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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

673–674

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Berlejung, Angelika [Ed.]

Titel/Untertitel:

Disaster and Relief Management – Katastrophen und ihre Bewältigung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. VII, 544 S. = Forschungen zum Alten Testament, 81. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-151706-8.

Rezensent:

Michael Emmendörffer

Dieser Aufsatzband (544 Seiten), der von der Leipziger Alttestamentlerin Berlejung verantwortet worden ist, speist sich aus Vorträgen, die im Rahmen der internationalen Tagung »Katastrophen und Katastrophenbewältigung im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient« 2010 in Leipzig gehalten worden sind.
Neben theoriebildenden und einen Zugang eröffnenden Aufsätzen zur Grundlagendiskussion von Katastrophen und ersten Annäherungen an dieses wichtige Thema (I. Theories of Disaster. Einblicke in die Katastrophenforschung, 39–116) kommen Aufsätze zu ausgewählten Themen und Fallbeispielen aus Israel/Palästina (II. Disaster and Relief Management in Israel/Palestine. Katastrophen und ihre Bewältigung im Alten Israel/Palästina, 117–330) und Ägypten bzw. dem Alten Orient (III. Disaster and Relief Management in Egypt and the Ancient Near East. Katastrophen und ihre Bewältigung in Ägypten und im Alten Orient, 331–497) zu stehen.
Für den Fachwissenschaftler und einen breiteren Adressatenkreis (Studium und Pfarramt) erschließen sich durch diesen Band die mannigfaltigsten Aspekte und Betrachtungsweisen dieses für den Alten Orient und die heutige Gegenwart wichtigen Themas. In einzigartiger und prominenter Weise werden dem Leser die Themen »Katastrophen«, »Katastrophenbewältigung« und »Katastrophenmanagement« anhand einzelner ausgewählter Beispiele aus den Disziplinen der Theologie, Ägyptologie, Archäologie und Alt­-orientalistik vorgeführt. Besonders hilfreich sind dabei die einleitenden Passagen der Herausgeberin (3–28), die die einschlägigen Ergebnisse aus der Katastrophenforschung leseleitend und orientierend festhalten. – »Katastrophen verändern die Welt, Kulturen, Traditionen, Glaubens- und Vorstellungssysteme. Sie erschüttern Plausibilitäten […] Katastrophen motivieren dazu, alte Plausibilitäten neu zu definieren oder gar neue Plausibilitäten zu konstruieren.« (4 f.) Unterpunkte wie »Katastrophen und kulturelle Dynamik« oder »Was ist eine Katastrophe?« veranschaulichen das.
Der Begriff Katastrophe stammt danach ursprünglich aus dem Theatervokabular und bezeichnete dort den Wendepunkt einer Handlung. Im 16. Jh. markierte er im französischen Sprachbereich das schlechte Ende eines Stückes; die Bedeutung als schlimmes Unglück und schlimmes Ende hat sich erst mit Ende des 19. Jh.s allmählich durchgesetzt (vgl. 5). Im Sinne der Naturkatastrophen ist der Begriff erst im 20. Jh. gebräuchlich.
»Katastrophen entstehen, wenn Gefahren (hazards) wirklich eintreten und auf gesellschaftliche Verwundbarkeiten stoßen (disasters occur when hazards meet vulnerability). Damit ist deutlich, dass Katastrophen mit den zeitlichen, räumlichen und gesellschaftlichen Bedingungen eng verflochten sind. Sie sind mehrdimensionale, soziale Phänomene, ihr Ausmaß, ihre Auswirkungen, ihre Wahrnehmung und Bewertung sind menschenabhängig.« (6).
Mit der modernen Katastrophenforschung sind nach Berlejung fünf wichtige Merkmale zu unterscheiden:
»1. Die Katastrophe (disaster) selbst. Sie ist die konkreten Schaden hervorrufende Realisierung eines möglichen Risikos (was wiederum das Ergebnis einer Gefahr ist).
2. Gefahren (hazards). An diesem Punkt unterscheiden manche Forscher Naturgefahren (natural hazards; z. B. Vulkane), technische (technical hazards; z. B. Kernkraft) und soziale Gefahren (social hazards; z. B. Krieg oder Terrorismus), wodurch dann doch der Auslöser einer Katastrophe stärker in den Blick genommen wird. Dies bleibt indessen nicht unwidersprochen […]
3. Die Vulnerabilität/Verwundbarkeit (vulnerability). Hierbei handelt es sich um die gesellschaftliche, wirtschaftliche, physische und psychologische Verwundbarkeit einer sozialen Gruppe mit ihren jeweiligen Fähigkeiten, sich gegen eine Katastrophe vorzubereiten, auf sie zu reagieren, sich gegen sie zu wehren oder auch sich von einem Desaster zu erholen. Die Verwundbarkeit resultiert aus wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Faktoren und ist folglich abhängig von den sozio-historischen Bedingungen […]
4. Die Resilienz/Widerstandsfähigkeit (resilience), also die Me­chanismen und technischen Möglichkeiten des sozialen Systems, die es ihm erlauben, die Katastrophe zu bekämpfen und den vorhergehenden Gleichgewichtszustand wiederherzustellen und zu stabilisieren.
5. Die kulturellen Ressourcen (culture) und Deutungshoheiten, die über die Wahrnehmung und Bewertung der erlebten Katastrophe entscheiden (Ursachenfindung, Diagnostik, Sinndeutung, Be­wältigung, Erinnerung/Vergessen).« (7)
Die antiken Gesellschaften – und damit vergleichbar auch die modernen mit ihren Naturkatastrophen (Tsunami) und anderen menschengemachten (Tschernobyl) – haben ihre jeweiligen Ka­-tastrophen überlebt und waren, wie Berlejung zu Recht betont (11), hinterher nicht mehr dieselben wie vorher.
»Katastrophen und Katstrophenbewältigung haben in den alten Kulturen Israels, Ägyptens und des Alten Orients zwei grundsätzlich unterschiedliche Aspekte, die mit aktuellen Ansätzen und Methoden der Archäologie, Orientalistik, Ägyptologie, Theologie, Kultur-, … Medizingeschichte, Katastrophensoziologie, Kulturanthropologie und Kulturphilosophie unterschiedlich zu greifen sind: 1. Die pragmatischen Dimensionen der Katastrophe und ihrer Bewältigung, 2. Die ideologischen und religiösen Dimensionen der Katastrophe und ihrer Bewältigung.« (12 f.)
Die Fülle und Weite der hier versammelten Beiträge kann nur angedeutet werden: Pars pro toto seien von den 19 einschlägigen Beiträgen folgende genannt: als Einblick in die theoretische Katas­trophenforschung der Beitrag von Elke M. Geenen, »Gesellschaft­liche Verfügung über Kapitalien und Vulnerabilität in konzeptioneller Perspektive« (41–65); Elisabeth List, »Einbruch ins Selbstverständliche. Katastrophen als Kontingenzerfahrung« (67–83); Jan Dietrich, »Katastrophen im Altertum aus kulturanthropologischer und kulturphilosophischer Perspektive« (85–116). Aus biblisch-exegetischer, alttestamentlicher Pers­pektive seien folgende Beiträge genannt: Bernd Janowski, »Eine Welt ohne Licht. Zur Chaostopik von Jer 4:23–28 und verwandten Texten« (119–141), Sebastian Grätz, »Gericht und Gnade. Die Fluterzählung im Rahmen der biblischen Urgeschichte« (143–158), Thomas Römer, »The Hebrew Bible as Crisis Literature« (159–177). Archäologische Aspekte werden unter anderem von Aaron A .Burke, »Coping with the Effects of War. Refugees in the Levant during the Bronze and Iron Ages« (263–287) angesprochen sowie die Aspekte von Katastrophen im Alten Ägypten und im Orient durch Beiträge unter anderem von Ludwig D. Morenz, »Hungersnöte im Bild. Zur Inszenierung von Topoi im Alten Ägypten« (383–389), Paul. A. Kruger, »Disaster and the topos of the World Upside Down« (391–424), und Hanspeter Schaudig, »Erklärungs­mus­ter von Katastrophen im Alten Orient« (425–443). Auf alle anderen Beiträge kann hier leider nur verwiesen werden.
Resümierend ist den Worten von Berlejung zuzustimmen: »Die Möglichkeiten, das Thema ›Katastrophen und Katastrophenbewältigung in antiken Kulturen‹ von verschiedenen Seiten her und unter Zuhilfenahme archäologischer, ikonographischer und epigraphischer/literarischer Quellen zu beleuchten, […] sind immens und längst nicht ausgeschöpft. In diesem Sinn ist der vorliegende Sammelband als Impuls für weitere Forschungen zu sehen.« (35)
Ein Anhang mit Stellen-, Personen-, Sach- und Ortsregister schließt diese sehr empfehlenswerte und wichtige Publikation ab.