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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

663–665

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Cohen, Shaye J. D.

Titel/Untertitel:

The Significance of Yavneh and Other Essays in Jewish Hellenism.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XV, 614 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 136. Lw. EUR 169,00. ISBN 978-3-16-150375-7.

Rezensent:

René Bloch

Auf gut 600 Seiten hat der Harvarder Judaist und Althistoriker Shaye J. D. Cohen 30 zwischen 1980 und 2006 veröffentlichte Artikel zusam­mengeführt. Dieser Band von einem der besten Kenner des antiken Judentums macht Ausschnitte von 25 Jahren Gelehrsamkeit nun gut zugänglich und wird nicht zuletzt auch in der Lehre dankbare Verwendung finden. Sicher erinnern manche Beiträge, naturgemäß die älteren, mehr an vergangene als an neuere Forschungsdebatten, aber alle sind schon nur aufgrund ihres exakten philologischen Vorgehens (nicht immer in ihren Konklusionen) von nachhaltigem Wert. Häufig hat C. (zuvor) kaum be­ kannte Textstellen aufgenommen und sie unter altertumswis­senschaftlichen und judaistischen Blickwinkeln durchleuchtet. Einige der hier zusam­mengeführten Artikel sind gleichsam zu Klassikern geworden.
Der Band ist in sechs Abschnitte unterteilt: »Jewish Hellenism«, »Josephus«, »Synagogues and Rabbis«, »Conversion and Intermar­riage«, »Women and Blood« sowie »Judaism and Christianity«. Wie die Titel der einzelnen Aufsätze ersichtlich machen, gehen die Themen weit über den jüdischen Hellenismus hinaus und führen so­gar bis ins Mittelalter (Raschi). C. hat die Artikel nicht eigentlich überarbeitet, weist aber gelegentlich selbstlos in hinzugefügten Klammern auf Fehler und (zurückhaltend) auch auf unterdessen er­schienene Bibliographie hin.
Der Artikel, der dem Band den Titel verliehen hat, ist »The Significance of Yavneh: Pharisees, Rabbis, and the End of Jewish Sec­-tarianism« (44–70) [ursprünglich 1984 erschienen]. C. widerspricht hier mit Recht der Ansicht, Javne hätte ein monolithisches pharisäisch-exklusivistisches Judentum hervorgebracht. Jede Mischna-Lektüre muss zur gegenteiligen Einschätzung führen: Offengelassene Widerrede ist ein Leitmotiv der Mischna. Allerdings spricht C. dieser Offenheit wohl eine zu revolutionäre Bedeutung in der jüdischen Religionsgeschichte zu, wenn er schreibt: »For the first time Jews agreed to disagree« (46). Dies stimmt so gewiss nicht: Innerjüdische Dissonanzen sind zuvor z. B. schon bei Philon von Alexandrien (selten auch namentlich: Philon vs. Tiberius Iulius Alexander in De Providentia) und im Grunde natürlich auch im Tanach gut greifbar. C. vermutet, dass mit Javne Disputationen anstelle von unterschiedlichen Strömungen (»sects«) traten. Aber die rabbinische Literatur mag abweichende »Sekten« auch nur totgeschwiegen haben (so M. Goodman).
C. bedauert in der Einleitung, dass er »Ioudaios« in den Artikeln zu oft als »Jew« statt als »Judäer« widergegeben hat, wofür C. in »Ioudaios to genos and Related Expressions in Josephus« (210–223 [1994]) und ausführlicher dann in The Beginnings of Jewishness (Berkeley 1999) plädiert. Dieser Rezensent teilt dieses Bedauern nicht wirklich: Ioudaios ist mit »Jew«/»Jude« zumeist durchaus richtig übersetzt und hat auch vor dem 2. Jh. v. Chr. keineswegs nur eine auf Judäa bezogene Bedeutung (schon im Judenexkurs des Hekataios von Abdera). Das deutsche »Jude« mag allerdings gegenüber dem englischen »Jew« den Vorteil haben, dass die Etymologie des Wortes wie im griechischen Ioudaios noch deutlich hörbar ist.
In »False Prophets (4Q339), Netinim (4Q340), and Hellenism at Qumran« (93–102 [2000]) versteht C. eine Liste mit falschen Propheten und eine mit (schwer verständlichen) netinim aus Qumran als Zusammenstellungen aus der Feder von Gelehrten und damit als Beispiele jüdischen Hellenismus’. Man mag aber zurückfragen, ob solche Listen und darüber hinaus auch chronologische Studien und Kommentare zur Bibel wirklich a priori als »hellenistisch« einzustufen sind bzw. ob solche gelehrten Studien nur unter dem Einfluss des Hellenismus denkbar sind. Aber der Beitrag steht exemplarisch für eine Reihe weiterer in diesem Band zusammengeführter Artikel, in denen C. oft auf brillante Art und Weise kleine Textstellen interpretatorisch zum Blühen bringt: Ein hübsches Beispiel ist gleich der erste Beitrag mit dem Titel »The Beauty of Flora and the Beauty of Sarai« (3–14 [1981]), wo C. ein Epigramm Philodems mit dem Genesis Apocryphon ins Gespräch bringt.
»Masada: Literary Tradition, Archaeological Remains, and the Credibility of Josephus« (133–153 [1982]) ist ein hervorragender Beitrag zur Klärung des literarischen und archäologischen Befunds zu den Geschehnissen auf Masada (verfasst noch vor der vollständigen Publikation der Ausgrabungen unter Yadin). C. stellt die dramatische Erzählung des Josephus in einen größeren historiographischen Kontext, indem er auf 16 vergleichbare Berichte bei griechischen und römischen Historikern verweist. Dabei zeigt sich etwa, dass Josephus’ verständnisvolle Darstellung des Gruppensuizids nicht aus der Reihe fällt, und auch, dass solche Geschichten in der Regel nicht einfach erfunden wurden. Zwar ist, wie Yadins Ausgrabungen zeigten, Josephus’ Bericht in verschiedenen Punkten unge nau – bezüglich der Anzahl der Selbsttötungen und der angeb­lichen Auslosung –, aber »Masada« hat zweifellos stattgefunden.
C. gelingt es auch sonst in einer Reihe von Beiträgen, oft isoliert diskutierte Stellen in den breiteren althistorischen und auch altphilologischen Kontext zu stellen. Hilfreich sind z. B. die Parallelen zwischen der legendenhaften Geschichte von der Begegnung Alexanders mit dem jüdischen Hohepriester und vergleichbaren Ad­ventus-Berichten (165–169, in »Alexander the Great and Jaddus the High Priest According to Josephus«, 162–186 [1982/1983]).
Oft fällt erst im Rückblick ins Auge, dass gewisse Themen eine Zeitlang en vogue waren. C.s Artikel zur Frage einer jüdischen Mission in der Antike (»Was Judaism in Antiquity a Missionary Religion?« (299–308 [1992]) erschien gleichzeitig mit der Monographie von E. Will und C. Orrieux zum Thema (»Prosélytisme Juif«? Histoire d’une erreur, Paris 1992) und kurz vor M. Goodmans Mission and Conversion (Oxford 1994). Zu Recht kamen alle Autoren (mit Nuancen) zum heute wohl allgemein anerkannten Schluss, dass das antike Judentum keine missionarische Religion war. Vereinzelte jüdische Missionare mag es gegeben haben, und Proselyten sind gut belegt, aber ein jüdischer Proselytismus war in der Antike trotz Mt 23,15 höchstens ein marginales Phänomen. C.s knapp gefasste Darlegung liest sich gut in Kombination mit seinem sich auf Josephus konzentrierenden Artikel »Respect for Judaism by Gentiles According to Josephus« (187–209 [1987]).
C.s Stil ist immer gut verständlich und quellennah. Nur selten ufert seine Argumentation unnötig aus: Im Beitrag »Judaism with­out Circumcision and ›Judaism‹ without ›Circumcision‹ in Ignatius« (454–475 [2002]) plädiert C. durchaus überzeugend, aber zu langfädig, dass die Bezeichnung ἀκρόβυστος ᾿Ιουδαϊσμός (»un­beschnittenes Judentum«) in Ignatius’ Brief an die Philadelphier (6,1) Teil eines innerchristlichen polemischen Diskurses ist und nicht als Beleg für eine jüdische Distanzierung von der Beschneidung verstanden werden sollte. Dies ist einer von drei Artikeln zur Thematik der Beschneidung, die C. unlängst in größerem Rahmen in Why Aren’t Jewish Women Circumcised? Gender and Covenant in Judaism (Berkeley 2005) diskutiert hat.
Der Band ruft mitunter auch frühe wichtige Beiträge von C. zu Forschungsgebieten in Erinnerung, in denen sich unterdessen viel getan hat – so im Bereich der antiken Synagoge: »Pagan and Chris­tian Evidence on the Ancient Synagogue« (244–265 [1987]) bleibt ein hilfreicher Überblick über die nichtjüdischen Zeugnisse zur antiken Synagoge, deren Diversität, wie C. zeigt, nicht zu unterschätzen ist.
Man wird selbstredend nicht mit allen Argumenten C.s ein­-verstanden sein. Aber hier liegt zweifelsohne ein reicher, bunter Strauß an Artikeln zum antiken Judentum bereit, den man immer wieder hervorholen wird.