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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

681–683

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bynum, Wm. Randolph

Titel/Untertitel:

The Fourth Gospel and the Scrip­-tures. Illuminating the Form and Meaning of Scriptural Citation in John 19:37.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. XII, 213 S. = Supplements to Novum Testamentum, 144. Geb. EUR 101,00. ISBN 978-90-04-22843-6.

Rezensent:

Michael Labahn

Die Schriftrezeption ist seit Langem Gegenstand wichtiger Studien zum Verständnis des vierten Evangeliums, da sowohl Zitate wie Anspielungen ein wesentliches Darstellungsmittel des johanneischen Gottes- und Jesusbildes sind. Weniger erforscht ist der Beitrag des vierten Evangeliums selbst zur Textgeschichte des hebräischen oder griechischen Bibeltextes. Die klar gegliederte Studie von Randolph Bynum konzentriert sich auf das Zitat von Sach 12,10 in Joh 19,37. Es ähnelt dem hebräischen Text wie auch den späteren griechischen Texten bei Aquila, Theodotion und Symmachus, weist aber zugleich signifikante Differenzen auf, wie sie sich auch in weiteren frühchristlichen Zitaten von Sach 12,10 finden: Mt 24,30; Offb 1,7; Did 16,8; Barn 7,9b; ApkPetr 6; Justin Dial 14,8; 1Apol 52,12. Die ser Sachverhalt führte zur Begründung einer frühchristlichen Testimoniensammlung, ohne dass Fragen der Textformen oder der unterschiedlichen Rezeption befriedigend geklärt wären. B.s Lösungsvorschlag lautet: »the best explanation for the form of Zech 12:10 is a citation from R (= 8ḤevXIIgr; ML) or a similar manuscript. This places John’s form in harmony with the LXX correction movement represented by R. The author of the FG (Fourth Gospel; ML) thus desires in this instance to cite the Jewish Scriptures in a manner more closely compatible with the predominant Hebrew proto-mt of the era, in contrast to the LXX form of the verse. At the same time, he wishes to cite in a Greek form acceptable to the Jewish-Hellenistic culture of his day.« (6)
Nach einer forschungsgeschichtlichen Einführung und Überlegungen zum historischen Kontext beschreibt B. kurz den johanneischen Schriftgebrauch. Die Schrift verkündet nach dem Urteil des vierten Evangeliums seine eigene Jesusbotschaft. B. sieht aufgrund der Einleitungsformeln eine Veränderung der Schrifthermeneutik vom Anfang des Evangeliums hin zur Passionsgeschichte, wo spezielle Schriftstellen den Sinn einzelner Ereignisse offenlegen und zugleich die Referenztexte in neuem Licht verstanden werden (18 f.). Der johanneische Schriftgebrauch wird in die zeitgenössische Schrifthermeneutik eingeordnet, die mit verschiedenen, nebeneinander existierenden Texttraditionen umgeht: »His citations would have been completely acceptable to his entire audi­ence, Jewish or non-Jewish. Rather, the issue at stake was the appli­-cation of those Scriptures to the person of Christ« (21).
Danach wird die Textgeschichte des Sacharjabuchs dargestellt (27–58). Die Vielfalt der hebräischen Texttraditionen in den ältesten Handschriften lässt keinen (hypothetisch rekonstruierbaren) Ur­text erkennen, sondern verweist auf eine frühe Pluriformität, die auch im Prozess der Standardisierung Bestand hatte, so dass sich mehr als eine hebräische Vorlage für griechische Übersetzung(en) anbot. Auch die griechische Textgeschichte verweist auf eine textliche Vielfalt. Dennoch gelte: 8 ḤevXIIgr als »an extremely influential revision cannot be discounted as aberrant or marginal« (57). Auf dieser Grundlage werden die unterschiedlichen Lesarten von Sach 12,10 vorgestellt und zueinander ins Verhältnis gesetzt (59–109). B. sieht keine Hinweise, dass die LXX eine andere Vorlage als die MT-Form gelesen hat. Allerdings unterscheidet er zwei Textformen: MT und Proto-MT, die jeweils Entsprechungen in der griechischen Textüberlieferung haben (108 f.). Das breit diskutierte Problem der Übersetzung des hebräischen רקד (»durchbohren«) durch κατωρχήσαντο (»sie haben triumphierend getanzt«) stellt sich s. E. so dar: Die Lesart κατωρχήσαντο will die Vorstellung eines durchbohrten Gottes vermeiden und ist zugleich eine Annäherung an Proto-MT.
Sodann vergleicht B. die 14 johanneischen Schriftzitate mit dem Wortlaut von LXX (111–137). Die Übereinstimmung der Rezeptionstexte zum Wortlaut der LXX ist unterschiedlich. Wegen der bisweilen hohen semantischen Kongruenz zwischen MT und LXX stellt B. die oft vertretene LXX-Priorität zur Bestimmung der johanneischen Textformen in Frage, damit jedoch auch die Bestimmung sprachlicher Differenzen durch die Kreativität des johanneischen Erzählers. Nach B. war er des Hebräischen mächtig.
Aufgrund dieser Vorbereitung kommt die Studie zum Kern der Untersuchung, der Textform von Sach 12,10, die in Joh 19,37 rezipiert wird (139–169). Die Frage nach einer möglichen hebräischen Vorlage, vor allem die Charakterisierung des Textes der Zwölfprophetenrolle von Nahal Ḥever im Vergleich mit Joh 19,37 führt zu der These: »John’s citation represents one of the oldest available stages of the textual history of the verse. It is a reliable witness to a text form in Greek, and its corresponding Hebrew Vorlage, which were part of the later first-century c.e. biblical textual milieu in which John lived and wrote« (168 f.). Zwar erwägt B., dass die Rezeption durch den johanneischen Erzähler beeinflusst sein könnte (142), legt aber seine Bestimmung der Textvorlage ohne vorausgehende Analyse des johanneischen Kontextes vor. In 8ḤevXIIgr ist Sach 12,10 nicht mehr erhalten. Der vorauszusetzende Text wird vielmehr durch einen Katalog semantischer und textgeschichtlicher Übereinstimmungen zwischen der Schriftrolle und Joh 19,37 be­gründet. – Aus dieser ambitionierten These leitet B. Schlussfolgerungen zu Verfasser, Adressaten und Theologie ab.
Die schon von Hanhart erwogene Möglichkeit, dass die Textform von Sach 12,10 in 8ḤevXIIgr dem Zitat in Joh 19,37, das dem Hebräischen nahesteht, entsprechen könnte, ist eine anregende Vermutung, die B. durch weitere Überlegungen zur Gewissheit zu bringen sucht. So könnte Joh 19,37 in der Tat den ältesten Stand der Textüberlieferung repräsentieren. Die offensichtliche Uneinheitlichkeit der johanneischen Schriftrezeption mit ihrer Nähe zu LXX sowie die Kreativität des johanneischen Erzählers raten von zu weitreichenden Schlussfolgerungen zu Textformen ab, wenn sie nicht physisch, d. h. an Textfunden belegt werden können. Somit sollte die These durch eine erneute Untersuchung anderer Schrift­rezeptionen der johanneischen Jesusgeschichte geprüft werden. Dennoch ist B. eine diskussionswürdige Studie gelungen, die neues Licht auf die johanneische Schriftrezeption wirft. Hinter seinen Appell, die Vielfalt des zeitgenössischen hebräischen wie griechischen Schrifttextes stärker zu beachten, sollte man nicht zurückgehen.