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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

599–601

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Deuser, Hermann, u. Saskia Wendel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Dialektik der Freiheit. Religiöse Individualisierung und theologische Dogmatik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. VIII, 255 S. = Religion in Philosophy and Theology, 63. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-151799-0.

Rezensent:

Dietz Lange

Der Band dokumentiert eine Tagung des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt 2010. Die evangelischen und katholischen Autoren der zwölf Beiträge sind mit einer Ausnahme deutschsprachig.
Am Beginn stehen zwei Grundsatzartikel. M. Moxter reflektiert das Verhältnis von Individualität und Ganzheit. Während das Individuum sich nach Schleiermacher noch als Glied einer Ganzheit, letztlich der Menschheit, versteht, muss bei Hirsch der »Einzelne« (Kierkegaard) seine Einsamkeit durch kritikloses Aufgehen im »Volk« kompensieren. Dagegen soll in der praktischen Theologie H. Luthers der Einzelne die Fragmentarität seines Daseins im Blick auf die eschatologische Vollendung aushalten. Der Vf. schließt mit der Bemerkung, der Protestantismus könne den darin enthaltenen Risiken »gelassener begegnen, solange er sich der Gefahren er­innert, die Ganzheitserwartungen mit sich bringen«. M. Schlette analysiert den Begriff der Selbstverwirklichung, den er mit Ch. Taylor als »Treue zu sich selbst« versteht, als »Selbstbeziehung, die über die […] Erfahrung eines höheren Gutes vermittelt« ist. Der Gefahr, dass der Zugang zu diesem verloren geht und Selbstverwirklichung zum Selbstzweck wird, steht der Vf. gelassen gegenüber. Mit Hilfe der Unterscheidung J. Deweys von Implizitheit und Impliziertsein der Situation strukturiert er die Varianten der Selbst­-verwirklichung und fragt dann nach ihrem Verhältnis zur Religion. Er ist der Meinung, Selbstverwirklichung sei, aufgrund von Selbsttranszendenz, auch ohne »Innerlichkeit« und »Zielantizipationen«, als »Ganzheit ohne Einheit« denkbar. Doch was kann bei einem derart »desubstantialisierten« Selbst Verwirklichung noch bedeuten?
Die übrigen Beiträge des Buches stellen exemplarisch Gestalten des 19. und 20. Jh.s vor. E. Gräb-Schmidt beschreibt das Verhältnis von Individualität und Unendlichkeit bei Schleiermacher im Blick auf die Dogmatik als historische Disziplin. Der Wandel der Metaphysik unter dem Einfluss von Herrnhut (nicht »Herrenhuth« [49]!) und Kant lasse die Unendlichkeit »als Fülle der Möglichkeiten« des Individuums und somit »als Freiheit« erscheinen (57) – eine problematische Formulierung, insofern sie eine schlechthinnige Freiheit insinuiert, die Schleiermacher stets abgelehnt hat. Als Folge jener Verschiebung habe die Normativität der Dogmatik sich aus einem Allgemeinen in den Transzendenzbezug der Individualität verlagert. Unklar bleibt, wie sich dazu die Geltung in der kirchlichen Gemeinschaft (Glaubenslehre ², § 19) verhält. H. Schulz befasst sich kritisch mit Kierkegaards These, die Subjektivität sei die Wahrheit. Er gesteht der positiven Bewertung der Interessegeleitetheit der Wahrheitssuche ein auf »wesentliche« Wahrheiten begrenztes Recht zu. Es folgen zwei Beiträge zur katholischen Tübinger Schule. Beide zeichnen sich im Unterschied zu den bisher besprochenen Autoren durch bessere Lesbarkeit aus, ohne dass Genauigkeit und Niveau darunter leiden. D. Mieth betont, dass J. S. Dreys Anschluss an Schleiermacher locker sei. Die religiöse Gewissheit habe ihren Ort in der geschichtlichen Gemeinschaft der Kirche, der jedoch kein Alleinvertretungsanspruch zukomme. Vielmehr sollten die Konfessionen sich gegenseitig anerkennen. Der Vf. kontrastiert diesen Ansatz mit der seit dem späteren 19. Jh. bis heute virulenten Tendenz der Amtskirche zum autoritären Lehrdiktat. G. Essen widmet sich J. E. Kuhn, der bereits der Restaurationszeit angehört. Das zeigt sich an dessen ambivalenter Haltung zur Individualisierung. So polemisiert er in seiner Dogmatik gegen Schleiermachers vermeintliche Willkür und stellt ihr das subjektive Fürwahrhalten eines objektiven, vernünftigen, durch kirchliche Autorität gewährleisteten Wahrheitsgehalts gegenüber. E. charakterisiert Kuhn als »modernitätsaffinen Kritiker der Moderne« (121).
Den Übergang zum 20. Jh. bildet der luzide Aufsatz von D. Korsch über W. Herrmann. Dieser stellt dem objektivierenden na­turwissenschaftlichen Herrschaftswissen den Verkehr des Menschen mit Gott als individuellen Lebensvollzug gegenüber. Dem entspricht das Verhältnis des »historischen Jesus« zum »inneren Leben Jesu«, das in dessen persönlicher Wirkung zu erfassen ist. Freilich dürfte sich das Verhältnis von Wissenschaft und Verkehr mit Gott aufgrund der für Herrmann zentralen Kategorie der Wahrhaftigkeit doch etwas komplexer darstellen.
Die dänische Theologin K. Busch Nielsen schreibt über Bonhoeffers Ekklesiologie. Sie stellt die christologische Fundierung des Verhältnisses von gläubigem Individuum und Gemeinschaft in dem Für-andere-Sein Christi klar und zutreffend dar. Doch zur sozialphilosophischen Grundierung äußert sie sich etwas knapp und lässt deren Kern, den »objektiven Geist«, nicht recht erkennen. Chr. Polke befasst sich mit E. Troeltschs Dogmatik. Er modifiziert Birk­ners Ausdruck »Privatdogmatik« durch die der Dogmatik eigene kirchliche Funktion der Anleitung zur Predigt als selbstständiger Rechenschaft. Die Volkskirche sei der unentbehrliche soziale Leib des christlichen Prinzips. Am Schluss plädiert der Vf. dafür, den Begriff der Person nicht wegen seiner idea­listischen Konnotationen preiszugeben.
Sodann behandelt S. Wiedenhofer die katholische Ressourcement-Theologie von H. de Lubac, H. U. v. Balthasar und J. Ratzinger, einer vermittelnden Richtung, der es um die Wiedergewinnung christlicher Substanz aus den alten Quellen geht und die sich für die Personalität des Glaubens jenseits des In­-dividualismus einsetzt. Wichtig ist ihre Auseinandersetzung mit der Befreiungstheologie und Tendenzen zur Demokratisierung der Kirche. Wiedenhofer sieht es als Verdienst dieser Ressourcement-Theologie an, auf die Ambivalenz der Moderne aufmerksam gemacht zu haben. Demgegenüber widmet sich K. Wenzel dem ignatianischen Glaubensverständnis K. Rahners. Er setzt ein beim Verständnis eschatologischer Existenz als einem Sich-Ausstrecken auf die Vollendung der ganzen Person. Damit hängt die existenziale Ethik zusammen. Hier wertet Rahner die situative Entdeckung des unbedingten Willens Gottes bei Ignatius als Ge­burtsstunde der Moderne. Doch in Spannung dazu steht der bedingungslose Ge­horsam gegenüber päpstlicher Autorität.
W. Jeanronds Beitrag über heutige Eschatologie blickt als einziger über den Tellerrand deutschsprachiger Theologie hinaus. Er setzt sich mit Ratzinger, dem amerikanischen Lutheraner R. W. Jenson und dem australischen Katholiken A. Kelly auseinander. Die Abfolge konstituiert eine Klimax. Während Ratzinger sich auf die kirchliche Perspektive konzentriere und Bezüge auf andere Religionen sowie eine Explikation des kosmischen Horizonts vermissen lasse, gehe Jenson mit Hilfe seines trinitarischen Ansatzes auf die sozialen As­pekte menschlichen Lebens ein. Am klarsten sieht er die transformatorische Kraft trinitarischen Lebens bei Kelly zum Ausdruck ge­bracht. Bei allen dreien fehle aber die Be­stimmung des Verhältnisses göttlicher zu menschlicher Liebe.
Der Band ist insgesamt interessant, ein Desiderat bleibt m. E. das Problem der Ideologie, das nur am Rande anklingt. Es ist für die Thematik höchst relevant und durch den Niedergang der »Großideologien« (Bracher) keineswegs erledigt.