Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

525–536

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Folker Siegert

Titel/Untertitel:

Die »vierte Suche« nach dem historischen Jesus
Zur Einbeziehung des Johannesevangeliums in die Jesusforschung

Ein bisheriger Konsens in allem Fragen nach dem historischen Jesus bestand darin, das Johannesevangelium außer Betracht zu lassen und sich nur bei den Synoptikern, am besten deren ältestem, Markus, Rat zu holen.1 Allmählich wird dieser Usus nun fraglich, seit sich die Einsicht durchsetzt, dass das einzig brauchbare Datum für den Todestag Jesu das johanneische ist: Freitag (so alle Evangelisten) vor der Passa-Nacht (so nur Joh 13,1). Wenn Mk 14,12 sagt: »Am ersten Tag der Ungesäuerten Brote, wo man das Passa schlachtet«, so nennt er in einem Atemzug zwei verschiedene, wenn auch benachbarte, Tage, zwischen denen historische Forschung wird entscheiden müssen.
Seit Albert Schweitzer die Suche nach dem historischen Jesus aufgab und stattdessen ihre Geschichte schrieb,2 sind zwei weitere Anläufe genommen worden, einer noch in Deutschland, der andere (als third quest of the historical Jesus) vor allem in der Anglophonie. Die Jesusbücher von Bultmann (1926), G. Bornkamm (1956), H. Braun (1969) und andere mehr, der zweiten Phase zugehörig, sind hauptsächlich der Bultmann-Schule geschuldet, deren Skepsis in solchen Dingen von Karl Barth noch übertroffen wird, wenn er in KD 4/2, 118 schreibt, wer noch nicht wisse, dass es vergeblich ist, nach dem historischen Jesus zu fragen, der möge »es sich von der kritischen Forschung sagen lassen«3. Beide, er wie Bultmann, berufen sich auf 2Kor 5,16 in der (am Kontext freilich vorbeigehenden) Auffassung, historisches Fragen nach Jesus sei dem Fehler geschuldet, Christus »nach dem Fleische« kennen zu wollen. Diese Position steht der (im vorigen Jahrhundert ja recht modisch gewesenen) Gnosis durchaus näher als dem Evangelium der Inkarnation, dem Vierten, dessen historische Qualitäten erst neuerdings, und dank verfeinerter Methodik, den Berichtsstoff abgeben, woraus der folgende Artikel sich speisen soll.
Nach jenen eben erwähnten Anläufen, die in der Bultmann-Schule bzw. gegen sie unternommen wurden und die theologisch (und darum auch historisch, wenn auch mit schlechtem Gewissen) dem Evangelisten der Passion, Markus, verpflichtet waren, erfolgte besonders in der Anglophonie ein Rückgriff auf das, was die Liberale Theologie in der Gestalt Adolf Harnacks auf der Basis einer Rekonstruktion der Logienquelle Q erstrebt hatte: Dies ist der third quest of the historical Jesus, der die am ehesten authentischen Äußerungen des Nazareners ungeachtet aller nachmaligen Kirchenlehre zu sichern und in der jüdischen Geschichte zu verankern sucht.4 Die Ergebnisse dieses Bemühens konvergieren zu handlichen bis monumentalen Ausgaben,5 die übrigens das Befremdliche an Jesus nicht weniger sichtbar machen, als Schweitzer es an Markus wahrnahm – wenn man denn wissen will, was das »Reich Gottes« sein soll. Schweitzers Zeitgenosse, der aus der Römisch-Katholischen Kirche schließlich exkommunizierte Alfred Loisy, fasste es in das bekannte Dictum: Jésus annonçait le royaume de Dieu, et c’est l’Eglise qui est venue.6
Ein Mangel, den die Zwei-Quellen-Theorie (wonach Mk und Q die Quellen für Mt und Lk gewesen seien) noch immer aufweist, besteht in einem ungeklärten Rest von minor agreements zwischen Mt und Lk, die nicht als Benutzung von Mk oder von Q erklärt werden können, wo nämlich beide von ihrer Vorlage in identischer Weise abweichen. Wir werden darauf zurückkommen, denn auch auf diese Frage zeichnet sich inzwischen eine Lösung ab.

1. Hilfe vom Johannesevangelium? Die Zurückhaltung in der bisherigen Forschung
Hier vorzustellen ist ein neuer Anlauf, der die Ergebnisse der bisherigen quests, auch ihre Methodik, einbezieht, dabei aber zusätzlich das Vierte Evangelium als historische Quelle nutzt. Hier sind besondere Schwierigkeiten zu überwinden, ist doch das Evangelium nach Johannes, wie es offiziell heißt, alles andere als ein Geschichtsbuch. Albert Schweitzer ließ es ganz beiseite, wollte freilich von der (von Harnack 1907 erstmals rekonstruierten) Logienquelle auch nichts wissen, sondern hielt sich an Matthäus (!) und Markus. Hier drücken sich theologische Optionen aus: Schweitzer wollte das Messias- und Leidensgeheimnis Jesu ergründen, historisch (mit Untertitel: Eine Skizze des Lebens Jesu)7 wie übrigens auch medizinisch.8 Harnack hingegen war kein Kreuzestheologe, sondern sah Jesus eher als Weisheitslehrer, wollte jedenfalls lieber aus seinen Worten lernen als aus seinem Scheitern im Prozess vor Pilatus. – Rudolf Bultmann, dessen Arbeiten den »zweiten« Anlauf auslösten, kombinierte in seinem Jesusbuch Markus mit der Quelle Q, freilich ohne ein Kriterium für seine jeweiligen Präferenzen zu haben. Bis heute ist es Geschmackssache geblieben, wie sehr man die synoptischen »Reden« Jesu gewichten will gegenüber seiner hauptsächlich aus Markus bekannten Passion. Die Systematische Theologie hat sich seit Martin Kählers Unterscheidung: Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus9 von der Frage überhaupt abgekoppelt: Geschichtlich wirksam seien doch nur Christusbilder, Darstellungen also, die auch unabhängig von ihrer Fundierung in der Profangeschichte der Antike überzeugen könnten. Man schuf selbsttragende Konstruktionen, um ja nicht in die apologetische Situation zu geraten, sich auf dieses oder jenes Faktum stützen zu müssen.10 Eine »Theologie der Tatsachen« wollte niemand mehr haben; eine »Theologie der Rhetorik« (wie A. F. C. Vilmar die Alternative ablehnend benannte)11 schien willkommener oder jedenfalls menschenmöglich. Heute wäre Vilmars Position bei den Integristen des canonical approach besser aufgehoben als in der historisch arbeitenden Jesus-Forschung – scheinbar. Doch wo der zu seiner Zeit gängige Ausdruck »Heilstatsachen« hermeneutisch in seine Komponenten zerlegt wird, in Tatsachen (die sich immerhin, und trotz allem, finden lassen) und ihre Heilsbedeutung (die sich nur andersartigen Überlegungen erschließt), da kann jener »garstige Graben« überwunden werden, an dem auch das 19. und das 20. Jh. in der Jesusforschung litt.
Anders gesagt: Unabhängig sein von der Menschengeschichte kann die Theologie nur um den Preis, die Inkarnation ihrerseits zu einem selbsterzeugten Gedanken werden zu lassen. Dann analysiert man Jesusgeschichten (im Plural) – pragmatisch, wirkungsästhetisch und wie auch immer –, und man macht sich Jesusbilder, ohne auf ein konkretes Geschehen mit Ort und Zeit verweisen zu können. Da ist dann der Logos doch nicht in die Menschengeschichte eingegangen, sondern tönt an ihr vorbei bzw. tönt aus dem Ungefähren in sie hinein (Theologie der Rhetorik). Dagegen muss denn selbst gegen Bultmann und viele andere aufrechterhalten werden: Dass Jesus gelebt hat, reicht nicht aus, um all die Prädikate auf ihn zu vereinen, die auch die magerste Theologie noch für ihn übrig hat. Bei Bultmanns »Dass des Gekommenseins« kann man nicht stehenbleiben, so wahr keine Begriffswerdung, sondern eine Fleischwerdung Gottes (Joh 1,14) zu erläutern ansteht – und »Fleisch« ist in biblischer Sprache das Zeitliche, Konkrete. Pierre Gibert, hervorragender Kenner der Jesusforschung in der Frankophonie, brachte es auf den schlichten Satz: »Dieu s’est fait chair; donc l’historique est nécessaire«.12 So konstatiert denn auch Joachim Gnilka in seiner Theologie des Neuen Testaments zu der im Katholizismus seinerzeit noch nicht anerkannten (weil gegen den Primat des Mt verstoßenden) Logienquelle ganz gelassen: (Man) »tut gut daran, mit ihr zu rechnen.«13
Es gibt also auch theologische Motive zu der historischen Arbeit, welche die für uns ungewohnte Erzählweise der Jesus-Quellen auferlegt. Solcher durchaus legitimer Geschichtsforschung voraus geht die philologische Arbeit, nämlich die Quellensichtung und -sicherung. Eine solche meinte David Friedrich Strauß sich sparen zu können, als er ein auf den Evangelien als Mythen beruhendes Leben Jesu schrieb (1835), und er hat viele Nachfolger bis heute. Einer Theologie, die sich als Erforschung des frommen Bewusstseins verstand, reicht das. Auch Bultmanns Theologie des Glaubens ist noch immer dieser schleiermacherschen Engführung verpflichtet oder kann so eng gesehen werden. Leider war Bultmann – das muss trotz all seiner Verdienste gesagt werden – kein Historiker.

2. Der Rekurs auf die stemmatische Methode
Woran wir zur Würdigung eines in unseren Tagen stattfindenden Neuanfangs anknüpfen können, ist die gerade drei Jahre nach D. F. Strauß mit ersten Erfolgen einsetzende Literarkritik der Evangelien nach der stemmatischen Methode. Mit dieser von Karl Lachmann (1793–1851)14 zunächst in die Germanistik und in die Geschichtswissenschaft eingeführten, von Christian Gottlob Wilke 1838 in die Theologie übernommenen Methode, die anhand von Entwicklungslinien das Abgeleitete vom Ursprünglichen zu unterscheiden und dabei auch Verlorenenes noch zu postulieren und zu datieren erlaubt, ist seinerzeit der durchschlagende Beweis gelungen, dass von den drei synoptischen Evangelien Markus das älteste ist, als Quelle der beiden anderen.15
Wilke war aber leider »nur« Pfarrer. Als Heinrich Julius Holtzmann, erstmals ein Neutestamentler von Fach, Wilkes Ergebnisse in ein Lehrbuch übernahm,16 hat er zweierlei nicht übermittelt: erstens, dass das Mt kein Autorenwerk ist, sondern eine Gemeinschaftsarbeit (Wilke sagte: »der matthäische Kompilator«); zweitens, dass Mt nicht zeitgleich zu Lk anzusetzen ist, sondern erst an dritter Stelle kommt. Allzu einfach hat er die gleichfalls im Jahre 1838 von dem Philosophen Christian Hermann Weiße17 erstmals postulierte Logienquelle Q auf eine Stufe mit Mk gesetzt und im Stemma dann eine Stufe »tiefer« (= später) Mt und Lk, als wären auch diese beiden voneinander unabhängig. Die Lösung des Rätsels der minor agreements (zwischen Mt und Lk gegenüber Mk, wo in Details doch eine Abhängigkeit besteht) ist lange Zeit dadurch verbaut worden, dass sich in Holtzmanns Gefolge die Zitiergewohnheit »Mk – Mt – Lk – Joh« einschliff. Richtiger wäre »Mk – Lk – Mt«, was auch Burnett Hillman Streeter noch annimmt, derjenige, der 1924 das Problem der minor agreements erstmals benannt hat.18 Er freilich hält den Zeitabstand zwischen Lk und Mt für zu kurz, als dass Mt das Lk schon kennen könnte, und operiert mit noch einigen weiteren postulierten Quellen. Zu keiner Zeit hat die Zwei-Quellen-Theorie alle in ihren Bereich fallenden Fragen beantworten können. Es fehlte ein Stemma, das den Entstehungs- und Überlieferungsgang der neutestamentlichen Jesustraditionen insgesamt nachvollziehbar macht.
Das größte Rätsel waren die Beziehungen zwischen dem Vierten Evangelium und den drei anderen. Seit gewissen Vermutungen Weißes19 wird nun auch für dieses eine Redaktion in Phasen angenommen. Das Joh ist dann nicht einfach das vierte Buch, sondern es entsteht in Parallele zu den anderen, was zu der wichtigen Frage führt, wann diese einzuwirken beginnen. Seine Quellen – so wird spätestens seit Bultmann vermutet – liegen zunächst zeitgleich mit Mk. Die Ausarbeitung zum Evangelium ist dann erst nach Lk und Mt anzusetzen und die Veröffentlichung (nach erneuter Veränderung) nochmals später.
Ein komplettes Stemma der neutestamentlichen Erzählüberlieferungen, das erste wohl in dieser Differenziertheit, ist im Sommer 2011 in Graz vorgestellt worden.20 Es sieht Möglichkeiten vor, wie trotz weiterhin anzunehmender Quelle Q doch auch noch einige Querverbindungen zwischen Lk und Mt verlaufen. Denn alle vier Evangelien sind kirchlich edierte Texte, deren kanonischer Wortlaut Kontaminationen aufweist, nämlich gegenseitige Einflüsse, die auf Editoren- oder gar Schreibertätigkeit zurückgehen. Philologen ist diese Situation vertraut: Kaum ein Stemma stimmt zu 100 %; mit Kontaminationen im Einzelfall ist zu rechnen.
Was nun das Vierte Evangelium betrifft: Dieses gewinnt in dem Maße an historischem Interesse, wie sich seine Quellen herauspräparieren lassen. Zwei Dinge sind dazu nötig:
1. die Binnendifferenzierung des Joh nach Quellen (Zeichenquelle, Passionsbericht) und Zutaten;
2. die stemmatische Verortung dieser Quellen und auch der Zutaten in einem mit den Synoptikern und ihren Quellen gemeinsamen Stemma.

Hinzu kommen folgende Annahmen zur Datierung:
a) Die Joh-Quellen sind etwa zeitgleich mit Q und Mk und damit von beiden Überlieferungssträngen unabhängig;
b) deren Zusammenfügung durch den vierten Evangelisten erfolgte in Kenntnis der drei Synoptiker, aber weitgehend ohne Textübernahmen aus diesen;21
c) die Endredaktion liegt noch später und hat den bisherigen Erzählfaden aufgelöst zugunsten von Stichwortanschlüssen, hat auch die Dialoge »fortgeschrieben« zu Monologen (den von Bultmann irrig als Quelle angenommenen »Offenbarungsreden«).

Die Isolation dieser Quellen ist ein Kunststück »höherer Kritik« (wie die Altphilologie es nennt), der Konjekturalkritik nämlich, die, von Nichtphilologen wie Emanuel Hirsch22 bereits diskreditiert, im neutestamentlichen Fach zurzeit der Verachtung verfällt. (Im alttestamentlichen Fach ist es anders; dort findet Wellhausens Pentateuchkritik anerkannte Nachfolger.) Doch wer je mit den 15 Bänden von Felix Jacobys Fragmenten der griechischen Historiker ernstlich gearbeitet hat (der Schreiber dieser Zeilen war im Rahmen der Josephus-Forschung darauf angewiesen),23 vermag Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsrichtung einzuschätzen, die sich auf Intertextualität mit verlorenen Quellen spezialisiert hat.

3. »Verlorene« Hinweise im Johannesevangelium
Kein Geringerer als Julius Wellhausen ist es gewesen, der, zeitgleich mit dem Kirchenhistoriker Eduard Schwartz, detailliert darauf hinwies, dass das Vierte Evangelium kein Autorentext ist, sondern ein Produkt mehrerer Hände, und dass vor seiner historischen Befragung eine Unterscheidung (zumindest) zweier Schichten nötig wäre. Hirsch griff das auf mit der Vermutung dreier Schichten;24 hier enden aber schon seine Verdienste in dieser Frage. Vergleichsweise überzeugender ist Raymond Browns 1979 unternommener Versuch,25 die Entwicklung der johanneischen Theologie quer durch das johanneische Schrifttum zu verfolgen – das allerdings ohne klare Angabe, welcher Text nun wofür steht, und ohne den Versuch, den einzelnen Stadien dieser Entwicklung einen jeweils zusammenhängenden Joh-Text zuzuweisen. Dass sogar Letzteres möglich ist, wird er gar nicht vermutet haben, und auch Bultmanns vielgelesener Joh-Kommentar26 lässt es nicht erwarten. Es ist aber möglich, worin dann mehrere unterschiedliche Arbeitsgänge einander bestätigen.
Aus dem Gang der Joh-Forschung sei hierzu Folgendes erwähnt: Bultmanns quellenkritischen Anregungen folgend, die von Charles Harold Dodd präzisiert wurden,27 veröffentlichte 1970 Robert Fortna in seiner Doktorarbeit den Versuch einer vollständigen Herauslösung des nichtsynoptischen Quellenmaterials aus dem Joh,28 auf Griechisch (da an den Worten fast nichts geändert werden musste) mit englischer Übersetzung und Kommentar. Seine These war, dass das Joh in der Hauptsache eine einzige nichtsynoptische Quelle hatte, von ihm »Zeichenevangelium« genannt. Hier verschränkt sich, was Bultmann als SQ (Semeiaquelle, Zeichenquelle) und PB (spezifisch-johanneischer Passionsbericht) bezeichnete. Dieser Versuch wurde zwar weitgehend abgelehnt,29 obwohl er bereits einige Übersicht schafft: Von den zahlenmäßig nicht festgelegten Jerusalem-Aufenthalten Jesu im kanonischen Vierten Evangelium30 bleiben noch zwei übrig. Das ist aber, wie man inzwischen sagen kann, immer noch einer zu viel.31 Dabei wissen wir heute, dass das entscheidende Fest einst das Laubhüttenfest war, und da brauchte man nicht mehrmals anzutreten, um sich als Messias zu qualifizieren – oder eben zu disqualifizieren.
Wichtig war und bleibt an Fortnas Arbeit die Isolierung der ältesten Schicht des Vierten Evangeliums; denn in dieser sind die Orts- und Zeitangaben enthalten, die einer historischen – und nicht nur einer redaktionskritischen – Fragestellung Antwort geben. Nötig war in der Folgezeit nur noch die Ausscheidung des »Deutero-Johanneischen«, nämlich der jüngsten Schicht, in welcher die Dialoge, in der Regel Schöpfungen des Evangelisten, in Monologe ausarten und dann auch wörtliche Anleihen aus den Synoptikern hinzukommen. Die Polemiken gegen die »Juden« und überhaupt gegen die »Welt« und ihren »Herrscher« gehören größtenteils zu dieser jüngsten Übermalung und Umgestaltung, bei welcher die chronologischen und geographischen Hinweise ignoriert wurden (um nur an den wahrhaft »sprunghaften« Übergang von Kapitel 5 zu 6 zu erinnern) zugunsten einer thematischen Ordnung.
Ein Kommentar, der sich auf die mittlere, (nach Bultmann) eigentlich »johanneische« Schicht konzentriert, ist aus der Feder des gegenwärtigen Berichterstatters erschienen, mit dem Prolog beginnend (der in Joh 1,6 f. ein Stückchen des sonst verlorenen Textanfangs der Semeia-Quelle konserviert hat) und mit dem nur leicht erweiterten Schlusssatz derselben Quelle in Joh 20,30 f. endend (20,31b ist vollends johanneisch). Der damit fortgeführte Forschungszweig unterscheidet also bis in die Einzelverse hinein (unter Reserve gelegentlicher Unschärfen) drei Schichten:
1. Die von synoptischen Einflüssen noch freien, mit den Synoptikern mindestens gleichaltrigen Joh-Quellen SQ und PB;
2. die »johanneischen« Stücke, nämlich den Prolog und die ausgeführten Dialoge;
3. die (oftmals polemischen, auch schon gnostisierenden) Erweiterungen, die mit der Neuordnung des gesamten Textes verbunden waren.

Diese Umordnung – das ist die Hypothese – erzeugte erst jene historische Unordnung, die das Joh der neueren Forschung diskreditiert hat.

4. Die Chronologie des Lebens Jesu in den Johannes-Quellen
Ein in allen Phasen der Leben-Jesu-Forschung gleichermaßen auftretender Mangel ist das Fehlen einer chronologischen Ordnung in den kanonischen Evangelien (um von den nichtkanonischen zu schweigen). Verstreute Orts- und Zeitangaben, wie sie insbesondere im Johannesevangelium immer wieder vorkommen, ließen sich bisher nicht ordnen. So war denn eine von Albert Schweitzers Voraussetzungen, dass das Vierte Evangelium bei der Frage nach dem historischen Jesus auszuscheiden habe. Das Johannesevangelium fand deshalb bisher in der historischen Jesusforschung wenig Beachtung.32 Dagegen stehen dann aber Beobachtungen wie das einzige kalendarisch verifizierbare Datum für den Tod Jesu in Joh 13,1 (gegen die unklare Angabe Mk 14,1; ebenso verwechselt Mk 14,12 zwei benachbarte Tage), und ungenutzt blieben die auffallend klaren, archäologisch durchaus verifizierbaren topographischen Angaben.33
Seit Siegfrieds Berglers erneuter Rekonstruktion der SQ im Jahre 2010 ist nun ein Ablauf des öffentlichen Lebens Jesu erkennbar, der Jesu Jerusalem-Besuche nicht mehr einseitig auf das Passa konzentriert, sondern seinen Einzug in Jerusalem auf das aus allen Anzeichen ja klar zu erkennende Laubhüttenfest legt. Kein Geringerer als Ernst Lohmeyer hat das bereits gesehen.34 Dorthin gehören schließich die Palmzweige (lulavim) und das Halleluja-Singen. In Zeiten des Zweiten Tempels war das das jährliche Hauptfest, war auch (seit Sach 14) am stärksten mit messianischen Erwartungen aufgeladen.
Hier liegt, noch immer im Bereich der SQ (die noch drei Jerusalemer »Zeichen«-Geschichten Jesu parat hat), die Scharnierstelle zwischen dem galiläischen und dem judäischen Wirken Jesu. Die Salbung in Bethanien ist dann keiner der vorjohanneischen Quellen zuzuschreiben, sondern bereits Übernahme aus den Synoptikern, und mit dem Synhedriumsbeschluss von Joh 11,47 (später gibt es dann keinen mehr) setzt der PB ein, die letzten Wochen vor dem – von Jesus nicht mehr lebend erreichten – Passa beschreibend.
Diese chronologische Grundstruktur des Ganzen, mit Peripetie am Hauptfest des einstigen Sakraljahres, stimmt auffallend genau überein mit der von Irenaeus (2, 22,5) aus johanneischer Tradition mitgeteilten, von ihm aber nicht geglaubten Nachricht, wonach das öffentliche Wirken Jesu sich im Zeitraum eines einzigen Jahres abgespielt habe. Diese Angabe wird umso glaubwürdiger, je mehr man die eschatologische Dringlichkeit eines »Tut Buße, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen« ernst nimmt.35

5. Der Fourth Quest in den Vereinigten Staaten
In den Vereinigten Staaten hat Paul N. Anderson neuerdings wieder für eine stärkere Einbeziehung des Joh in die Jesusforschung plädiert und umfangreiche Problemanzeigen und Sammlungen von Einzelbeobachtungen veröffentlicht.36 Im zweiten Band der bisher dreibändigen Reihe, benannt The John, Jesus, and History Project (2009, 29) spricht er von einem fourth quest of the historical Jesus, ebenso in der entsprechenden Internet-Plattform: A Fourth Quest for Jesus … So What, and How So?37 Er versucht jedoch, ohne ein Stemma auszukommen, und bezeichnet die Verhältnisse zwischen den vier Evangelien pauschal als interfluentiality (ebd., 14–16). Sein Anliegen insgesamt nennt er eine bi-optic hypothesis (ebd., 11–28). Er blickt also »hin und her« zwischen synoptischen und johanneischen Texten, vermeidet dabei immerhin die einstige Harmonistik, hat aber keine Kriterien für die Herleitung der Unterschiede. Damit ist das von Lachmann bezeichnete methodische Niveau noch nicht erreicht.

6. In Deutschland: Rückgriff auf die stemmatische Methode
Was Lachmann seinerzeit an divergierenden Handschriften gleichen Inhalts studierte, Textflüsse nämlich, und womit er Wilkes Forschungen einst auslöste, das ist es ja auch, was sich zwischen den Überlieferungsträgern des Urchristentums beobachten lässt. Die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen aus einander hervorgehenden Texten verlaufen nämlich nach ähnlichen Regeln in mündlichen wie in schriftlichen Texten. Überlieferungsgeschichte, Literarkritik und Textkritik bzw. Codicologie sind allesamt, wenn auch im Detail unterschiedlich, auf Stemmata angewiesen, wo immer die Lage unübersichtlich ist und eine zeitliche (auch räumliche) Differenzierung sich anbietet. Nur muss man im Stadium der Mündlichkeit mit rascheren Veränderungen rechnen, je nach Gattung des Textes; denn Metren oder sonstige strengere Formen, etwa die des Apophthegmas, schützen ihn natürlich. Auch hat die Schriftlichkeit ihre charakteristischen Fehler gegenüber der Mündlichkeit, und umgekehrt.38
Statt die Textflüsse im Detail zu ermitteln, die zwischen den Jesusberichten des Neuen Testaments und ihren einzelnen Teilen verlaufen, wird punktuell das Vierte Evangelium herangezogen unter der Frage, ob es etwas historisch Glaubwürdiges biete. Das ist schon mehr, als bisher geschah, doch könnten Andersons Bände (und werden wohl auch) noch um vieles länger werden, solange man sich damit aufhält, alles mit allem zu vergleichen. Insbesondere ist ohne Rückverfolgung der Textflüsse und ohne Rückbau der dabei fragmentierten Vorgängertexte nichts wie eine Chronologie des öffentlichen Wirkens Jesu zu ermitteln.
Was einem fourth quest allererst die nötige Grundlage geben kann, ist eine klare Darstellung der joh Quellentexte, auch wenn diese nach der bisherigen Quellenlage konjektural bleiben muss, und die Rückgewinnung des Itinerars Jesu, soweit sich dieses darin finden lässt. Wenn an Bultmanns Annahme einer Semeia- oder Zeichenquelle (SQ) für die Zeichen- oder Wunder-Geschichten und eines von den Synoptikern unabhängigen Passionsberichts (PB) etwas dran ist, bekommen wir immerhin Texte von jeweils ca. 200 Zeilen Länge zu fassen, deren Zusammenhänge über das in den mk Perikopen Gebotene weit hinausgehen – das zumindest für alles bis zur Passion hin zu Berichtende. Doch auch die Zeichenperikopen, so sehr sie in sich vielleicht schon summarisch sind, überliefern, wenn der Erfolg bisheriger Rekonstruktionen nicht täuscht, ein Itinerar Jesu, das weniger konstruiert wirkt als das des Markus, bedient es sich doch der innerhalb der Perikopen verankerten Zeit- und Ortsangaben und der impliziten Querverweise.39 Siegfried Bergler hat sich dieser Mühe im Detail unterzogen. Es ist vor allem seine Rekonstruktion der Zeichenquelle, die in der Folge eine Synopse der vorkanonischen Jesusüberlieferungen möglich machte,40 auf deren Grundlage wiederum ein Leben Jesu mit dem Anspruch chronologischer Plausibilität geschrieben werden konnte.41 Fallen gelassen wurde gegenüber Bultmann die Annahme einer dritten Joh-Quelle, nämlich der proto-gnostischer »Offenbarungsreden«. Anzunehmen ist hingegen eine wohlbedachte Rezeption der Synoptiker, insbesondere des Lk, seitens des vierten Evangelisten.

7. Weitere Versuche
Andere Versuche, über Jesus zu schreiben, hat aus deutsch- und englischsprachiger Literatur der letzten Jahrzehnte Hans-Heinrich Schade42 in einem Überblick zusammengeführt. Daraus soll hier nichts wiederholt werden, und die fast stets43 an den Synoptikern orientierten Arbeiten, ja Lehrbücher von Theißen und Merz,44 zuletzt auch das (wenig homogene, nur in einer Aufsatzsammlung bestehende) Handbook of the Historical Jesus von Tom Holmen und Stanley Porter (2011) braucht hier nicht ausgewertet zu werden: Nirgends wird dort auf der Grundlage eines lachmannschen Stemmas gearbeitet, und das Johannesevangelium bleibt ganz am Rande.45
Unter denjenigen, die sich stärker auf das Johannesevangelium stützen, ist der Kirchenhistoriker Peter Leander Hofrichter zu nennen.46 Er vermutet, alles bisher Genannte übersteigend, ein vorsynoptisches Evangelium im Joh, beansprucht jedoch nicht, dieses herauslösen zu können; zu sehr sei es in die späteren Schichten eingearbeitet worden. Ein Stemma, anhand dessen einzelne Perikopen oder gar Verse sich zuordnen ließen, resultiert hieraus nicht, und auch das chronologische Problem bleibt ungelöst. – Über die noch davor liegenden, gedankenreichen Arbeiten von Klaus Berger kann hier nicht berichtet werden:47 Diese weichen stark ab von rezipierten Meinungen, experimentieren darum auch mit einem »frühen« Johannes, bedienen sich aber nicht der stemmatischen Methode.

8. Die Johannes-Quellen und der künftige fourth quest
Klarer werden die Ergebnisse, wenn man die eine schlicht hinter die andere setzt, womit – um den Hauptvorteil hier nur anzudeuten – der Einzug Jesu in Jerusalem und der Konflikt am Tempel weder am Anfang seines Wirkens (so, unglaubwürdigerweise, im kanonischen Joh, Kapitel 2) zu stehen kommen noch kurz vor der Passion (wie im Mk und in dem liturgischen Brauch der teleskopartig Jesu Lebensende zusammenziehenden Karwoche). In Berglers Rekonstruktion der Zeichenquelle (mit Unterbrechungen von Joh 1,6 f. bis 11,44 reichend) und ihrer beinahe nahtlosen Fortsetzung im Passionsbericht (11,47.53 ff. und mit Unterbrechungen weiter über 13,1 bis 20,20) ergibt sich ein Ablauf, der zunächst einmal die vielen Sprünge im edierten Joh-Text heilt. Hierbei kommt der kritischen Arbeit zustatten, dass die Orts- und Zeitangaben der johanneischen Perikopen meist in diese integriert sind und nicht, wie bei Mk überwiegend, rahmende Zutaten.
Ist aber diese Wiederherstellung der Joh-Quellen gelungen, so zeigt sich eine bisher ungenutzte Möglichkeit der Leben-Jesu-Forschung. Die so wiedergewonnenen Erinnerungen an Jesus – sie sind im Gegensatz zur Quelle Q großenteils narrativen Charakters – fügen sich zusammen zu einem einzigen Jahr48 des öffentlichen Wirkens Jesu:
– Beginn: Frühjahr des Jahres 29 n. Chr. (s. u.) als Datum der Taufe Jesu im Jordan (vgl. Joh 3,23: »viele Wasser«);
– ein in Galiläa, zum Teil auch im Ostjordanland, verbrachter Sommer bis hin zum Laubhüttenfest (Joh 7; vgl. Mk 9,2);
– das Tempelweihfest im Winter (Joh 10,22 ff.);49
– vorletzter Tag: die Vorbereitung auf die Passa-Nacht,50 Abendmahl (Joh 11,55; 13,1 ff.; Mk 14,12–31; das Datum in Mk 14,1 steht in Widerspruch zu 14,12);
– Ende: Der Tod Jesu am Tag des Schlachtens der Passa-Lämmer (Mk 14,12; vgl. 1Kor 5,7) und an dem Tag, auf welchen (nach dem Sonnenuntergang) der erste Frühjahrsvollmond folgt (dies ist der 14. Nisan im jüdischen Kalender). Da es nach übereinstimmenden Angaben ein Freitag war (Joh 19,31; Mk 15,42 parr.), bleibt in der fraglichen Zeit zwischen 27 und 33 n. Chr. nur das Jahr 30; der Tag ist genau bestimmbar: Nach gregorianischem Kalender ist es der 7. April 30 n. Chr.;51
– der Synchronismus von Lk 3,1 erhält damit seine Bestätigung: Dort liegt der Beginn des Wirkens Jesu im 15. Jahr des Tiberius (Regierungszeit 14–37 n. Chr.), also im Jahr 29 n. Chr.

Unter den Vorteilen dieser Rekonstruktion ist jedenfalls auch dieser, dass keine aus den Synoptiker-Quellen gewonnenen Einsichten verneint werden. Alles im dritten Anlauf der Jesusforschung Gewonnene darf gelten; etwaige Differenzen sind rückführbar auf Ansichten oder Akzentsetzungen einzelner Evangelisten. So hat schon Markus, der Theologe der Passion, das Leben Jesu auf ein einziges Tempelfest, das Passafest, zulaufen lassen, als hätte nur dieses einen Platz in seinem öffentlichen Wirken gehabt. Die Endredaktion des Joh hat diesen Effekt vervielfacht. Nur eine sehr kritische Philologie weiß heute noch (oder wieder), dass »das Fest der Juden« (Joh 5,1, erläutert in 7,2),52 das Tempelfest schlechthin, nicht das Passa war (wie nachmals im Rabbinat, wo dann noch zusätzlich der Versöhnungstag an Bedeutung gewann), sondern das Laubhüttenfest. Das schadet einer Theologie des Kreuzes in keiner Weise, lässt aber genug Zeit – ein halbes Jahr nämlich –, um den Stimmungsumschwung zwischen »Hosianna« und »Kreuzige ihn« zu erklären – um nur eines von vielen Rätseln zu erwähnen, zu denen sich jetzt, beim Ausbruch aus synoptischen Engführungen, die Lösung anbietet.


Summary
After three methodically different efforts to ascertain our knowledge of what Jesus said and did, »quest« that belonged to three different epochs of New Testament scholarship, this »fourth quest of the historical Jesu« is to complement the three others by what we can get out of the Fourth Gospel, including its somewhat recognisable sources.

Fussnoten:

1) A. Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906, 1913 u. ö.), 1951; dort S. 130 der Konsens, »daß das vierte Evangelium für den Aufbau des Lebens des Herrn ausgeschaltet wird«. Das geht bis dahin, dass H. Frhr. v. Campenhausens kritisch gemeinte Akademie-Abhandlung Der Ablauf der Osterereignisse und das leere Grab (1952; 2. Aufl. AAH 1958/2) die galiläische Lokalisierung der Ostervisionen unbesehen übernimmt, obwohl er die redaktionelle Tendenz ja kennen müsste, in welcher das Mk für alles positiv Gewertete Galiläa den Vorzug gibt. Lehrbücher der Jesusforschung wie Theißen/Merz (s. Anm. 44) lassen das Joh beiseite.
2) Der eben angegebene Titel gilt seit der 2. Auflage.
3) Zu vermitteln versucht E. Schweizer: Jesus, das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu?, Göttingen 1994, und besteht nun gerade als reformierter Theologe auf einem Ernstnehmen der Inkarnation dergestalt, dass die Geschichtsforschung doch Relevantes über Jesus müsse sagen können – bei ihm noch hauptsächlich aufgrund der Synoptiker.
4) Einer von vielen Rückblicken über diesen Forschungzweig wird als Kongressband erscheinen unter dem Titel Q auf dem Prüfstand (hrsg. v. Ch. Heil), aufgrund einer Tagung in Graz 20.–23.7.2011. Vgl. unten Anm. 20.
5) Um nur die zwei praktischsten zu nennen: J. Kloppenborg (Hrsg.): Q Parallels. Synopsis, Critical Notes and Concordance, Sonoma (Calif.). 1988 (u. ö.); Die Spruchquelle Q. Studienausgabe. Griechisch und Deutsch, hrsg. v. P. Hoffmann/Ch. Heil (2002), 3. Aufl. 2009. Jeweils wird der griechische Text gegeben (bei Kloppenborg ganz ohne konjekturale Rückbauversuche), eine Übersetzung, Anmerkungen und eine Konkordanz.
6) A. Loisy: L’évanglile et l’Eglise, 2. Aufl., Bellevue 1903, 155.
7) Tübingen 1901 (2. Aufl. 1929). Dies war zugleich das Heft 2 der Reihe Das Abendmahl im Zusammenhang mit dem Leben Jesu und der Geschichte des Urchristentums (H. 1: Tübingen 1901). Richtig erkannt, aber noch nicht voll genutzt, ist hier die Einsetzungsszene des Abendmahls ein Bindeglied zwischen dem historischen Jesus und dem Christus der Kirche.
8) Seine medizinische Dissertation trug den Titel: Kritik der von medizinischer Seite veröffentlichten Pathographien über Jesus, diss. med. Strassburg 1913 (gedruckt Tübingen 1913, 2. Aufl. unter dem Titel Die psychiatrische Beurteilung Jesu. Darstellung und Kritik, Tübingen 1933), und versucht, für die Person Jesu das auszuschließen, was man heute Paranoia nennen würde.
9) So der Titel seines vielzitierten Vortrags, 1892 (u. ö.) in Leipzig erschienen.
10) Schon Johann Gottfried Herder äußerte gegenüber der Bibelkritik der Aufklärung: »Sagte jemand: Die ganze Geschichte ist erdichtet, die Fischer von Kapernaum haben sie erfunden, so würde ich ihm heiter antworten: Dank den Fischern, dass sie eine solche Geschichte erdichtet haben! Meinem Geist und Herzen ist sie Wahrheit.« In: Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen II, II § 39. Gleichzeitig ist Herder es aber, der dem historischen Verständnis der Texte die Bahn brach, indem er eine Metasprache fand für das Subjektive, Poetische an ihnen, u.z. nach orientalischem Sprachgefühl.
11) A. F. C. Vilmar: Die Theologie der Thatsachen wider die Theologie der Rhetorik, Marburg 1856 (u. ö.).
12) Paris 2003, mündlich; zitiert bei Siegert, Leben Jesu (s. u. Anm. 41), 17.
13) J. Gnilka: Theologie des Neuen Testaments, Freiburg u. a. 1994 (u. ö.), 133.
14) Über ihn s. z. B. W. G. Kümmel: Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (1958), 1970, 179–181, oder H. J. Genthe: Kleine Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft, 1977, 98 f.
15) Ch. G. Wilke: Der Urevangelist. Exegetisch kritische Untersuchung über das Verwandtschaftsverhältniß der drei ersten Evangelien, Dresden und Leipzig 1838. Wilke bekräftigte damit eine Intuition Herders: s. Kümmel (wie Anm. 14), 97.
16) H. J. Holtzmann: Einleitung in das Neue Testament, 1885 (u. ö.). Ihm folgte als nächster Bernhard Weiß.
17) Ch. H. Weiße: Die evangelische Geschichte, kritisch und philosophisch bearbeitet, 2 Bde., Leipzig 1838.
18) B. H. Streeter: The Four Gospels. A Study of Origins, 1924. Streeters »vier-Dokumenten-Hypothese« findet hier ein stark verändertes Echo. Wir übergehen andere, kompliziertere Versuche eines Gesamtstemmas der Evangelien, etwa bei F. Neirynck (Hrsg.): Jean et les synoptiques. Examen critique de l’exégèse de M.-E. Boismard (BEThL 49), Leuven 1979, besonders 320 und 365.
19) Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 129–131.
20) Wie Anm. 4, Vorschlag von F. Siegert und V. Wittkowsky. In dem dort gegebenen Gesamtstemma der neutestamentlichen Erzählüberlieferungen wird es möglich sein, mit geringen Änderungen auch eine Proto-Mt-Hypothese zu erproben: Was wir Q nennen, könnte auch eine Vorform des Mt gewesen sein, u. z. der historisch wertvollere Teil von dessen – gegenüber Mk festzustellendem – Sondergut. In jedem Fall bleibt das edierte Mt, schon seines trinitarischen Schlusses willen, das dritte der kanonischen Evangelien.
21) Unter den wenigen Ausnahmen, die der Wörtlichkeit nahekommen, ist die Salbung in Bethanien (Joh 12,1–7), die in sichtlichem Einfluss der lk Fassung geschrieben ist (Lk 7,36–50). Das Nacheinander dieser Frau und der Maria Magdalena in der Folgeperikope (Lk 8,1–3) führt nunmehr zur Identifizierung der beiden Frauen.
22) Emanuel Hirsch: Das vierte Evangelium in seiner ursprünglichen Gestalt verdeutscht und erklärt, 1936. Keine Hilfe bieten Hirschs im selben Jahr veröffentlichten Studien zum vierten Evangelium (Text – Literarkritik – Entstehungsgeschichte), 1936. Was soll man von einem Buch halten, dessen erster Satz mit »ich« beginnt, der zweite auch, der dritte auch, der vierte auch? Eine interpersonell nachvollziehbare Methodik sucht man darin vergebens.
23) Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums (Contra Apionem), Bd. 1: erstmalige Kollation der gesamten Überlieferung (griechisch, lateinisch, armenisch), literarkritische Analyse und deutsche Übersetzung; Bd. 2: Beigaben, Anmerkungen, griechischer Text, in Zus. m. d. Josephus-Arbeitskreis des Institutum Judaicum Delitzschianum, Münster, hrsg. v. F. Siegert (SIJD 6/1.2), Göttingen 2008, besonders Bd. 1, 76 f.: Stemmata der redaktionellen wie auch der durch Kopisten verursachten Veränderungen.
24) Vgl. R. Bultmann: »Hirschs Auslegung des Johannesevangeliums«, EvTh 4 (1937), 115–142, besonders 120 mit Kritik an Hirsch: Der Evangelist liege in der Mitte zwischen Quelle und Redaktion. Trotzdem hielt sich, vor allem in der Anglophonie, die Gewohnheit, mit »Johannes« den Endredaktor zu bezeichnen: So z. B. Th. Brodie: The Quest for the Origin of Johne’s Gospel. A Source-Oriented Approach, New York/Oxford 1993. Quellensuche à la Fortna wird dort abgelehnt als zu unsicher – womit unklar bleibt, was source oriented methodisch heißen soll.
25) R. Brown: The Community of the Beloved Disciple, London 1979. Dort S. 166 ein Diagramm (kein Stemma) der Hauptthesen in der Entwicklung einer Theologie innerhalb der Johannesschule und ihrer vermuteten Gruppierungen. Auf Fortnas literarkritische Analysen wird einige Male verwiesen, ohne dass sie als Hilfe gedient hätten. Auch andere Veröffentlichungen desselben (katholischen) Autors arbeiten mit den literarkritischen Annahmen der Bultmann-Schule, jedoch immer nur ad hoc.
26) R. Bultmann: Das Evangelium des Johannes (MeyerK), Göttingen 1941 u. ö. Dieses noch heute dankbar benutzte Werk ist ein Torso geblieben: Bultmann hat sich nicht erbitten lassen, ihm eine Einleitung beizugeben. Der Zerlegung des kanonischen Textes ist keine neue Zusammensetzung gefolgt.
27) Ch. H. Dodd: The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 1953. Die Präsentation des Joh aufgrund der vorausgesetzten Quellen (SE, PB) auf S. X ist weitaus übersichtlicher als bei Bultmann. Noch ein Stück weiter vorgewagt hat Dodd sich in Historical Tradition in the Fourth Gospel, Cambridge 1963.
28) R. T. Fortna: The Gospel of Signs. A Reconstruction of the Narrative Source Underlying the Fourth Gospel (SNTS.MS 11), Cambridge 1970, 235–240 (= SQ) und 241–245 (= PB).
29) Übernommen wird er hingegen bei F. Siegert: Der Erstentwurf des Johannes, Münster 2004, und dems. (Übers., Komm.): Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt. Wiederherstellung und Kommentar (SIJD 7), 2008.
30) Vgl. Joh 2,13 ff. neben 6,4 ff. und 11,55 ff. Die Evangeliensynopsen früherer Jahrhunderte gingen meist von einem vierjährigen öffentlichen Leben Jesu aus.
31) Er hat von den zahlenmäßig unbestimmten Jerusalem-Reisen Jesu im Vierten Evangelium noch zwei, was eine zu viel ist (so auch noch bei Siegert, Evangelium des Johannes).
32) J. Charlesworth: »The Historical Jesus in the Fourth Gospel: A Paradigm Shift?«, in: Journal of the Historical Jesus 8 (2010), 1–44.
33) Anachronismen sind hierbei freilich nicht auszuschließen. In Joh 5,1–4 (Bethesda), wo zusätzlich die Handschriften stark variieren, scheinen Verhältnisse der Zeit nach 70 n. Chr. in die Schilderung eingegangen zu sein. – Eine glückliche Verbindung von Archäologie und Textforschung ist Bergler, Kana (s. u. Anm. 39).
34) Noch nicht in seinem Mk-Kommentar. Mir ist es aber mit Bestimmtheit aus seinem mündlichen Unterricht überliefert worden.
35) Das Joh hat dieses Detail nicht mehr. Wir müssen uns aller Quellen bedienen, um sie sich gegenseitig erläutern zu lassen. Dies ist noch keine Harmonistik, denn die Unterschiede werden dabei keineswegs überspielt, sondern auf Herkunft und Absicht geprüft.
36) P. Anderson: The Fourth Gospel and the Quest for Jesus, Edinburgh 2007; ders. (Hrsg.): The John, Jesus, and History Project, Atlanta (bzw. Leiden) 2009, ders. u. a. (Hrsg.): John, Jesus, and History, Bd. 1: Critical Appraisals of Critical Views, 2007; Bd. 2: Aspects of Historicity in the Fourth Gospel, 2009; Bd. 3: Glimpses of Jesus through the Johannine Lens, 2011 (im Erscheinen). Über sein Projekt im Ganzen s. Society of Biblical Literature, http://www.sbl-site.org/ und andere, durchaus zahlreiche Websites.
37) Website The Bible and Interpretation (Zugang: 5. April 2011). Vgl. Siegert: Das Evangelium des Johannes (wie Anm. 29), 169, als Ankündigung, noch im Konjunktiv. Ernst Baasland gebraucht seinerseits den Ausdruck fourth quest (in: »Fourth Quest? What did Jesus really want?«, in: Tom Homen/S. Porter (Hrsg.): Handbook of the Historical Jesus, Bd. 1, 2011, 31¬56). Er bietet jedoch keinen neuen Ansatz gegenüber dem Bultmanns (ebd., 40). Sein Vortrag von 2002, auf den er dabei zurückgreift, hat darum den fourth quest noch nicht ausgelöst.
38) Extrembeispiel ist die Erzeugung sinnloser Buchstabenfolgen: Die gäbe es in der Mündlichkeit nicht.
39) S. Bergler: Von Kana in Galiläa nach Jerusalem, 2009. Sein dort wohlbegründetes Ergebnis ist die rekonstruierte Zeichenquelle (427¬441); sie bietet den Weg Jesu von der Taufstelle am südlichen Jordan über Galiläa bis nach Jerusalem.
40) F. Siegert (und S. Bergler, Mitarb.): Synopse der vorkanonischen Jesusüberlieferungen (SIJD 8/2), Göttingen 2010, 23.
41) F. Siegert: Das Leben Jesu. Eine Biographie aufgrund der vorkanonischen Überlieferungen (SIJD 8/2), Göttingen 2010.
42) H. H. Schade: Jesus von Nazareth. Was die Quellen wirklich sagen, 2010, besonders 451–509. Trotz des Untertitels geht auch dieses Buch davon aus, dass nur Jesusbilder erreichbar sind.
43) Unter den Ausnahmen ist K. Berger: Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums, 1997; doch auch diese Arbeit gedeiht zu keinem Stemma.
44) G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, 1996, 3. Aufl. 2001. Noch nicht zugänglich war mir in Münster der Sammelband von P. Foster/A. Gregory/J. S. Kloppenborg/J. Verheyden: Studies in the Synoptic Problem, FS Ch. Tuckett (BETL 239), Leuven 2011, wo auch die minor agreements und das Joh berücksichtigt sind.
45) Vgl. immerhin Anm. 37.
46) P. Hofrichter: Modell und Vorlage der Synoptiker. Das vorredaktionelle »Johannesevangelium« (TTS 6), Hildesheim 1997, 2. Aufl. 2002.
47) Vgl. hierzu Schade, Jesus (wie Anm. 42), 454.
48) Dass dieses Jahr nicht schematisch ist, wie die eine Jerusalem-Reise Jesu im Mk, sondern auf Überlieferung beruht (s. o.: Irenaeus), stimmt nicht nur mit allen erhältlichen Zeitangaben (insbesondere Lk 3,1) überein, sondern es erklärt auch den Singular in Joh 11,49.51; 18,13, wo betont von »jenem Jahr« die Rede ist. Auch Johannes weiß, dass Hohepriester nicht nur ein Jahr amtierten. Sondern er meint jenes Jahr der Wirksamkeit Jesu.
49) Diese kurze, den Synoptikern völlig fremde Notiz scheint keiner der Joh-Quellen anzugehören. Auch seitens des vierten Evangelisten, dem die ersten Erweiterungen von SQ und PB zuzuschreiben sind (außer dem Prolog und überhaupt dem Ausbau vieler Dialoge), dürfte noch über einzelne Erinnerungen verfügt haben.
50) Frühere Forschung hatte die Ungenauigkeit in Mk 14,12 allzu leicht übersehen. Markus (der nie in Jerusalem war) schreibt aus seiner Distanz: »am 1. Tag des (Festes der) Ungesäuerten Brote, wo man das Passa schlachtet«. Das ist nun mal nicht derselbe Tag, sondern es sind zwei aufeinander folgende Tage. Am 14. Nisan schlachtete man die Passalämmer, und am 15. beginnt (mit der Seder-Nacht, die der Übergang ist) das Fest der Ungesäuerten Brote. Beides zusammen konnte »Passa« genannt werden, womit dann insgesamt acht Tage gemeint sein können.
51) Siegert: Das Leben Jesu (wie Anm. 41), 19–22. In Richtung auf diese »johanneische« Datierung des Todes Jesu sammelt sich derzeit der Konsens. Auch der zweite Band von Joseph Ratzingers Jesus-Buch tritt ihm bei, sogar gegen das Votum der deutschen Exegeten, die er zur Vorbereitung befragte.
52) Joh 6,4 hingegen, eine glossierte Stelle, versucht bereits eine Harmonisierung mit der synoptischen Tradition.