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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

679–681

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Breytenbach, Cilliers [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Römerbrief als Vermächtnis an die Kirche. Rezeptionsgeschichten aus zwei Jahrtausenden.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2012. X, 284 S. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-7887-2491-7.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Der Band vereinigt zwölf Vorträge eines (vermutlich im Jahr 2011 angebotenen) Orientierungskurses der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, an dem sich aktuell Lehrende und Forschende aller Fächer der Fakultät beteiligt haben. Cilliers Breytenbach beschreibt die Zielsetzung: »Wie kein anderer Text des Paulus ist der Brief an die Römer das Vermächtnis des Apostels an das Christentum und Leser weit darüber hinaus geworden. Die Beiträge des Bandes entfalten einige ausgewählte Facetten dieser intensiven Wirkungsgeschichte. Das Augenmerk liegt darauf, den Zusammenhang der Einzeldisziplinen der Theologie anhand der Rezeption eines ihrer grundlegenden Texte zu verdeutlichen und dabei zugleich auf knappem Raum durch zwei Millenien hindurch die Hauptstationen der theologischen Rezeption des Römerbriefes bis in die über sie hinausreichende philosophische Diskussion und Gender-Debatte der Gegenwart zu verfolgen« (14).
Zu den eher klassischen, wenngleich unverzichtbaren Themen der Wirkungs- oder Rezeptionsgeschichte zählen die folgenden Beiträge. Dietmar Wyrwa, »Zugänge Augustins zu Paulus und dem Römerbrief«, geht in seinen Ausführungen weit über die üblichen Ausmaße eines Vortrags hinaus. Er möchte »ein sehr viel differenzierteres Bild der Zugänge Augustins zu Paulus [nachweisen], als es die angesprochene neuere Forschungstendenz präsentiert« (51), die den manichäischen Einfluss auf Augustins Paulusverständnis betont. Wyrwa durchmustert schrittweise das literarische Schaffen Augustins im Blick auf seine Paulusrezeption, zuletzt minutiös in den Jahren 388–391, für deren Ende er »eine nahezu perfekte Kenntnis der Paulusbriefe« attestiert (91). Ludger Honnefelder, »Der Rö­merbrief in der mittelalterlichen Theologie. Petrus Abaelardus und Thomas von Aquin«, beleuchtet die zentrale Stellung des Römerbriefs in der mittelalterlichen Theologie des lateinischen Westens hin zur Kategorie einer »Quelle, der durch gelehrte Auslegung der Inhalt des Glaubens als ein systematisch zusammenhängendes Ganzes entnommen wird« (117). Dorothea Wendebourg, »Der Rö­merbrief bei Martin Luther«, kommt zu dem Ergebnis, dass die in der Lektüre des Römerbriefs gewonnenen Erkenntnisse Luthers »gesamte Theologie bestimmten und all seine Schriften prägten« (134). Friedrich Lohmann, »Die Krisis des Glaubens. Karl Barths Auslegung des Römerbriefs«, bietet einen Durchgang durch Barths Beschäftigung mit dem Römerbrief, angefangen von einer Predigt­reihe aus dem Jahr 1914 über die beiden Auflagen seines Römerbriefs (1919/1922) bis hin zur Kurzen Erklärung des Römerbriefes aus den Jahren 1940/41 bzw. 1956. Der Erstauflage fehle noch die klare theologische Linie, erst die Zweitauflage von 1922 zeichne sich durch »große gedankliche Kohärenz« aus (154).
Matthias Köckert bespricht »Abrahams Glaube in Röm 4 und im vorpaulinischen Judentum«. Hier geht es nicht um Wirkungsgeschichte, wohl aber um eine Interpretation dieses Textes im Judentum vor und neben Paulus (15). Der Beitrag von Notger Slenczka, »Gericht«, fragt nach dem theologischen Gehalt der Gerichtsbotschaft des Römerbriefs: »Der Zustand, mit dem der christliche Glaube bzw. die christliche Verkündigung zu tun hat, ist also nicht einfach ein gegenständliches Gericht, sondern das Selbstverhältnis des Menschen, das so strukturiert ist, daß ein Mensch zur Einheit mit sich selbst nicht kommt […]« (175). Gerichtsbilder sind Verräumlichungen und Vergegenständlichungen dieser Situation. Wilhelm Gräb, »Der Römerbrief in der christlichen Verkündigung oder die paulinische Rechtfertigungslehre im modernen Lebenszusammenhang«, beklagt, dass »die gegenwartshermeneutische Ar­beit […] meistens in der Frage nach der ›Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigung‹ zu kurz« kommt (185). Ihre Aktualität bestehe darin, »dass sie jeden Menschen, wer oder was er oder sie auch sei, in diesem lebensnotwendigen Anerkennungsverlangen anspricht, je­den Menschen in dem Bedürfnis Ernst nimmt, im je eigenen Dasein und Sosein akzeptiert zu sein, mit der je eigenen Lebens­-leis­tung, wie positiv oder eben auch negativ diese ausfallen mag, ›recht‹ zu sein« (186).
Die den Band abschließenden Beiträge führen zu Rezeptionsgeschichten des 20. Jh.s: Andreas Feldtkeller, »Ein Kunstwerk, der Römerbrief und die ›Theologie der Religionen‹«; Rolf Schieder, »Politische Philosophen lesen den Römerbrief«; Andreas Arndt, »Geschichte(n) mit Paulus. Römerbrief und Geschichtsdenken von Schelling bis Agamben«; Ulrike Auga/Bertram Schirr, »Paulus gegen Paulus? Eine feministisch-postkoloniale und diskursanalytische Lektüre von Römer 12«. Die Autoren stellen, nach einer Grundlegung ihres methodischen Vorgehens, »neben den (neo-)kolonialen Text Röm 13,1–7 […] die nachhaltige, de-kolonialisierende Wirkmacht von Röm 12,2 […], die patriarchale und hierarchische, koloniale Strukturen Roms und anderer (neo-)kolonialer Gesellschaften außer Kraft setzt« (264). In Röm 13,1–7 spreche Paulus, der Oppor tunist, nicht aber der inklusive Visionär aus Röm 12,2 (und Gal 3,28)! »Von Röm 12 aus gelesen wird Röm 13 dekonstruiert.« (264) Diese vier beschriebenen neuzeitlichen Rezeptionsgeschichten ma­chen deutlich, wie sehr eine Rezeption gesteuert ist vom Interesse des Rezipienten, von sich wandelnder Methodik des Lesens und Interpretierens, vom kulturellen Umfeld. Das gilt natürlich für jede Phase der Auslegungsgeschichte, und so sind die Rezeptionsgeschichten auch immer zeitgeschichtliche Aneignungen des Paulus. Gestört werden können solche Prozesse durch exegetische Arbeiten, die der Aussage des Ausgangstextes verpflichtet sind und versuchsweise nach der intentio auctoris fragen. Nur am Rand leuchtet in diesem Band auf, dass etwa die sog. New Perspective on Paul oder der Rhetorical Criticism solche Störungen gegenüber einer vornehmlich rein theologischen Auslegung und Aneignung des Rö­merbriefs waren und sind.
Cilliers Breytenbach leitet in den Band mit einer allgemeinverständlichen Einführung in den Römerbrief ein, der von Paulus wohl nicht als Vermächtnis verfasst wurde, sich aber als solches für das Christentum erwiesen habe. Das Rätsel um den Abfassungszweck des Briefes lasse sich »befriedigend klären, wenn man die Ansätze des Origenes, Augustin, Erasmus, von Locke und Baur weiter verfolgt und das Augenmerk auf die Überleitungen vom Präskript und Proömium mit Danksagung zum Briefkorpus (1,11–17) und vom Briefkorpus zum Schluss (15,14–21.22–33) richtet« (8f.). Überhaupt seien es diese genannten Autoren gewesen, die das Kern­argument des Römerbriefs, nämlich Gottes Barmherzigkeit ge­genüber den Sündern aus dem Judentum und den Völkern als Fundament des Evangeliums klar erkannt hätten. Natürlich ist die Rezeptionsgeschichte breiter und auch im Detail verästelter, als dieser Band anzeigen kann. Melanchthon etwa begegnet nur ganz am Rande (5.128, Anm. 47, und 161), obwohl seine Rezeption des Römerbriefs in die Loci Communes (1521) führte. Auch die Auslegung innerhalb der lutherischen Orthodoxie wird übergangen, die den Römerbrief als dogmatisches Lehrschreiben aufnahm, die erst durch Ferdinand Chr. Baur abgelöst wurde, der den Brief als zeit- und situationsgebundenes Schreiben interpretierte. Anderes aber wird dankenswerterweise hervorgeholt, wie etwa die postum veröffentlichte Schrift John Locke’s aus dem Jahr 1707, die gerne übersehen wird.
Der Band ergänzt in willkommener Weise das aktuelle Spektrum rezeptionsgeschichtlicher Studien zum Römerbrief.