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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

657–659

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Burkert, Walter

Titel/Untertitel:

Kleine Schriften IV. Mythica, Ritualia, Religiosa 1. Hrsg. v. F. Graf.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. VIII, 337 S. = Hypomnemata. Supplement-Reihe, 2/4. Geb. EUR 79,99. ISBN 978-3-525-25277-2.

Rezensent:

Otto Kaiser

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Burkert, Walter: Kleine Schriften V. Mythica, Ritualia, Religiosa 2. Hrsg. v. F. Graf. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. VIII, 261 S. = Hypomnemata. Supplement-Reihe, 2/5. Geb. EUR 64,99. ISBN 978-3-525-25278-9.


Die zwei von seinem Schüler Fritz Graf unter dem Titel »Mythica, Ritualia, Religiosa« herausgegebenen Bände IV und V der »Kleinen Schriften« des emeritierten Zürcher Altphilologen Walter Burkert sind in die Abteilungen A Mythos (Bd. 1, 3–156), B Religion (Bd. 1, 157–326) und C Ritual (Bd. 2, 3–251) und ein jeweils vierfaches Register (Bd. 1, 327–337 und Bd. 2, 253–261) gegliedert.
In Band 1 sind sieben Aufsätze aus den Jahren 1960 bis 2005 dem My­thos, acht aus den Jahren 1983 bis 2004 der Religion gewidmet. In Band 2 befassen sich 14 Aufsätze aus den Jahren 1970 bis 2005 mit dem Ritual. Mithin lassen sich die hier versammelten Beiträge wie ergänzende oder weiterführende Randbemerkungen zu füheren Arbeiten lesen, weisen aber teilweise – wie z. B. der TRE-Artikel über »Die Griechische Religion« aus dem Jahr 1985 – auf die 2. Auflage seiner »Griechischen Religion der archaischen klassischen Zeit« (RM 15, 2011) hin. Doch abgesehen davon zeugen alle hier versammelten Beiträge ebenso von einer souveränen Kenntnis der Texte des Altertums und ihrer Aus legungsgeschichte wie von einer selten gewordenen Fähigkeit, komplizierte Sachverhältnisse verständlich darzulegen. Ihr Mut zum eigenen, wohl begründeten Urteil fordert den Leser heraus, es ihm auf dem eigenen Felde gleich zu tun.
Für B. als klassischem Philologen stehen verständlicherweise die Riten und Mythen der Griechen und Römer im Vordergrund, wobei die Römer – zumal mit der Äneis Vergils und den Metamor­phosen Ovids – bis in das 19. Jh. hinein dem Abendland die griechischen Mythen vermittelt haben (Bd. 1, 36). Aber er behält auch die wichtigsten anatolischen und vorderasiatischen Texte des Al­tertums sowie das Nachleben griechischer Mythen zur Zeit des Urchristentums und nicht zuletzt die Geschichte des Verhältnisses zwischen der klassischen Philologie und der Theologie im Auge, die sich beide, ihrer einstigen Monopolstellung beraubt, zu geduldiger Zusammenarbeit bei der Aufarbeitung einer wachsenden Zahl von Texten herausgefordert finden. Damit ist bereits gesagt, dass der erneute Abdruck der 1. Jenenser Hans-Lietzmann-Vorle­sung über »Klassisches Altertum und antikes Christentum. Pro­bleme einer übergreifenden Religionswissenschaft« (Bd. 1, 289–326) nicht nur einen einzigartigen Überblick über den Wandel der konkreten Beziehungen zwischen der klassischen Phi­lologie und der Theologie im Laufe der Jahrhunderte bietet, sondern ihn zugleich über die grundsätzlichen Neueinordnungen spätantiker religiöser Phänomene wie der Gnosis und des Manichäismus informiert.
Dass es ein lebendiges Nachleben antiker Mythen zur Zeit des frühen Christentums gegeben hat, kann B. in dem Aufsatz »Kritiken, Rettungen und unterschwellige Lebendigkeit griechischer Mythen zur Zeit des frühen Christentums« (Bd. 1, 135–154) zeigen (u. a. am Beispiel des Simon Magus und einem »Hauptwerk der eigentlichen Gnosis«, den »Apokryphen des Johannes«, dem in die Thomas-Akten eingeschobenen »Perlenlied« und dem von Apuleius überlieferten und zugleich allegorisch-philosophisch ausgelegten Märchen von Amor und Psyche). Damit gibt er zu­gleich ein Beispiel für die künftige Art der Zusammenarbeit zwischen den ihres eins-­tigen Vorrangs beraubten und nun in die Vielzahl anderer Philologien und Kulturwissenschaften eingeordneten Disziplinen.
Die 14 Aufsätze über das Ritual und mithin das Opfer in Band 2, (3–251) lassen sich als Kommentare zu dem in seinen beiden in dieser Hinsicht grundlegenden Abhandlungen »Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen« und »Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion« Ausgeführten lesen, wobei die zuletzt genannte soziobiologische, strukturalistische und semasiologische Ansätze kritisch gesichtet aufnimmt.
Im Ergebnis steht für B. fest, dass die kulturellen Leistungen des Menschen zwar grundsätzlich auf seiner biologischen Eigenart als einem verletzlichen und sterblichen Wesens beruhen, aber darüber hinaus eine eigene Stufe der Entwicklung darstellen. Im Hintergrund dieser These steht die von ihm adaptierte und korrigierte von Karl Meuli (1946) über den Ursprung des Opfers in den Jagdpraktiken des Urmenschen. Sie hat B. zu der fundamentalen Einsicht verholfen, dass seit über 100000 Jahren Männern und Frauen eine spezifische Rolle zugewiesen worden ist und beide als Sterbliche vielen Ängsten, Gefährdungen und schließlich dem Tod ausgeliefert sind, worin sie das Wirken übermenschlicher Wesen er­kannten, die sie mit ihren Opfern gnädig zu stimmen suchten.
Dieses Thema wird in den 14 Aufsätzen des 2. Bandes unter anthropologischen (vgl. z. B. »Anthropologie des religiösen Opfers: Die Sakralisierung der Gewalt«, 3–22) und gesellschaftsgeschichtlichen Aspekten (vgl. z. B. »Opfertypen in der antiken Gesellschaftsstruktur«, 83–96) sowie an konkreten Beispielen (vgl. z. B. »Heros, Tod und Sport. Ritual und Mythos der Olympischen Spiele in der Antike«, 218–230) entfaltet. Die geistige Existenz des Menschen aber wird nicht durch seine Gene programmiert, obwohl seine Probleme auf seiner Eigenart als biologischem Wesen beruhen (vgl. »›Mythos und Ritual‹ im Wechselwind der Moderne«, 231–251, bes. 245). Dass das klassische Rollenspiel von Männern und Frauen derzeit im Zuge der Unterwerfung aller Lebensbezüge unter die Anforderungen des Marktes im Lichte der Forderung der rechtlichen Gleichstellung der Ge­schlechter abgebrochen wird, gehört zu dem Bild einer sich im Fortschreiten befindlichen virtuellen Welt, in deren typischen Le­bensäußerungen ein Historiker, dessen Erinnerung bis zu den An­fängen des Menschseins zurückreicht, das Uralte in neuem Kleid wiedererkennt (247–248).
Aus diesem, in seiner offenen Haltung gegenüber der Zukunft für B. beispielhaften Aufsatz seien hier zum Abschluss seine knappen Auskünfte über die Zusammengehörigkeit von Ritus und Mythos zitiert. Sie mögen paradigmatisch zeigen, dass es sich lohnt, B.s große Abhandlungen ebenso wie seine kleinen Schriften zu lesen, um deren Wiederabdruck sich Fritz Graf und der Verlag verdient gemacht haben:
»Mythen«, so führt B. auf S. 237 aus, »stehen nicht als Fiktionen im Leeren, sondern als normgebende Aussagen in sozialem Kontext. Sie erscheinen nicht als wunderliche – schöpferische oder absurde – Erfindungen, die man von Fall zu Fall als Dichtungen einordnen mag, deren Fortgestaltung man historisch festmachen kann. Mythos als ›traditional tale‹ ist nicht ein Text, auch nicht eine gerade erfundene Geschichte, sondern eine Sinnstruktur, die wie­derholbar und zugleich variabel ist. Parallel dazu bietet ein Ritual ein Zentrum des Wiederholbaren, vielleicht ein Sinnzentrum.« »Für die Rituale ihrerseits«, so fährt er fort, »ergibt sich vom Mythos her ein ›menschlicher Zugang‹, insofern die Perspektive einer – stets anthropomorphen – Erzählung erscheint. […] Zugleich ergibt sich vom Mythos her für das Ritual auch eine ordnende dynamische Struktur, ein ›plot‹.« (vgl. auch Bd. 2, 169–170)