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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

619–620

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Wiedemann, Richard

Titel/Untertitel:

Der Streit um das Schulkreuz in Deutschland und Italien. Weltanschaulich-religiöse Neutralität und laicità des Staates im Vergleich.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2012. 325 S. = Staatskirchliche Abhandlungen, 50. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-428-13694-0.

Rezensent:

Norbert Janz

Es ist in den letzten Jahren ruhig geworden um das Kreuz an deutschen Schulwänden. Sorgte 1995 die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch für großen Aufruhr in staatsrechtlichen wie allgemein-gesellschaftlichen Kreisen, so haben sich mittlerweile die Wogen geglättet. Pragmatische, nicht ge­richtsnotorische Lösungen wurden gesucht – und offenbar auch gefunden. Das Verhältnis von Staat und Kirche ist nicht auf völlig neue Fundamente gestellt worden.
Daher überrascht es zunächst, wenn nunmehr eine rechtswissenschaftliche Dissertation zur Schulkreuzproblematik vorgelegt wird. Zudem begegnet der Rezensent rechtsvergleichenden Arbeiten mit einer gewissen Skepsis, zeigt doch die Erfahrung, dass ihr Erkenntnisgewinn oft überschaubar bleibt. Bei der an­zuzeigenden Freiburger Arbeit von Richard Wiedemann aus dem Wintersemester 2010/2011 stellt sich die Situation von vornherein anders dar, ist doch der Betreuer Johannes Masing als Staatsrechtslehrer selbst seit 2008 Richter am Karlsruher Verfassungsgericht. Zudem er­scheint es reizvoll, Deutschland mit Italien zu vergleichen. Denn es finden sich zwei nicht unähnliche staatskirchenrechtliche Systeme besonderer Art und Intensität wieder; bereits der Titel zeigt dies mit »weltanschaulich-religiöser Neutralität« einerseits und laicità andererseits auf. In beiden Ländern gab es heftige Debatten um Sinn und Unsinn von Schulkreuzen, mithin weitestgehend iden­-tische Sachverhalte, die es verfassungskonform zu regeln galt. Nicht zuletzt betritt W. Neuland dergestalt, dass eine thematisch vergleichbare deutsche Dissertation nicht greifbar ist.
Die Arbeit zeigt sich dreigeteilt. Im ersten Abschnitt untersucht W. auf 180 Seiten gleichermaßen kenntnis- wie detailreich die Auseinandersetzung um das Kreuz in der Schule vor deutschen und italienischen Gerichten, wobei – für den deutschen Leser durchaus interessant – das Hauptaugenmerk der italienischen Konstellation gilt. In beiden Ländern habe es zwei wegweisende Entscheidungen gegeben, und zwar – wie erwähnt – 1995 das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und 2006 das Urteil des italienischen Staatsrates. Beide Judikaturen setzten jeweils nationalstaatlich einen klaren Schlusspunkt in der gerichtlichen Auseinandersetzung von Kruzifixen in der (staatlichen) Schule.
W. analysiert und vergleicht umfassend die Gerichtsentscheidungen und beschränkt sich dabei nicht auf die letzte Instanz. Dadurch kann er ein komplexes Bild der in beiden Rechtsordnungen vertretenen Argumentationslinien entwerfen. Im Zentrum steht die Frage, wie jeweils mit dem Symbol des Kreuzes umgegangen wird. Wird es eher als religiöses oder als kulturelles Symbol interpretiert? Und – daran anschließend – welche Wirkung geht von Schulkreuzen auf die Schüler aus? Grundlegendes wird – notabene narrativ – zu Staat und Religion in Deutschland und Italien ausgeführt. W. vermag in der laicità einen gewissen favor religionis zu erkennen. Weder Neutralität noch laicità fänden sich im Verfassungstext wieder; ihre Schöpfung beruhe auf einem Akt des jeweiligen Verfassungsgerichts, welches hierzu eine ganze Reihe von Verfassungsbestimmungen zusammenfasse und insofern interpretiere. In ihrer Bedeutung wiesen die beiden Begriffe weitgehende Übereinstimmungen auf, die sich mit Trennung, Offenheit und Gleichbehandlung beschrieben ließen. In beiden Ländern bestehe weitgehend Einigkeit darüber, dass Kreuze (und erst recht Kruzi­fixe) als religiöse Symbole anzusehen seien.
Das Ergebnis eines Rechtsprechungsvergleichs zeige Folgendes: In Italien bestünden gegen eine Schulkreuzanbringung im Grundsatz keine verfassungsrechtlichen Bedenken. In Deutschland hingegen seien Kreuze in staatlichen Schulen ohne Ausweichmöglichkeit unzulässig. Interessant sind die von W. gezogenen Folgerungen: Weder die deutsche noch die italienische Rechtsprechung habe we­sentliche Impulse zur Fortentwicklung der einschlägigen Dogmatik entwickeln können. Außerdem sei das Verhältnis zwischen Neutralitä t/laicità einerseits und den allgemeinen Verfassungsbestimmungen andererseits nur schwerlich zu bestimmen. An dieser Stelle mag man wohl zu Recht einwenden, dass ein solches Verhältnis immer spannungsgeladen und nicht frei von dogmatischen Wi­dersprüchen ist – mit der Folge, dass diesem (Miss-)Verhältnis keine allzu große Aufmerksamkeit geschenkt werden müsste.
Wesentlich kürzer als der erste ist der zweite Teil geraten: Auf 70 Seiten deckt W. die Auseinandersetzung um das Kreuz in der Schule in der deutschen und italienischen Literatur auf. Es zeige sich, dass in der italienischen Literatur die Auseinandersetzung mit dem Grundsatz der laicità des Staates wesentlich größere Bedeutung zukomme als in der weit mehr an grundrechtlichen Fragen orientierten deutschen Literatur. Sehr bemerkenswert sei es, dass in Deutschland ganz überwiegend eine einseitige Privatisierung der christlichen Religion diskutiert werde, wohingegen in Italien we­niger auf die Entfernung des christlichen Symbols, sondern vielmehr auf die mögliche Berücksichtigung der Symbole anderer Religionsgemeinschaften – zuvörderst des Islams – abgestellt werde. Korrespondierend hiermit setze sich die italienische Literatur auch und gerade mit der generellen Zulässigkeit religiöser Symbole an öffentlichen Orten auseinander. Im Land der Dichter und Denker stehe hingegen der öffentliche Ort Schule im Fokus der Debatte. Bei dieser Feststellung regen sich beim Rezensenten Zweifel angesichts intensiver Auseinandersetzungen um die Wirkmächtigkeit des Islam in Deutschland.
Im dritten Abschnitt finden sich Zusammenfassung, Stellungnahme und Ausblick. In einem Nachwort referiert W. noch die Entscheidung der Großen Kammer des EGMR zu der italienischen Rechtslage, die nach Einreichung der Dissertation ergangen ist.
Nicht durchweg schlüssig erscheint die Gliederung. So überzeugt es nicht, wenn innerhalb des Abschnitts über die gerichtliche Auseinandersetzung in Italien die einschlägige Rechtsprechung des (deutschen) Bundesverfassungsgerichts dargelegt wird.
Fazit: Das Buch bietet einen interessanten, aufgrund der ge­wählten anspruchsvollen Syntax nicht immer leicht zu lesenden Vergleich zweier durchaus ähnlicher Verfassungsordnungen. Über­einstimmungen und Unterschiede bei der rechtlichen »Bewältigung« des Kreuzes in der Schule werden klar herausgearbeitet. Für (verfassungs-)rechtsvergleichend vorgehende Juristen in Deutschland wie in Italien liefert das Werk ein wahres Füllhorn an Erkenntnisgewinn.