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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

601–604

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Herbst, Christoph

Titel/Untertitel:

Freiheit aus Glauben. Studien zum Verständnis eines soteriologischen Leitmotivs bei Wilhelm Herrmann, Rudolf Bultmann und Eberhard Jüngel.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2012. XXI, 486 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 157. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-026288-9.

Rezensent:

Rainer Mogk

Das Spannungsverhältnis zwischen soteriologisch bestimmter theologischer Freiheit aus Glauben und neuzeitlicher Freiheit im Sinne von Autonomie steht im Mittelpunkt der von Christoph Herbst bei Gunda Schneider-Flume verfassten Dissertation. Der Leitgedanke lautet: Die Heilsbedeutung des christlichen Glaubens kann in der Gegenwart dadurch Plausibilität gewinnen, dass der Glaube an den strittigen neuzeitlichen Freiheitsbegriff anknüpft, und zwar indem er den dahinter steckenden Wunsch nach Selbstentfaltung aufgreift und dessen Aporetik überwindet. Wilhelm Herrmann (15–158), Rudolf Bultmann (159–284) und Eberhard Jüngel (285–433) beziehen sich nach H. bei der Explikation der Glaubensfreiheit auf eine grundsätzlich ähnlich kritische Diagnose der Lage der Moderne, die auf die negativen Konsequenzen einer objektivierenden Rationalität in ihrer Dominanz für den Selbst- und Weltumgang des Menschen abhebt.
Alle drei entwickeln von dort aus ein Glaubensverständnis, das Glauben als befreiende Durchbrechung der aporetischen Situation des neuzeitlichen Menschen versteht, das heißt Glaube als Verwirklichung wahren Selbstseins in Bezugnahme auf die problematischen Folgen des neuzeitlichen Ringens um Freiheit bestimmt (281.430). »Unter stetigem Rückbezug auf die desaströsen Folgen der Bemühungen um unbedingte Selbstmächtigkeit wird der im Glauben realisierte Bezug auf Gott als befreiender Gegensatz zur vernunftgeleiteten Herrschaft des Menschen über sich und die Welt vorgestellt.« (441) Die Unterschiede der drei Theologen erblickt H. in der genauen Bestimmung des Befreitwerdens durch Gott: Herrmann beziehe den Glauben auf die Ganzheit der autonomen Persönlich keit und ende bei einer weltlosen, radikalen Innerlichkeit. Bultmann akzentuiere in widersprüchlicher Weise die Negation der Selbstmächtigkeit des Menschen als Selbstpreisgabe, die doch Tat des Subjekts sein müsse. Erst Jüngel überwinde die Probleme seiner beiden Vorgänger durch eine Beschreibung des Glaubens als heilsame Unterbrechung durch von Gott zukommende Möglichkeiten. Doch Jüngel habe entgegen seinem streng offenbarungstheologischen Anspruch die faktische Vermittlungsstrategie nicht deutlich in sein Theologieprogramm aufgenommen.
H. untersucht die Verhältnisse von Glaubensfreiheit zum neuzeitlichen Freiheitsverständnis, indem er die Gesamtentwürfe der drei ausgewählten Theologen darlegt, was hier nicht ausführlich referiert, sondern nur skizziert werden kann.
Bei Herrmann, dessen Schriften mit der neueren Forschung in drei Werkphasen untergliedert werden, ergeben sich aus dessen Ansatz beim vorreflexiven, weltlosen Selbstgefühl nur zwei Möglichkeiten, nämlich eine verwertende Integration der Natur (im Frühwerk) oder eine gänzliche Entweltlichung durch ein irrationales Ganzheitserlebnis (im Spätwerk). In Abgrenzung von der dominanten Naturwissenschaft versteht Herrmann in seinem Frühwerk die christliche Freiheit als Befreiung von der Reduktion des Menschen auf einen bloßen Bestandteil der beherrschten Na­tur. Die Ganzheit des Selbst wird notwendigerweise mittels Sitt lichkeit angestrebt, kann aber auf diesem Weg der Selbstunterscheidung des Menschen vom kausalen Nexus der Natur nicht erreicht werden, sondern die Herrschaft des Menschen als eines sittlichen Geistes über die Natur gelingt erst durch die Religion. Das interpretiert H. soteriologisch, indem er feststellt: »Die durch das unabweisbare (Sitten-)Gesetz bewirkte Unheilsgewissheit dient als hermeneutischer Schlüssel und Plausibilisierung für das ge­schichtlich gegebene Evangelium.« (78 f.)
In seinem Hauptwerk nimmt Herrmann Abschied von der Gewissheit der Zweckmäßigkeit der Welt und von einer christlich-religiösen Weltanschauung, weil letztlich kein Weg von einer subjektiv erlebten Wirklichkeit zu einer Weltanschauung führe. So gerät der Glaube unter Betonung des individuellen Erlebnisses der Person Jesu Christi nur noch zu einer rein innerlichen Kompensation für das Scheitern der sittlichen Praxis (94.119 f.). Im Spätwerk schließlich beschreibt Herrmann Religion als das nur noch individuelle Erlebnis der Hingabe in Dialektik von Abhängigkeit und Freiheit. Die Ganzheit, deren der Mensch für seine Selbstwerdung bedarf, »erreicht er in einer radikalen Entwertung der äußerlichen Welt der Natur in dem letztlich weltlosen, rein innerweltlichen Erlebnis einer Ganzheit des Universums« (144). Das führt H. auf eine zunehmende Einsicht in die ambivalenten Folgen der wissenschaftlichen und technischen »Verwertung« der Welt zurück. In diesem Sinne nennt H. Herrmanns Werk eine Krisentheologie angesichts von Modernisierungsschäden (152), die er insgesamt kritisch wertet: »Weil die Religion den Menschen im individuell-innerlichen Erlebnis von den problematischen Folgen seiner an­-eignenden Herrschaft über die Welt schützt, affirmiert sie faktisch die ungehemmte Fortsetzung dieser destruktiven Herrschaft.« (156)
Auch Bultmanns Werk wird von seinen Anfängen aus (166) als Weiterentwicklung einer ursprünglichen Fragestellung in drei Phasen interpretiert: Bultmann setze in seiner bisher zu wenig beachteten liberalen Phase – von Herrmann herkommend – bei der Befreiung des Menschen zur persönlichen Lebendigkeit durch ein individuelles Gotteserlebnis an. So transzendiere der Mensch die entfremdete Gesetzmäßigkeit seiner vernunftgeleiteten Vollzüge, die auf Erkenntnis und Bearbeitung von Natur und Kultur abzielen (188). Dabei legt Bultmann zugrunde, dass alle Versuche vernünftiger Selbstrealisierung nur zum Gegenteil des Intendierten, nämlich zur Vernichtung des Menschen in seiner individuellen Lebendigkeit führen. In der dialektischen Phase, die für H. keine Wende markiert, tritt zwar die Leitkategorie des kontingenten und aktual gefassten Wortes Gottes an die Stelle des Erlebnisses, doch wird der Freiheitsgehalt des Glaubens als Realisierung der Negation des weltlich-vorfindlichen Menschen bestimmt. »Bultmanns Verständnis des menschlichen Daseins führt kontinuierlich von der Betonung der individuellen ›Lebendigkeit‹ des Menschen in der Frühzeit über die Rezeption der ›Existenz‹ im Sinne Kierkegaards hin zu der an Heidegger angelehnten ›Geschichtlich keit des Da­seins‹.« (211)
In der existentialen Phase erreicht Bultmanns Entwurf für H. gerade durch seine kreative Heidegger-Rezeption eine hohe Konsistenz. Es geht darum, »dass der Mensch im Akt der je und je neu erfolgenden Übernahme des Selbstverständnisses des Glaubens Freiheit gewinnt, weil er in ihm von allen weltlich-vorfindlichen Inhalten abstrahiert und sich je und je neu auf den radikal jenseitig-zukünftigen Gott ausrichtet« (278). So löse der Glaube die problematische Situation des neuzeitlichen Menschen, der Freiheit als Selbstmächtigkeit und Selbstbestimmung realisieren wolle. Bultmann ende bei einer Entweltlichung, genauer bei der »durch den Glauben gewahrte[n] Nichtweltlichkeit des menschlichen Seins angesichts der nichtmenschlichen Welt« (280). Nicht mehr nur die Verinnerlichung des neuzeitlichen Freiheitsideals wie bei Herrmann, »sondern seine strikte Bestreitung und die Entfaltung wahrer Selbstwerdung und wahrer Freiheit im radikalen Gegensatz zu ihm sind die Folgerungen, die Bultmann aus seiner Krise zieht, und die die entscheidende Differenz zu Herrmann darstellen.« (281) Im Anschluss an Falk Wagner kritisiert H. an Bultmann, dass in der Entscheidung das menschliche Subjekt und sein Wille doch als aktiv gedacht werden müssen und dass die Dominanz der Negation zu einem Formalismus aktualistischer, abstrakter und letztlich in­haltsleerer Entscheidungen führe (282 f.).
Jüngels Entwurf wird nicht nach Werkphasen aufgeteilt, sondern von seinen neuzeitkritischen Voraussetzungen her verstanden. H. setzt bei Jüngels kritischer Sicht (im Anschluss an den späten Heidegger) auf die Dominanz eines cartesianischen objektivierend-instrumentellen Denkens ein, das sich selbst zu begründen und sicherzustellen versucht und fatale Folgen in der Gegenwart zeigt. »Der Mensch, der sich vor beunruhigender Ungewissheit durch die Eigenproduktion letzter Selbstgewissheit in der Tat der Vorstellung und Herstellung retten will, zerstört am Ende gemeinsam mit der ihn umgebenden Welt sich selbst, weil er sich die Welt zu einem habbaren Ding reduziert und verbraucht.« (322) Dem halte Jüngel entgegen: »Gott kommt ewig von sich selbst her zur Welt, die er in seinem Kommen durch die sprachlich vermittelte Teilgabe an seinem Sein mit neuen Möglichkeiten unterbricht.« (394) H. zeichnet nach, wie Jüngel die Aporetik des metaphysischen Gottes begriffs in seiner am Kreuz seinen Ausgang nehmenden trinita­rischen Gotteslehre aufhebt und auch den kritisierten Welt- und Selbstumgang theologisch als Sünde deutet, schließt sich aber der Kritik an, die gerade bei Jüngels Metaphernlehre der Schöpfung eingestiftete und durch philosophische Analysen erkennbare Strukturen entdeckt, die Jüngel für die Plausibilität seiner Offenbarungstheologie implizit in Anspruch nehme (380 f.) und so un­eingestanden eine Art natürliche Theologie betreibe (384 f.).
Insgesamt hat H. unter Berücksichtigung der einschlägigen Se­kundärliteratur drei bedeutende Theologen sehr gründlich, solide und von der stringenten These her, dass der Glaube die Aporien des neuzeitlichen Freiheitsbewusstseins überwindet, mit hohem Überzeugungspotential erschlossen. So verleiht er den drei Gesamtentwürfen deutliches Profil, bezieht sie überzeugend aufeinander und liefert dabei wertvolle Impulse für eine Theologie der Freiheit.
Natürlich regt ein einheitlicher Leitgedanke zu Rückfragen an: Hat nicht Freiheit im theologischen wie im neuzeitlich-philosophischen Sinn (auch) eine dezidiert ethische Dimension? Wird Freiheit »theologisch ausschließlich im Kontext der Soteriologie thematisch« (5)? Inwiefern hat bereits Herrmann negative Folgen bzw. Schäden (welche?) durch den neuzeitlichen Fortschrittsprozess im Blick?
Nur die Herrmann-Interpretation wirkt m. E. an zwei Punkten etwas überzeichnet: Lässt in Herrmanns Frühwerk die empirische Bedingtheit den Menschen in Schuldbewusstsein und Unheilsgewissheit versinken (78 f.) oder verhindern für Herrmann, indem er auf die Kant-Kritik von Schleiermacher und Lotze zurückgreift, nicht gerade die überindividuellen Faktoren Sozialität und Fügsamkeit der Natur gegenüber dem Endzweck die Anwendung des Sittengesetzes? Und ist hinsichtlich des Spätwerks Herrmanns die These von der radikalen Verinnerlichung ohne Weltbezug mit Preisgabe der Welt an die destruktiven Kräfte zu halten? War Herrmann von »der faktischen Unmöglichkeit der weltlichen Realisierung von sittlicher Autonomie« (442) überzeugt bzw. forderte er einen »Verzicht auf eigene, auf die Welt ausgreifende Tätigkeit« (198) oder versuchte er nicht doch, der Sittlichkeit und der damit verbundenen Weltgestaltung noch eine – wenn auch nicht mehr so zentrale – Rolle zuzuweisen, wofür sein Festhalten an seiner »Ethik« bzw. deren fortlaufende Überarbeitungen zeugen? Liest H. vielleicht Herrmann an diesen Stellen schon zu sehr von Bultmann her?
Diese Nachfragen sollen zeigen, wie sehr die vorliegende Arbeit ins Zentrum der Systematischen Theologie führt und wie beeindruckend diese drei mächtigen Entwürfe in ihrer Relevanz er­schlossen werden.