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Ausgabe:

April/1996

Spalte:

387–389

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Peura, Simo

Titel/Untertitel:

Mehr als ein Mensch? Die Vergöttlichung als Thema der Theologie Martin Luthers von 1513 bis 1519.

Verlag:

Mainz: von Zabern 1994. IX, 325 S. gr. 8o = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 152. Lw. DM 78,­. ISBN 3-8053-1538-4.

Rezensent:

Bengt Hägglund

Diese Studie, die überarbeitete Fassung einer Doktorarbeit an der theologischen Fakultät der Universität Helsinki, entspricht und kodifiziert mehrere Tendenzen, die in der neuen finnischen Lutherforschung zum Ausdruck kommen. Dabei liegt aber der Ton nicht nur auf der Feststellung, daß man bei Luther deutlich die altkirchliche, seit Tertullian und Athanasius bekannte Vorstellung von der Vergöttlichung als Ziel der Erlösung wiederfinden kann. Allerdings ist dieser Punkt wichtig, denn die geschickt durchgeführte Darstellung der Forschungsgeschichte, 9-45: Die Vergöttlichung als Problem der Lutherforschung, zeigt uns, wie dieses Thema übersehen oder vernachlässigt worden ist, bis dahin, daß man behauptete, der Gedanke der Vergöttlichung sei bei Luther belanglos. Der Vf. kann jetzt zeigen, daß dieser Gedanke in die Bibeldeutung Luthers und seine Auffassung vom Menschen völlig integriert ist, mindestens soweit man es von den behandelten frühen Schriften her beurteilen kann.

Mit dieser Feststellung verbindet sich nun aber gleichzeitig das Interesse zu zeigen, wie die Rechtfertigungslehre Luthers durch die Vorstellung einer Vergöttlichung des Menschen bereichert wird. Eine gewisse Verwandschaft mit der griechisch-orthodoxen Theologie ist in dieser Gedankenlinie wiederzufinden.

Der Titel "Mehr als ein Mensch" ist ein Ausdruck, der bei Luther hier und da vorkommt. Er konnte auch, was der Vf. jedoch außer acht läßt, die neue Menschenauffassung der Renaissance charakterisieren. Der sachliche Inhalt und der Kontext sind aber in beiden Fällen ganz andersartig. In der Renaissance versteht man diesen Ausdruck so, daß der Mensch in seiner rein menschlichen Hoheit, in seiner Vernunftbegabung und in seinen Leistungen es wert ist, in den Kreis der Götter hineinzutreten. Die Vergöttlichung, von der Luther redet, ist aber keineswegs eine Markierung der natürlichen Hoheit und Ehre des Menschen, sondern geschieht durch die Gnade und setzt die Nichtigkeit des Menschen voraus. Es geht hier um ein Verständnis des Menschen in einem neuen Zusammenhang. "Also mus der Mensch uber fleisch und blut ausgezogen werden und meher dann mensch werden, soll er frum werden", sagt Luther in einem Text von 1519 (WA 2,248).

Damit kann "Vergöttlichung" ­ obgleich der Terminus mehr oder weniger selten vorkommt ­ als eine Beschreibung, parallel zu vielen anderen, des Rechtfertigungsvorgangs, der Heiligung, oder als Ergebnis der Buße gelten. Sehr wichtig ist auch die Betonung, daß die Vergöttlichung im Kontext der "theologia crucis" beschrieben wird, und nicht als eine Form der "theologia gloriae", was sonst naheliegen könnte.

Die Methode der Darstellung ist einfach die, daß der Vf. nach der einleitenden Forschungsübersicht die wichtigen Texte zum Thema im dem Zeitraum 1513 bis 1519 in chronologischer Ordnung behandelt. Dabei kann er einer systematischen Ordnung folgen, da bestimmte Schwerpunkte in den verschiedenen Schriften zu beobachten sind: "geistliche Geburt Christi in uns" (1513-1516), "Rechtfertigung und Gottesliebe" (1515/1516), "Liebe und theologia crucis" (1517-1519). Vorteilhaft ist, daß die Belegstellen in der Regel im Apparat ausführlich zitiert werden. Man kann direkt kontrollieren, wenn P. z.B. überraschende Äußerungen referiert, was bisweilen vorkommt.

Ein Hauptanliegen des Vf.s ist, die Vergöttlichung als ein tatsächliches Vorgehen im Menschen, eine Verwandlung durch die Gnade zu verstehen. Sie kann somit als identisch mit der Rechtfertigung verstanden werden unter der Voraussetzung, daß diese nicht nur forensisch, sondern auch als eine sanative Veränderung aufgefaßt wird. Dieses Anliegen verbindet der Vf. mit einer wichtigen Gedankenlinie in der neuen finnischen Lutherforschung, nämlich die ontologische Dimension in den theologischen Aussagen Luthers zu betonen. Er stützt sich hier z.B. auf Arbeiten von Tuomo Mannermaa und Risto Saarinen. Um diese Hauptlinie in der Lutherdeutung P.s zu verstehen, ist es vor allem wichtig, seine einleitende Forschungsübersicht zu studieren. Er zeigt hier, daß man in der neueren Lutherforschung seit Albrecht Ritschl den Gedanken einer Vergöttlichung in verschiedener Weise umgedeutet und in einen idealistischen Rahmen gestellt hat. Entsprechende Aussagen Luthers werden ­ anders als in der Mystik ­ als Werturteile, als Aussagen einer neuen Relation zwischen Gott und Mensch, als ideologische Wirkung verstanden, oder aber sie werden in ethische Urteile transformiert. Demgegenüber vertritt der Vf. die Meinung, daß die Vergöttlichung ganz einfach, wie sie dargestellt wird, als eine vorhandene Tatsache, oder um mit dem Terminus des Vf.s zu reden, "real-ontologisch" verstanden werden muß, will man dem Gedankengang Luthers gerecht werden.

In dieser Ablehnung des "ideologischen Irrtums" ­ wenn man es so nennen darf ­ liegt eine weltanschaulich begründete Kritik, die natürlich auch auf viele andere Teile der Lutherforschung oder generell auf die Deutung des Christentums verwendbar ist. Der ideologische Irrtum ist ein gemeinsamer Zug vieler heutzutage vorkommenden Deutungen theologischer Aussagen. Soweit es um eine Deutung der Tradition geht, bedeutet das, daß man den Charakter der damaligen "realistischen" Wirklichkeitsauffassung nicht berücksichtigt hat. P. bringt an dieser Stelle eine wichtige Korrektur ein.

Wie verhält sich dann aber die "real-ontologische" Deutung der theologischen Anthropologie Luthers zu seiner bekannten Ablehnung der aristotelischen Philosophie? Der Vf. greift dieses Problem nicht direkt auf, zitiert aber, wie Luther bisweilen bewußt eben die aristotelische Terminologie in seiner Argumentation benutzt, obwohl er in anderen Zusammenhängen dieselbe Philosophie kritisieren kann (vgl. z.B. 222). Was hier übersehen wird ist, daß Luther die antike Wirklichkeitsauffassung, die in der aristotelischen Metaphysik in formeller Sprache beschrieben wird, als selbstverständliche Voraussetzung teilt und deshalb auch aristotelische Termini als adäquate Instrumente verwenden kann. Es kann sein, daß Luther die ursprünglichen aristotelischen ontologischen Termini sehr gut von ihrem scholastischen Überbau zu unterscheiden wußte. Daß er die damalige Philosophie scharf kritisierte, hat andere Gründe.

Es ist eines der Verdienste der Arbeit von P., auf dem Gebiet der theologischen Anthropologie die ontologische Problematik unter Ablehnung ideologischer Irrtümer so eingehend und in geduldiger Analyse geklärt zu haben. Mit Recht betont er zum Schluß: "Es dürfte weiterhin Aufgabe der Forschung sein, diese ontologische Problematik auch in anderen Bereichen von Luthers Theologie zu erkennen, zu durchleuchten und zu adäquater Darstellung zu bringen" (302).