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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

665–667

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Doering, Lutz

Titel/Untertitel:

Ancient Jewish Letters and the Beginnings of Christian Epistolography.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XIV, 600 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 298. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-152236-9.

Rezensent:

Catherine Hezser

Bei diesem Buch handelt es sich um die erste umfassende Studie zur literarischen Form des Briefes im antiken Judentum und frühen Christentum. Im Unterschied zu früheren Untersuchungen der neutestamentlichen Briefe vor dem Hintergrund griechisch-rö­mischer Epistolographie werden hier jüdische Briefe als wichtiger Kontext der frühchristlichen Briefe angesehen, wobei auch diese natürlich hellenistisch beeinflusst sein mögen (»We would be mis­taken, however, if we understood Jewish letter writing in the Hellenistic-Roman period as a closed entity, as somehow set off against the classical epistolary tradition«, ibid. 3).
Lutz Doering verfolgt die Entwicklung des Briefes von der Hebräischen Bibel bis zur neutestamentlichen Briefliteratur und integriert die frühchristlichen Briefe in den Gesamtrahmen des Briefeschreibens im antiken Judentum. Dabei werden sowohl epigra­phisches Material (Papyri und Ostraka) als auch literarische und möglicherweise fiktive Briefe als Quellen herangezogen. Das ge­samte Quellenmaterial wird einer detaillierten Analyse im Hinblick auf Inhalt, Form und Kontext unterzogen. Briefe werden hier nicht als literarische Gattung, sondern als Kommunikations­mo­dus angesehen, der in verschiedenen Formen und Kontexten in Er­scheinung tritt. Die traditionelle Unterscheidung zwischen (echtem) Brief und (literarischer) Epistel wird abgelehnt, stattdessen wird mit drei Gruppen von Briefen gerechnet: (a) dem dokumentarischen Brief; (b) dem diplomatischen Brief; (c) dem literarischen Brief, wobei bei letzterem der Überlieferungskontext, nicht die Echtheit oder Aussageabsicht ausschlaggebend ist. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass jüdische Briefe in dreierlei Hinsicht zum besseren Verständnis der christlichen Briefe beitragen können: bezüglich der Einleitungsformeln und Grüße am Schluss; der Praxis des Briefeschreibens an Gemeinden; dem Gebrauch von Briefen, um Gruppenidentität herzustellen und theologische Gedanken zu verbreiten.
In den der Einleitung folgenden acht Kapiteln des Buches werden die jüdischen und christlichen Quellen in chronologischer Folge vorgestellt. Die Untersuchung beginnt mit den dokumentarisch überlieferten Briefen der antiken jüdischen Tradition, wobei den Texten aus Qumran ein separates Kapitel gewidmet ist. Es geht zunächst um die Briefe aus Elephantine, Masada und die Bar Kokhba-Briefe sowie einige weitere epigraphische Briefe. Bei den meisten dieser Briefe (mit Ausnahme von zwei privaten Briefen) handelt es sich um offizielle Briefe, die den jeweiligen griechischen Briefkonventionen folgen und wohl von professionellen Schreibern verfasst worden sind.
In der Hebräischen Bibel sind keine Privatbriefe überliefert. Stattdessen gibt es dort Briefwechsel unter Königen, prophetische Briefe und Briefe, die angeblich im Rahmen der persischen Administration geschrieben wurden. Interessanterweise enthält die Septuaginta deutlich mehr Briefe als die hebräische Fassung, was natürlich auch mit der Aufnahme zusätzlicher griechischer Schriften wie 1. und 2. Makkabäer zusammenhängt. Offensichtlich wurden im hellenistischen Kontext Briefe häufiger benutzt als im (früheren) hebräischen Kontext der Abfassung und Redaktion biblischer Schriften. Briefe dienten besonders der Dokumentation und Legitimation, Funktionen, die auch in der griechisch-römischen Geschichtsschreibung begegnen. Außerdem sind in der Septuaginta eine Reihe von Festbriefen überliefert, die die biblische Tradition der Pessach- (2Chr. 30,1.6b–9) und Purimbriefe (Esther 9,20–32) fortsetzen und weiterführen und als quasi-offizielle Briefe anzusehen sind. Die Makroform des Briefes diente in hellenistischer Zeit auch zunehmend der Kommunikation zwischen dem Land Israel und der Diaspora (z. B. Ep. Jer, Baruch).
Während bei Philo Briefe nur selten erwähnt werden, spielen sie in Josephus’ historiographischen Werken eine große Rolle. Dabei überwiegen besonders in den Antiquitates die offiziellen diplomatischen und administrativen Briefe sowie Freundschaftsbriefe zwischen Judäern, Römern, und Spartanern. Die in die Texte integrierten Briefe werden hier ihrer chronologischen Abfolge gemäß un­tersucht und allgemein als echt angenommen. Besonders dort, wo es keine Parallelen in anderen antiken Schriften gibt und die Briefe gut in den narrativen Kontext eingebunden sind, sollte aber auch mit fiktiven, pseudepigraphischen oder zumindest von Josephus bearbeiteten Texten gerechnet werden. Die im Zusammenhang mit Herodes erwähnten Briefe sind ganz anders geartet: Hier werden Briefe besonders in Verschwörungen und Intrigen verwendet. Fälschungen sowie die Frage der Zuverlässigkeit der Überbringer spielen eine große Rolle. Über den Gebrauch von Privatbriefen lassen sich aus Josephus’ Werken allerdings keine zuverlässigen Schlüsse ziehen.
Die weitaus meisten der auf Aramäisch oder Hebräisch überlieferten oder erwähnten Briefe aus Qumran und in der rabbinischen Literatur sind als literarische Texte anzusehen, die in bestimmten literarischen Kontexten erscheinen oder als Makroform literarischen Zwecken dienten. Tannaitische Texte erwähnen Briefe nur sehr selten. Außerdem ist von der Formulierung her oft unklar, ob Informationen mündlich oder schriftlich ausgetauscht wurden. Ausführlicher werden Briefe im Zusammenhang mit der Bestimmung von Festtagen und der Abgabe des Zehnten behandelt, und die verwendeten Briefformulare lassen sich mit denen anderer aramäischer Briefe vergleichen. Es handelt sich hierbei um quasi-offizielle Briefe, deren Adressaten jüdische Gruppen an entfernteren Orten waren.
Während im weitaus größten Teil des Buches Briefe in den verschiedenen jüdischen Texten ausführlich in den jeweiligen literarischen Kontexten besprochen werden, sind nur Kapitel 8 und 9 der Behandlung neutestamentlicher Briefe gewidmet, die im letzten Kapitel zusammenfassend mit den jüdischen Briefen verglichen werden. D. schlägt vor, die Paulusbriefe im jüdischen Kontext als quasi-offizielle Briefe zu verstehen, die der Herstellung und Aufrechterhaltung von frühchristlichen Netzwerken dienten. Paulus schrieb seine Briefe nicht als Privatperson, sondern als missionarische »Auftragsarbeit« (398) an bestimmte Gemeinden. Die verwendeten Briefformulare lassen sich nur vor dem Hintergrund sowohl griechischer als auch semitischer Briefe angemessen verstehen, da eine Verschmelzung verschiedener Einflüsse anzunehmen ist. Der Vergleich mit jüdischen Briefen ist auch für die sog. Katholischen Briefe relevant. Insbesondere Briefe an Diasporagemeinden (z. B. der Jakobusbrief) lassen sich gut mit ähnlichen jüdischen Briefen vergleichen.
Insgesamt bietet das Buch einen guten Überblick über die (we­nigen) dokumentarischen und (mehrheitlich) literarischen Quellen, die zum Studium des antiken jüdischen und frühchristlichen Briefeschreibens zur Verfügung stehen. Es ist so angelegt, dass diejenigen, die sich lediglich für Briefe in einem bestimmten Korpus interessieren, sich auf bestimmte Kapitel konzentrieren können. Es geht D. aber besonders darum, zu zeigen, dass die in das Neue Testament aufgenommenen Briefe nur angemessen verstanden werden können, wenn man sie auch im Kontext jüdischer Briefe sieht. Sowohl jüdische als auch christliche Briefe entstanden im Spannungsfeld zwischen semitischer und griechisch-römischer Epistolographie.
Das Buch ist Neutestamentlern, Kirchenhistorikern, Judaisten, und Altphilologen zu empfehlen. Es bietet vielfältige Anregungen zum weiteren Studium antiker jüdischer und christlicher Briefe und Briefliteratur.