Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/1996

Spalte:

384–387

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Oberdorfer, Bernd

Titel/Untertitel:

Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. XVI, 570 S. gr.8o = Theologische Bibliothek Töpelmann, 69. Lw. DM 278,­. ISBN 3-11-014595-2.

Rezensent:

Andreas Arndt

Die hier im Druck vorgelegte Münchener Dissertation (bei Jan Rohls und Trutz Rendtorff) von 1993 stellt sich "eine doppelte Aufgabe: sie rekonstruiert zum einen die Theorieentwicklung des jungen Schleiermacher bis zu den ’Reden’ nach Maßgabe des sozialtheoretischen Leitinteresses der Erfassung realer Intersubjektivität" (10); zum anderen will sie "das die Theorieentwicklung vorantreibende Leitproblem so abstrakt und zugleich elementar" formulieren, "daß es auf der einen Seite auf die sozialtheoretische Ausgangskonfiguration bezogen bleibt, auf der anderen Seite aber in den Bearbeitungen vorstellungstheoretischer und ontologischer ’Grundlegungsfragen’ identifiziert werden kann" (11). Dieses Vorhaben einer sowohl historischen wie auch systematischen Rekonstruktion ermögliche es, "das Denken des jungen Schleiermacher als eigenständigen Beitrag in der gegenwärtigen ethischen und sozialphilosophischen Diskussionslage zu verorten", sofern diese ­ ebenso wie Schleiermachers Konzept ­ sich zwischen "Theorien ’aristotelischen’ und ’kantischen’ Typs" bewege, wobei der "Gegenwartsbezug" in dem Buch "nicht selbst entfaltet, sondern durchgängig vorausgesetzt" wird (20).

Sein ambitioniertes Vorhaben will der Vf. dadurch realisieren, daß er "gewissermaßen induktiv der Sequenz der Texte" nachgeht (522, Anm.), d.h. alle überlieferten Schriften und Entwürfe bis 1799 einbezieht, soweit sie in der 1. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe (KGA) vorliegen, und diese in ihrer chronologischen Folge zugleich als Entwicklung und Differenzierung einer systematischen "Leitkonzeption" durchsichtig macht. Die Predigten werden jedoch "nur ausnahmsweise", die Briefe "nur zur zusätzlichen Erläuterung" herangezogen, was mit dem "Interesse, eine Theoriekonfiguration in ihrer Entwicklung zu rekonstruieren", gerechtfertigt wird (12).

Dieses Programm setzt der Vf. in einem minutiösen Durchgang durch die einschlägigen Texte um, wobei auch diejenigen ausführlich erörtert werden, die bisher in der Forschung noch kaum berücksichtigt wurden, wie z.B. die frühen Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachische Ethik 8-9 (1788), die Abhandlungen Über das Naive (1789), Über den Stil (1790/91) und Über den Wert des Lebens (1792/93), aber auch Gelegenheitsarbeiten wie Über den Geschichtsunterricht (1793) und Philosophia politica Platonis et Aristotelis (1794). Die Arbeit ist in sechs Teile gegliedert ("Freundschaft", "Sittlichkeit", "Lebenssphären", "Metaphysik des Endlichen", "Geselligkeit", "Ausblick"), deren Überschriften die "Ausstrahlung" (14) und systematische Realisierung einer in den Aristoteles-Anmerkungen angelegten "Konzeption der wechselseitigen Kommunikation von (eigener und fremder) Individualität" (461) anzeigen sollen. Im Ausgang von dieser "Leitkonzeption" erscheinen dann die anderen Texte "einerseits als Erarbeitung der dieser Konzeption immanenten Theoriegrundlagen, andererseits als (materiale) Entfaltung und Ausdifferenzierung von Phänomensphären und entsprechenden Wissenschaftsbereichen, die Implikate, Erweiterungen oder kontrastierende Präzisierungen jener sozialtheoretischen Ausgangskonfiguration darstellten" (ebd.).

Diese Leitkonzeption wird mit einem erheblichen interpretatorischen Aufwand an Anmerkungen des Studenten Schleiermacher festgemacht, die eng auf den aristotelischen Text bezogen sind und zum Teil Hinweise seines Lehrers Johann August Eberhard wiedergeben. Zwar kann der Vf. im Ergebnis davon überzeugen, daß in diesem Geflecht eigenständige Ansätze Schleiermachers aufzuweisen sind, fraglich bleibt jedoch, ob damit die forcierte Systematisierung solcher Annotationen zu einer "Leitkonzeption" schon gedeckt ist. Daß er sich hierbei sehr weit vom Text entfernt, gesteht der Vf. selbst: "Eine differenzierte Erfassung der Freundschaftstheorie kann... einerseits aufbauen [!] auf Schleiermachers Text, muß aber andererseits implizite Theorieoperationen explizieren und Einzelerkenntnisse auf andere Kontexte übertragen und untereinander verknüpfen" (59). Hätte aber z.B. die "Leitkonzeption" ebenso im Sinne der Kommunikation von Individualität bestimmt werden können, wenn sich die Abhandlung Über den Ursprung der Verbindlichkeit der Verträge (1788) zufällig erhalten hätte, ein rechtsphilosophisches Projekt, das Schleiermacher 1796/97 noch beschäftigt hat? Und selbst wenn die Aristoteles-Anmerkungen allein betrachtet werden, wie fügt sich dann Schleiermachers Bemerkung in das kommunikationstheoretische Konzept, es sei gegenüber dem Problem der zwischenmenschlichen Liebe "noch eine weit interessantere Frage, die er [Aristoteles] uns nicht hinlänglich aufgelöst hat... : was es nemlich mit der Zuneigung gegen leblose Dinge eigentlich für eine Bewandniß habe?" (KGA I/1, 7)

Die Betonung des kommunikativen Aspekts ergibt sich aus einer Frontstellung gegen "die gängige Schleiermacherrezeption", die "sehr stark am Leitbild des Individuums orientiert geblieben" sei (1). Daß aber die Subjektivitäts- und Selbstbewußtseinsproblematik nicht einfach durch eine kommunikative Perspektive zu ersetzen ist, tritt bereits in den Aristoteles-Anmerkungen hervor, wo der Vf. die von Schleiermacher "vorausgesetzte, von Sozialität unabhängige ’ursprüngliche Selbstliebe’" (70) nur noch als systematische Inkonsistenz verbuchen kann. Tatsächlich bewegt sich Schleiermacher hier ­ unter dem Einfluß Eberhards und wohl auch Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) ­ im Rahmen des von den moral-sense-Theoretikern aufgeworfenen Problems, wie Egoismus und Sympathie zusammengehen. Diese Dimension wird in ihrer Bedeutung ebenso abgeschattet wie die bereits an den behandelten Texten nachvollziehbare schrittweise transzendentalphilosophisch-spekulative "Aufladung" des moral sense, aus der sich schließlich das eigentümliche Gefühlskonzept der Dialektik und Glaubenslehre entwickelt. Auch hier beharrt Schleiermacher auf dem unmittelbaren Selbstbewußtsein als Fixpunkt und bleibt damit im Gegensatz zu allen kommunikationstheoretischen Versuchen, die vorausgesetzte Identität des Subjekts zu vermitteln.

Das Grundproblem des Buches liegt in seinem methodischen Ansatz, der weitgehend unmittelbaren Ineinssetzung von entwicklungsgeschichtlicher und systematischer Rekonstruktion, verbunden mit dem Anspruch unmittelbarer Gegenwartsbezogenheit. Das betrifft zunächst die Annahme einer, zudem noch auf einen Text beschränkten, "Leitkonzeption", auf die sich der anschließende Theoriebildungsprozeß als Sicherung, Entfaltung und Ausdifferenzierung zurückführen lasse. Im Unterschied zum letztlich teleologischen Konzept des "Keimentschlusses" in Schleiermachers Hermeneutik orientiert sich der Vf. hierbei an dem systemtheoretischen Modell der "Emergenz" und "Autopoiesis". Der Anschluß an Luhmann, von dessen Terminologie das Buch über weite Strecken durchtränkt ist, soll offenbar zugleich die Anschlußfähigkeit Schleiermachers an gegenwärtige sozialtheoretische Diskurse sicherstellen. Hierzu sieht sich der Vf. berechtigt, weil er meint, bei Schleiermacher selbst ",konstruktivistische’ Züge der Theorie" ausmachen zu können (56). Die Übersetzung Schleiermachers in diese Theoriesprache führt jedoch vielfach zu einer für den Leser nur noch schwer zu durchschauenden Überlagerung der Quellen, was um so mehr zu bedauern ist, weil die Stärke der Arbeit gerade darin besteht, daß sie um ein Ernstnehmen und auch Buchstabieren der Texte bemüht ist.

Eine weitere Konsequenz des methodischen Verfahrens ist, daß die Entwicklungsgeschichte weitgehend einer systemtheoretisch konstruierten Entwicklungslogik geopfert wird, die ausdrücklich "äußere Einflüsse" marginalisiert und nur "für die ersten Anfänge von Schleiermachers Theorieentwicklung" in Anschlag bringt, um dessen Eigenprofil hervortreten zu lassen (13). Die in diesem Zusammenhang erfolgte informative und sorgfältige Auseinandersetzung mit Eberhards Sittenlehre und Vorstellungstheorie im Vergleich mit Schleiermacher (98-147) verdient, eigens hervorgehoben zu werden; sie gehört zu den stärksten Partien des Buches. Leider wird der Diskussionskontext nicht weiterhin in gleichem Maße berücksichtigt. Weil die Anmerkungen zur Freundschaftstheorie, die sich im Spannungsfeld von Aristotelismus und hallischer Schulphilosophie bewegen, nach Ansicht des Vf. die weitere Theorieentwicklung prägen, wird der Einfluß Kants m.E. zu stark abgeschwächt. Die Auseinandersetzung mit der Kritik der praktischen Vernunft (1788), auf die Schleiermacher in seinen Entwürfen sofort reagiert, hat insofern eine Schlüsselfunktion für seinen weiteren Denkweg, als er sich von da an dem transzendentalphilosophischen Projekt, bei aller Kritik an Kant (und später Fichte), verbunden weiß. Zuzustimmen ist dem Vf. jedoch darin, daß Schleiermacher Kant von vornherein kritisch rezipiert und dabei auch Momente der hallischen Schulphilosophie zur Geltung bringt. Andere Einflüsse, wie etwa die von Johann Joachim Spaldings Religionsbegriff und Gefühlstheorie (vgl. KGA V/1), aber auch die Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus anhand von Leonhard Creuzers Schrift Skeptische Betrachtung über die Freiheit des menschlichen Willens (1793; vgl. Schleiermachers Briefwechsel mit F. H. C. Schwarz, 265) bleiben unerwähnt. Die Erklärung von Schleiermachers Reaktion auf die zweite Auflage von Jacobis Spinoza-Buch (1789), in dem eine systematische Kombination von Kant und Spinoza versucht wird, aus dem Bedürfnis der metaphysischen Absicherung der bis dahin erarbeiteten Sozialkonzeption heraus, überzeugt kaum. Die erstaunlichen Parallelen zu anderen, fast zeitgleichen Versuchen, Transzendentalphilosophie und Spinozismus zu kombinieren, sollten eher dazu auffordern, den zeitgenössischen Diskussionskontext der nachkantischen Philosophie systematisch in Anschlag zu bringen. Zu wenig tritt auch hervor, daß die Jacobi- und Spinoza-Studien zu einem tiefgehenden Einschnitt in Schleiermachers Denken führen, der Wendung zu einer kritisch gebrochenen Substanzmetaphysik und Identitätsphilosophie, die mit dem Projekt der frühidealistisch-frühromantischen Philosophie vielfach übereinkommt. Von dorther ist auch die Rede von einer "vorromantischen" Phase Schleiermachers ebensowenig hilfreich wie die strikte Trennung in "Frühwerk" und "frühes Hauptwerk" (521). Das Problem der "Kontinuität und Diskontinuität von Schleiermachers Denkentwicklung" (522) wird durch solche Konstruktionen verfehlt: Während im Übergang zur Berliner Frühromantik die Diskontinuität hervorgekehrt wird, wird sie zuvor der These von der kontinuierlichen Ausdifferenzierung einer Leitkonzeption untergeordnet.

Die kritischen Einwände können indessen das Verdienst des Buches, erstmals auf der Basis aller durch die KGA verfügbaren Entwürfe einen Systematisierungsversuch unternommen zu haben, nicht schmälern. Auch wenn dieser Versuch entwicklungsgeschichtlich problematisch bleibt, so gelingt es dem Vf. doch, die systematische Bedeutung bisher weniger beachteter Texte überzeugend nachzuweisen und diese rekonstruierend zu erschließen. Dies gibt ebenso Standards für künftige Interpretationen vor wie das Insistieren auf einer genauen systematischen Lektüre der frühen Schriften und Entwürfe. Wer sich im Nachvollzug der perspektivenreichen Darstellung von der eigenwilligen Theoriesprache nicht abschrecken läßt und Schleiermachers Texte parallel liest, wird feststellen können, daß der Vf. z.T. einen systematisch-problemorientierten Stellenkommentar vorgelegt hat, der auch dann erhellend ist, wenn er zum Widerspruch reizt.