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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

608–610

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Erne, Thomas, u. Peter Schüz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 256 S. m. 50 Abb. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 63. Kart. EUR 49,95. ISBN 978-3-525-62441-8.

Rezensent:

Andreas Kubik

Die EKD unterhält ein eigenes Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst, das an der Universität Marburg angesiedelt ist. Der Band geht zurück auf ein interdisziplinäres Forschungskolloquium dieses Instituts; der Direktor und sein damaliger Mitarbeiter fungieren als Herausgeber.
Angesichts des Dauerlamentos über den Bedeutungsschwund der Institution Kirche ist das Faktum, dass immer wieder – auch in Deutschland – neue Kirchen gebaut werden, naturgemäß ein wichtiger Anlass für derartige Verständigungen. Hartmut Ayrle stellt zwei außerordentlich faszinierende Beispiele aus dem neuen Jahrtausend vor, die sich insbesondere durch ihre kreativen Licht­-decken auszeichnen (122–130). Doch der Band möchte Grundsätzlicheres. Er setzt sein Thema in Verbindung zu dem so genannten spatial turn der Kulturwissenschaften und überschreitet es damit zugleich auf den »Horizont einer Theorie räumlich gelebter Religion« hin (11).
Im reichhaltigen Theoriegeschäft, das die Autorinnen und Auto­ren hier betreiben, werden vier Elemente besonders gern gewählt, die für die gegenwärtige und wohl auch zukünftige Diskussion des Themas »Raum« als konstitutiv zu gelten haben: Erstens die Deutung des Raums als Sozialraum, in dem bereits die Dinge und die Art ihrer Positionierung (spacing) auf soziale Bedeutung verweisen, die dann auch die deutungsmächtige Verwendung des Raumes durch Personen steuert. Im Hintergrund steht hier – im Anschluss an Georg Simmel und Pierre Bourdieu – die Raumsoziologie Mar­-tina Löws; Sergej Stoetzer leitet kundig in diese Debatten ein (87– 103). Jede Raumwahrnehmung vermittelt zweitens neben dem Ge-sehenen zugleich über den Leib des Betrachters eine vortheore­tische Atmosphäre; ein Vorgang, der selbst wiederum einer theoretischen Beschreibung zugänglich ist, etwa mit Hermann Schmitz, Gernot Böhme oder Bernhard Waldenfels. Als drittes ist Michel Foucaults Begriff der »Heterotopie« zu nennen: die Deutung von gesellschaftlichen Gegen-Orten, welche gleichwohl diskursive Machtpraxis aufnehmen und in gewisser Weise brechen, negieren oder zumindest zurückspiegeln. Schließlich ist viertens auf die zu­nehmende Bedeutung virtueller Räume aufmerksam zu machen, die auch diesseits von Online-Spielen zu einem festen Bestandteil unserer Kultur werden.
Die theologische Bedeutung dieser Momente liegt auf der Hand, und so nimmt es nicht wunder, dass »Raum« derzeit – vorbereitet von der Kirchenraumpädagogik, die in diesem Band nur am Rande vorkommt – eine heißes Thema der Praktischen Theologie ist (wo­bei Jörg Lauster [23–33] mit Recht darauf beharrt, dass das vermeintlich Neue des spatial turn nicht in jeder Hinsicht neu ist und die klassische protestantische Theorietradition einiges anzubieten hat, um ihm theologisch zu begegnen). Daran wird sich vermutlich so schnell auch nichts ändern. Denn gerade die programmatische Polysemie des Ausdrucks »Raum« eröffnet die vielfältigsten Diskussionsmöglichkeiten, wie dieser Band auch beweist.
Aus der Fülle der Beiträge stechen in meinen Augen zwei heraus. Die Kulturtheoretikerin Kathrin Busch (53–65) geht mit Heidegger von der »performativen Wirksamkeit von gebauten Räumen« (53) aus. Doch während dieser in einer Logik der Verwurzelung denkt, welche tendenziell die Beharrlichkeit einer Gruppe »am Ort« voraussetzt, will Busch mit Levinas über eine Raumgestaltung nachdenken, welche von der »Gastlichkeit« her denkt – so wie biblisch der Welt-Raum ja auch der von Gott gewährte Raum des Menschen ist. Sie sieht dessen Überlegungen in Derridas Architekturtheorie umgesetzt, der dem Heterogenen baulich Raum geben möchte. Bei dem großen Dekonstrukteur fehlt indessen das Element der »zwi­schenmenschlichen Dimension des Raumes der Religion« (62), auf das Levinas so großen Wert legt. Die spannende Frage ist also, wie der Raum eigentlich dem Beieinander, dem mit dem Anderen »ge­teilten Raum« (62, im Anschluss an Roland Barthes) »Raum gibt«. Diese Frage ist sowohl für die Gestaltung religiösen Sozialraums als auch für die Architektur sakraler Neubauten höchst bedenkenswert. Wollen religiöse Gruppierungen in der Gestaltungslogik der Schließung und der Trutzburg denken, oder in einer, die den Anderen die Möglichkeit des Dabeiseins gibt und zugleich das eigene Gast-auf-Erden-sein unterstreicht?
Unter den theologischen Aufsätzen führt besonders der Beitrag von Thomas Erne ins Offene. Im Zusammenhang mit seiner Auftragsarbeit, ein Buch über Grundwissen zum Kirchenbau – inzwischen erschienen – zu schreiben, reflektiert er nicht nur darüber, was zu diesem Grundwissen zu zählen wäre, sondern auch metatheoretisch darüber, wie es sich überhaupt bestimmen lässt und welche Bauten man exemplarisch diskutieren sollte. Die nötige religiöse Funktionsbestimmung muss die Balance halten zwischen theologisch reflektierten Raumkonzepten und der gelebten Religion des Kirchenbaus, die sich im Begriff der Atmosphäre zentriert. Die Rezeptionsperspektive des Sakralbaus durch ganz normale Menschen, die sich in den unfasslichen Massen an Touristen materialisiert (warum rennen die alle in die Kirchen?), ist überhaupt von der Praktischen Theologie des Raums noch viel zu wenig beachtet: »Kirchengebäude […] sind Orte, an denen sich ästhetische und religiöse Transzendenz überlagern.« (195)
Weitere Beiträge helfen, das Gelände des vieldeutigen Themenfeldes »Raum« zu vermessen – freilich in der etwas additiven Typik von Tagungsbänden.
Elisabeth Jooß (67-83) kartographiert verlässlich biblische Niederschläge jü­discher und christlicher Raumerfahrung.Michaela Geiger erläutert die Raum­theologie des Deuteronomiums vor dem Hintergrund der Raumsoziologie Martina Löws (105–121). Dem Dtn gelingt es, Gottespräsenz auch nach dem Verlust des Gottesberges denken zu können.
Thomas Klie und Simone Scheps (133–149) geben erste Einblicke in ein Ros­tocker Forschungsprojekt zu Mecklenburgischen Kirchbauvereinen, den Motiven und Hoffnungen der – zum Teil gar nicht christlichen – Mitglieder. Martina Kumlehn (165–179) untersucht das Raumkonzept einzelner baulich gelungener Evange­lischer Schulen: Das Gelingen ist weniger architektonisch zu be­schreiben (wie bei bestimmten reformpädagogischen Ansätzen), sondern an der gemeinsamen Gestaltung der heterotopen Lebens-Räume mit den Schülern orientiert. Ulrike Wagner-Rau (151-163) deutet von ihrer Theorie des »Segensraums« her den Kirchraum als mitgeprägt durch die »lebensgeschichtlichen Szenen« (160), die im Betreten lebendig werden; Räume repräsentieren »Be­ziehungserfahrungen« (151), die Potenzialität offenlassen – gerade im räum­lichen Niederschlag generalisierter Interaktionen. All diese Beiträge machen auch auf das Potenzial von Räumen als Orten der Erinnerung aufmerksam, die Erhebliches zur Kontinuierung von Identität – personaler wie kollektiver – beitragen.
Johann Ev. Hafner (203–215) berichtet von dem Projekt, den Innenraum einer Rokoko-Kirche in Ottobeuren vollständig abzufotografieren und als er­läuterten virtuellen Raum zur Verfügung zu stellen. Die Ästhetik des Rokoko kommt dabei als Vorläufer digitaler Virtualität zu stehen. Michael Waltemathe (217–231) untersucht die Verarbeitung der Manchester Cathedral durch den Ego-Shooter »Resistance«, reflektiert über das liminale Potenzial des Zu­gangs zu Computerwelten und lotet anschließend religionspädagogische Zugriffsmöglichkeiten aus. Tobias Wallisser (233–247) erläutert die architektonischen Möglichkeiten, die sich durch das digitale Entwerfen ergeben, führt diese auf gewichtige historische Vorbilder (Borromini, Gaudí) zurück und exempli­fi­ziert sie an zwei modernen »Kathedralen«, der Olympischen Schwimmhalle von Peking 2008 und dem Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart.
Hinsichtlich einer neuen Theologie des Kirchenbaus und des Nachdenkens über die Räumlichkeit gelebter Religion bietet der Band eine Fülle spannender Gedanken und Einsichten. Die Herausgeber wollen in ihrer Einleitung freilich mehr: Sie wollen auch die »religiöse Dimension des Raumes« (12) an sich behaupten. Ein we­nig erliegen sie damit der aktuell grassierenden Suche nach einem spezifischen »Beitrag« der Theologie zum interdisziplinären Ge­spräch. Und, wie meistens, wird der auch hier nicht so recht er­sichtlich: Ab­gesehen von der These Waldenfels’, jedes Gebaute verweise auf das Ungebaute, vielleicht auf das Unbaubare (vgl. 13), ist im gesamten Band jene vermeintliche religiöse Dimension nur vom Sakralbau geliehen. Aber da der interessant genug ist, kommt das interdisziplinäre Gespräch auch so zustande. Daher gilt, wie es die An­gelsachsen so schön apodiktisch sagen: It’s alright at what it does.