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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

675–677

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Sæbø, Magne [Ed.]

Titel/Untertitel:

Hebrew Bible/Old Testament, III: From Modernism to Post-Modernism. 19th and 20th centuries. Part. 1: The Nineteenth Century – a Century of Modernism and Historicism.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 757 S. Lw. EUR 150,00. ISBN 978-3-525-54021-3.

Rezensent:

Markus Witte

Das 19. Jh. ist für die alttestamentliche Forschung von überragender Bedeutung. So verdankt die gegenwärtige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alten Testament praktisch alle ihre we­sentlichen Themen der Zeit zwischen Napoleon und dem Vor­-abend des 1. Weltkriegs: die Entdeckung der Geschichte Israels als einer jenseits der Kategorien von biblischer Geschichte oder Heilsgeschichte nach strikt historischen Maßstäben zu rekonstruierenden Größe, die Bedeutung der vergleichenden Semitistik für die Lexikographie und Grammatik des Althebräischen, die kulturgeschichtliche Verortung des alten Israel und Juda im Kontext der Kulturen Altsyriens, Mesopotamiens und Ägyptens, die Erhebung der materiellen Kultur des alten Israel und Juda mittels der »bi­-blischen Archäologie«/der Palästinawissenschaft und der Sozialgeschichte, die konsequente literargeschichtliche Betrachtung der alttestamentlichen Texte, die mittels literarkritischer und religionsgeschichtlicher Analyse auf eine Literaturgeschichte des Alten Testaments zielt, sowie die Gattung der »Einleitung ins Alte Testament« als einer Summe der Ergebnisse seiner kritischen Er­forschung. So stellt sich das 19. Jh. für die alttestamentliche Forschung gleichermaßen als ein philologisches, historisches, archäologisches und literargeschichtliches Zeitalter dar. Dass diesem im Rahmen einer auf drei Bände (mit zwei Teilbänden) angelegten monumentalen Forschungsgeschichte ein eigener Band gilt, ist vollkommen angemessen.
Wie schon in den vorangehenden Bänden zur Antike (HBOT I/1, 1996), zum Mittelalter (HBOT I/2, 2000) und zur Zeit von der Renaissance bis zur Aufklärung (HBOT II, 2008) hat der Herausgeber wieder eine bunte Schar international renommierter jüdischer, protestantischer und römisch-katholischer Autoren und Autorinnen versammelt, die in jeweils für sich lesbaren Essays die zentralen kultur- und geistesgeschichtlichen, methodologischen und thematischen Aspekte der alttestamentlichen Forschung des 19. Jh.s nachzeichnen. Bereits einleitend begründet der Herausgeber die Aufteilung der Darstellung des 19. und 20. Jh.s auf zwei Teilbände rein pragmatisch und nennt ganz zutreffend als eigentlich passenderen Einschnitt den Beginn bzw. das Ende des 1. Weltkrieges. Die bis in die Gegenwart reichende Fortdauer der wesentlichen historischen und literargeschichtlichen Fragen und Methoden der alttestament lichen Forschung des 19. Jh.s – genannt sei hier nur die grund­-sätzlich bleibende Bedeutung literarkritischer und religionsge­schichtlicher Arbeit – sowie der natürlicherweise geringere zeitliche Ab­stand zur dargestellten forschungsgeschichtlichen Epoche be­wirken automatisch, dass einzelne Autoren die Linien ihrer Darstellung bis weit in das 20. Jh. ausziehen, so beispielsweise G. P. Forgaty, der das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zur histo­rischen Kritik des Alten Testaments bis zum 2. Vaticanum be­schreibt. Die Globalisierung der alttestamentlichen Wissenschaft, die durch den Aufschwung der Exegese in Nordamerika und in Kanada beginnt, sowie die methodische und sachliche Ausdifferenzierung der Forschung am Alten Testament bedingen, dass der vorliegende Band stärker als seine Vorgänger thematisch und weniger individuell strukturiert ist. Gleichwohl finden sich auch in diesem Band biographische Miniaturen überragender Einzelgestalten (Abraham Kuenen, Julius Wellhausen, Ernst W. Hengstenberg, Franz De­litzsch), ohne die eine Forschungsgeschichte leblos wäre.
Abgesehen von einer einleitenden Skizze aus der Hand des Herausgebers zu Grundzügen historischen Bewusstseins, zur Auswirkung des historischen Denkens auf die Interpretation des Alten Testaments und zur Kritik des Historismus ist der Band in drei Teile gegliedert. Teil A informiert über den grundsätzlichen kulturellen Kontext der alttestamentlichen Wissenschaft des 19. Jh.s und beschreibt die philosophischen und geistesgeschichtlichen Hintergründe sowie die Ausdehnung der alttestamentlichen Forschung erstens auf den gesamten vorderorientalischen und ägyptischen Raum im Zuge der archäologischen Entdeckungen in Ägypten und in Mesopotamien, zweitens auf die damit verbundenen anthropologischen, soziologischen und mythologischen Fragen sowie drittens auf die durch die Textfunde in Ägypten, Babylon und Ninive, aber auch in Israel/Palästina/Jordanien selbst, bedingte vergleichende semitische Sprachwissenschaft.
Teil B ist den wichtigsten geographischen und konfessionellen Regionen der alttestamentlichen Forschung des 19. Jh.s gewidmet und zeichnet dementsprechend zum einen die Entwicklung in Nordamerika und Kanada, in Zentraleuropa, Großbritannien und Irland sowie in Nordeuropa (mit einem Schwerpunkt Dänemark), zum anderen im Bereich der römisch-katholischen Kirche und im Judentum nach. Dabei wird deutlich, wie sich eine den Prinzipien historischer Betrachtung verpflichtete und damit zwangsläufig komparativ und relativierend vorgehende Exegese als moderne »säkulare« Wissenschaft etabliert und dabei in ein kritisches Verhältnis zu den traditionellen Institutionen Kirche und Synagoge gerät, wie sich dies paradigmatisch an den Häresieprozessen gegen William Robertson Smith und Charles August Briggs, am Wechsel Wellhausens von der Theologischen in die Philosophische Fakultät oder mit umgekehrten Vorzeichen auch an neoorthodoxen Strömungen im Protestantismus (Hengstenberg) und im Judentum (Samson Raphael Hirsch) zeigt.
Teil C, der insgesamt etwas mehr als die Hälfte des Bandes ausmacht, befasst sich mit speziellen Forschungsfeldern und unterschiedlichen methodischen Zugängen. Hier kommen nun ausführlich die Themen »Geschichte Israels«, Textkritik, Pentateuch, Anfänge der Religionsgeschichtlichen Schule, Blüte der Literarkritik und Einspruch der konservativen Bibelauslegung, historische Bücher und Prophetie, Psalmen und didaktische Bücher sowie »Biblische Theologie« versus »Religionsgeschichte« zur Sprache. Doppelungen sind dabei nicht zu vermeiden – so, wenn Wellhausen in den Kapiteln zur »Geschichte Israels«, zum Pentateuch, zur Literarkritik und zu den historischen Büchern sowie in einem eigenen, nur ihm und Kuenen gewidmeten Kapitel, vorgestellt wird. Auch »Hiob« erscheint mehrfach (zum einen im Rahmen der Übersicht zur Poetologie, zum anderen im Zusammenhang der Weisheitsbücher). Ein Überblick zu kanongeschichtlichen Forschungen schließt den dritten Teil wie das Gesamtwerk ab.
Etwas stiefmütterlich wird m. E. die Septuagintaforschung des 19. Jh.s behandelt, was der hermeneutisch problematischen Gleichsetzung von Hebräischer Bibel und Altem Testament geschuldet ist, wodurch die Forschung an den apokryphen/deuterokanonischen Büchern – abgesehen von ihrer Behandlung im Kapitel zu Kanonsfragen – kaum dargestellt wird. Auch die Geschichte der Auslegung des Alten Testaments in den orthodoxen Kirchen bleibt ausgeblendet. Zwar hat sich das ostkirchliche Christentum nach der hohen Blüte seiner Bibelwissenschaft in der Antike und im Mittelalter in den Jahrhunderten der türkischen Herrschaft (1453–1821) weitgehend auf die praktische Bibelauslegung konzentriert, doch begann im 19. Jh. in einzelnen orthodoxen Kirchen (vor allem in Russland und Griechenland) auch wieder eine Bibelwissenschaft, die in einem so umfassend angelegten Handbuch wie dem vorliegenden zumindest ein kleines Kapitel verdient gehabt hätte (vgl. dazu knapp E. Oikonomos, Bibel und Bibelwissenschaft in der orthodoxen Kirche, 1976; A. Negrov, Biblical Interpretation in the Russian Orthodox Church, 2008).
Jedem der 24 Kapitel ist eine einschlägige Bibliographie beigegeben. Ein fast 60 Seiten umfassendes Namen-, Sach- und Stellenregister erschließt das gewaltige Handbuch, das weit mehr ist als eine Darstellung der Geschichte der Auslegung des Alten Testaments und das in keiner theologischen und kulturgeschichtlichen Bibliothek fehlen sollte.