durch Glauben gerechtfertigten Gottlosen (Röm 4). Kapitel 5 (147–176) fügt hinzu: das »representative individual«, Adam und Christus, die stellvertretend für eine Menschengruppe stehen und deren Schick-sal bestimmen (Röm 5,12–21), das »negative exemplary individual«, Paulus selbst im Rückblick auf seine vorchristliche Vergangenheit (Röm 7,7–25), das »somatic individual«, das glaubende Individuum als Teil der Gemeinschaft der Glaubenden (Röm 12), und schließlich das »particular individual«, die in ihren Beziehungen und Eigenschaften erkennbaren Personen in der Grußliste (Röm 16). Ein kurzer zusammenfassender und die Grundthese auf alle Pau lusbriefe ausweitender Schlussabschnitt (177–183) beendet das Buch.
Schon diese kurze Übersicht über den Inhalt zeigt eine der zentralen Schwächen des Werkes: Seine Teile stehen mehr oder weniger unverbunden nebeneinander. Bultmann und Käsemann tauchen nach Kapitel 2 nicht mehr auf, Epiktetos nach Kapitel 3 nur noch in einem kurzen Unterabschnitt des Schlusskapitels als Objekt eines oberflächlichen und zudem wertenden Vergleiches mit Paulus. Es wird nirgends deutlich, welchen Ertrag Kapitel 2 und 3 – immerhin fast die Hälfte des Buches – für die konkrete Textexegese haben.
Diese selbst bleibt unbefriedigend. Kapitel 4 und 5 bestehen letztlich nur aus kursorischen Auslegungen einiger ausgewählter Passagen des Römerbriefes. Deren Qualität schwankt stark. Während D. zu Röm 4 durchaus treffende Beobachtungen an der Textstruktur macht, die gegen die »kollektivistische« Auslegung von Hays, Wright u. a. sprechen, übersieht die Interpretation von Röm 7 als autobiographischer Rückblick des Paulus zentrale Merkmale des Textes und ist nicht plausibel. An einigen anderen Stellen handelt es sich sogar um kaum mehr als um paraphrasierende Wiedergaben des Bibeltextes. Insgesamt kommt man um das Urteil nicht herum, dass kein Textabschnitt detailliert analysiert wird, kein Vergleichsmaterial von außerhalb des Römerbriefes herangezogen wird und zuweilen das ausschlaggebende Argument für eine bestimmte Deutung der Hinweis auf eine Autorität in der Fußnote ist.
Was dem Buch gänzlich fehlt, ist ein wie auch immer geartetes theoretisches und methodologisches Fundament. Was ein »Individuum« sein soll und wie man in antiken Texten so etwas wie »In­-dividualität« feststellen kann, wird nirgends geklärt. Undeutlich bleibt auch, welche Bedeutung die Kategorien von D.s »Typologie« haben.
Mit dem Thema »Individuum und Gemeinschaft« hat sich D. einer wichtigen Frage, vielleicht sogar einer der für die Zukunft der Paulusforschung zentralen Fragen angenommen. Sein Buch enthält durchaus manche weiterführenden Beobachtungen und zielt auf eine prima facie plausible These hin. Von einer befriedigenden Lösung ist es jedoch weit entfernt.