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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

631–632

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Wolf, Hubert, u. Judith Schepers[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»In wilder zügelloser Jagd nach Neuem«. 100 Jahre Modernismus und Antimodernismus in der katholischen Kirche.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2009. 705 S. = Römische Inquisition und Indexkongregation, 12. Geb. EUR 94,00. ISBN 978-3-506-76511-6.

Rezensent:

Alf Christophersen

Im Jahr 1871 publizierte Abraham Kuyper, Publizist, Staatsmann und orthodox-calvinistischer Theologe, »Het modernisme een fata morgane op christelijk gebied«. Kuyper griff in seiner kämpferischen Schrift eine in seiner niederländischen Heimat unter dem Begriff Modernismus bereits eingeführte Strömung liberaler Theologie an, die eng mit der Universität Leiden verknüpft war. Aber erst unter römisch-katholischem Vorzeichen wurde der Modernismus-Begriff zur zentralen Denunziationsformel für theolo­gische Illegitimität und Häresie und dann aber auch zum pointierten Ausdruck positionellen Selbstverständnisses. Besonders charakteristisch für den Modernismus ist, dass er nicht nur als Ausdruck individueller Entwicklungsprozesse in einzelnen Ländern verstanden werden kann, sondern vielmehr als ein übergreifendes gesamteuropäisches Phänomen. Der äußerst einflussreiche Publizist und Kurienbeamte Umberto Benigni ließ in Rom nichts unversucht, um den als Gefahr für die unfehlbare päpstliche Deutungshoheit identifizierten Modernismus zurückzudrängen. Überkon fessionelle Einheitsbestrebungen kämen im Modernismus in zerstörerischer Form zum Ausdruck, ebenfalls aber auch Agnostizismus, Immanentismus, rationalistische Bibelkritik, ein subjektivistisches Glaubensverständnis, das die Gemeinschaft destruiere, und durch säkulare Philosophie beeinflusste Politik- und Sozialauffassung, die als reformistisch zu gelten habe. Der ge­schickt inszenierte Konfrontationskurs steuerte dann auf das Jahr 1910 zu, in dem der gesamte Klerus auf den »Antimodernisteneid« festgelegt wurde. Erst 1967 kam es zu einer Aufhebung dieses massiven Disziplinierungsversuchs, und zwar als ein Ergebnis des Zweiten Vatikanums. Bis heute sind die binnenkatholischen Auseinandersetzungen um den Modernismus virulent und flackern gerade in den Abgrenzungsversuchen von der Piusbruderschaft und den Fragen nach Status und Geltung des Konzils in einer sich immer deutlicher pluralisierenden Welt mit ganz eigener Dynamik an verschiedenen Orten auf.
Der von Hubert Wolf und Judith Schepers herausgegebene Sammelband »In wilder zügelloser Jagd nach Neuem« dokumentiert die Ergebnisse eines Symposiums, das im Oktober 2006 am Comer See, in der Villa Vigoni, stattgefunden hat. Als äußerer Anlass dienten das Dekret Lamentabili und die Enzyklika Pascendi dominici gregeris, die 100 Jahre zuvor veröffentlicht worden waren. Vor allem in Kontinuität zum 1864 von Pius IX. verantworteten Syllabus stellte Pius X. nun mit Nachdruck heraus, dass der Modernismus als irreführende Haltung gelten müsse, die unzulässige Kritik an der Neuscholastik übe und somit kirchliche Autorität und Tradition unterwandere. Beide Texte, so Wolf, »markieren den Höhepunkt einer Entwicklung, in der die Römische Kurie jeglichen Reformbestrebungen in der Kirche und allen ›modernen‹ Erscheinungen wie der historisch-kritischen Exegese und den Gedanken einer Dogmenentwicklung den Kampf angesagt hatte« (9). In beeindruckender Dichte und Multilingualität wird im Tagungsband das (Anti-) Modernismusphänomen beschrieben und gedeutet. Drei Hauptkapitel geben den 27 Einzelbeiträgen eine grobe Struktur vor: Auf »Modernismus und Antimodernismus. Archive und Projekte« (13–75) folgen »Modernisierer, Modernisten, Antimodernisten. Fälle und Profile« (77–489) sowie »Sanctum Officium und Indexkongregation in der Modernismuskrise. Deutsche Modernisten auf dem Index« (491–685).
Das erste Kapitel fällt recht schmal aus und liefert lediglich einige knappe Einzelinformationen (»Fondi dell’Archivio Segreto Vaticano relativi al modernismo«, »Modernisti e Antimodernisti sul tavolo di Pio X«, Alejandro Mario Dieguez; »La Fondazione Ro­molo Murri«, Lorenzo Bedeschi; »The Roman Catholic Mondernism Group of the American Academy of Religion«, Darrell Jodock).
Deutlich produktiver fällt demgegenüber das zweite Kapitel aus. Weniger an zentralen Leitthemen als vielmehr personenorientiert schlägt es in 21 Aufsätzen Schneisen in das (Anti-)Modernismus­dickicht. James C. Livingston etwa präsentiert »George Tyrrell as ›Modernist‹: His key theological principals and his replies to his anti-modernist Critics«, und Claus Arnold »Alfred Loisy als taktisches ›Opfer‹ gemäßigter Kräfte in der Römischen Kurie«. Mit der Zeitschrift »Hochland« und ihrem Herausgeber Karl Muth befasst sich detailreich Jan Dirk Busemann: »›Haec pugna verum ipsam religionem tangit.‹ Römische Indexkongregation und deutscher Literaturstreit«, Otto Weiß konzentriert sich auf »P. Thomas Esser, Sekretär der Indexkongregation« und Paolo Marangon zeichnet die Verurteilung von Antonio Fogazzaros Roman »Il Santo« von 1905 durch die Indexkongregation nach. Klaus Unterburger greift unter der Überschrift »Für Familie, Staat und Religion. Der Antimodernismus Umberto Benignis (1862–1934) zwischen Pius X. und Benito Mussolini« instruktiv Facetten eines Wechselspiels von italie­nischem Faschismus und antimodernistischer Kritikbildung auf – leider bleibt aber auch vieles nur im Andeutungsbereich stecken.
Im dritten Kapitel liefert J. Schepers eine »Dokumentation der römischen Zensurverfahren gegen deutschsprachige Publikationen (1893–1922)« (525–685). Zusammen mit H. Wolf stellt sie einen verhältnismäßig kurzen analytischen Kommentar voran (493–523): Die Buchzensur erscheint »als wichtige Waffe des Lehramtes gegen den Modernismus« (521), die allerdings letztlich nur über eine begrenzte Durchschlagskraft verfügte.
Deutlich lassen bei aller Fragmenthaftigkeit die Einzelbeiträge in ihrer Summe den umfassenden Charakter der Modernismusproblematik hervortreten, in der allgemeine Wissenschaftskritik, Literatur, Kunst, Philosophie, (Kirchen-)Politik und Theologie un­trennbar ineinander verwoben sind. Dieser Synthesecharakter wird allerdings von den hier vertretenen Autoren und den Herausgebern kaum betont. Dies mag mit einem erkennbaren Theorie­defizit zusammenhängen, das sich im gesamten Band bemerkbar macht, den Band durchzieht und gerade in der vorherrschenden Konzentration auf biographische Einzelstudien zum Ausdruck kommt. Um das Wesen der Spannung zwischen Modernismus und Antimodernismus angemessen erfassen zu können, wäre es unbedingt erforderlich, auch die Diskurslagen in ihrer Verschränkung mit den theologischen, philosophischen und politischen Debatten der Zeit zu erfassen, denn die als krisenhaft wahrgenommenen Erschütterungen waren und sind ein gesamtgesellschaftliches Phä­nomen.