Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

596–598

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U., u. Simon Peng-Keller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gottvertrauen. Die ökumenische Diskussion um die fiducia.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2012. 479 S. = Quaestiones disputatae, 250. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-451-02250-0.

Rezensent:

Gunther Wenz

Nach Maßgabe der Theologia positiva acroamatica von Johann Friedrich König, einem 1664 in Rostock erschienenen, häufig wie­deraufgelegten Dogmatikkompendium altlutherischer Orthodoxie (vgl. J.F. König, Theologia positiva acroamatica [Rostock 1664]. Hrsg. u. übers. v. A. Stegmann, Tübingen 2006; Editionsgrundlage ist der Text der 14. Aufl. von 1719), besteht der Glaube materialiter aus drei Teilen: notitia, assensus, fiducia, Kenntnisnahme, Zustimmung und Vertrauen (vgl. pars tertia § 894). Notitia ist König zu­folge die verstandesmäßige Erkenntnis oder Annahme der Verheißung der gnadenhaften Vergebung unserer Sünden durch Christus (§ 895: cognitio seu apprehensio intellectualis promissionis de gratu­ita peccatorum nostrorum remissione per Christum), assensus das gut­-heißende Urteil des Verstandes, durch das wir an die Verheißung unserer Rechtfertigung aus Gnade glauben und in ihr Ruhe finden (§ 896: judicium intellectus approbans, quo credimus promisso de gratuita nostri justificatione, inque eo simpliciter acquiescimus), fiducia schließlich nichts anderes als das den einzelnen Menschen betreffende, mir und dir persönlich aneignende Empfangen und Annehmen des Verdiensts des Gottmenschen (§ 898: receptio seu apprehensio meriti theanthropou appropriativa ad me et te in individuo; bei König teilweise kursiv.).
In der fiducia erfüllt sich, was fides heißt: Als nicht bloß theoretische, sondern praktische Annahme des in Jesus Christus kraft des Heiligen Geistes in Wort und Sakrament gegebenen Gnadenevangeliums Gottes für jeden Menschen, die ein Sich-Einlassen des ganzen Herzens und Willens auf das Verdienst Christi mit einschließt (§ 899: quae totius cordis et voluntatis in merito Christi recumbentiam involvit), bezeichnet Vertrauen nicht weniger als den Akt rechtfertigenden Glaubens, soweit er die Rechtfertigung wirkt (§ 897: actu[s] fidei justificantis, qua justificans est). Wer sich im Glauben ganz auf Jesus Christus verlässt und ihm allein vertraut, der ist gerechtfertigt vor Gott und darf seines ewigen Heils gewiss sein. Werke sind Wirkungen des Glaubens; an sich selbst ist er nach König nichts als reines Empfangen. Ähnliche und zum Teil wortgleiche Formulierungen zum Glaubensbegriff und zu seinen Bestimmungsmomenten finden sich in anderen lutherischen Lehrbüchern des konfessio­nalistischen Zeitalters (vgl. H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch- lu­therischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt. Neu hrsg. u. durchgesehen von H. G. Pöhlmann, Gütersloh 91979, 263 ff.).
Während sich das Verständnis nicht nur der fides quae, sondern auch der fides qua (creditur) innerhalb der einzelnen Konfessionsparteien im 16. und 17. Jh. verhältnismäßig homogen darstellte, war es interkonfessionell mehr oder minder strittig. An einem Vergleich einschlägiger Aussagen der Dogmatik altlutherischer mit solcher altreformierter (vgl. H. Heppe, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt. Neu durchgesehen u. hrsg. v. E. Bizer, Neukirchen 1935, bes. 408 ff. 441 ff.) und insbesondere an einer Gegenüberstellung der Glaubenslehren reformationskirchlicher Theologie und derjenigen tridentinisch-nachtridentinischer Barockscholastik lässt sich dies bei aller Differenzierungsbedürftigkeit im Einzelnen unschwer zeigen. Von daher liegt es nahe, dass eine ökumenische Diskussion um die fiducia ihren Ausgang von der Glaubenskontroverse im Re­-formationsjahrhundert und diesbezüglichen theologiegeschichtlichen Rekonstruktionen nimmt (vgl. 127–254), um von diesem Brennpunkt aus den Fragenkreis »zurück und nach vorn« (7) auszuweiten, nämlich auf die biblischen Grundlagen einerseits (vgl. 29–125) und auf aktuelle systematische Analysen andererseits (vgl. 255–434). Die Gliederung des vorliegenden Bandes ist damit in ihren Grundzügen umschrieben. Die gesammelten Beiträge dokumentieren gemäß dem Vorwort der Herausgeber »eine – in Form und Ergebnis – offene Diskussion« (10) eines Gesprächskreises »aus sechs katholischen, vier evangelisch-lutherischen, vier evangelisch-reformierten Theologen und Theologinnen sowie einem Waldenser« (9). Die Debatten und die sie begleitenden Studien sind »Teil eines vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten hermeneutischen Forschungsprojektes, das seinerseits eingebettet ist in das an der Universität Zürich angesiedelte interdisziplinäre Forschungsprojekt Vertrauen verstehen. Grundlagen, Formen und Grenzen des Vertrauens« (8); es umfasst neben der Theologie ein Vielzahl anderer akademischer Disziplinen.
Theologisch grundlegend für eine Hermeneutik des Vertrauens ist der Begriff des Gottvertrauens. Seiner Klärung dienen die Beiträge des vorliegenden Bandes. Er wird durch zwei weitere ergänzt; sie sind der »Kommunikation des Vertrauens« (I. U. Dalferth/S. Peng-Keller [Hrsg.], Leipzig 2012) und dem Thema »Grundvertrauen« (I. U. Dalferth/S. Peng-Keller [Hrsg.], Leipzig 2013) gewidmet. Dass das »theologische Herzstück« (7) aller Vertrauensfragen die Frage des Gottvertrauens ist, bestätigt der biblische Befund. Exemplarisch gezeigt wird dies an exegetischen Untersuchungen zu Vertrauen und Glauben anhand von Ps 13 und der Abrahamsüberlie­ferung der Genesis (K. Schmid), in Bezug auf die synoptische Tra­-dition (Th. Söding) sowie den 2. Korintherbrief (L. Scornaienchi). Allgemeine Beobachtungen aus neutestamentlicher Perspektive zum Zusammenhang von Glaube, Hoffnung und Vertrauen steuert Hans Weder bei.
Die theologiegeschichtlichen Rekonstruktionen im Zentrum des Bandes sind nach einem Beitrag zu Gottvertrauen und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart (S. Peng-Keller) alle auf das Reformationsjahrhundert konzentriert, nä­her­hin auf das Glaubensverständnis Martin Luthers (W.-F. Schäufele), Huldrych Zwinglis (P. Opitz), Philipp Melanchthons (C. Richter) und des Rechtfertigungsdekrets des Trienter Konzils (P. Walter). Der Beitrag zu Melanchthon verdient u. a. in Bezug auf die Genese und das Verständnis der eingangs erwähnten Glaubens­trias von notitia, assensus und fiducia besonderes Interesse. In der fiducia als der Zentralgestalt christlichen Glaubens sind deren beide anderen Bestimmungsmomente aufgehoben, wobei es sich »nicht um eine Aufhebung in den Begriff handelt, auch nicht (nur) um eine Aufhebung in die religiöse Vorstellung, sondern um eine Aufhebung in den religiösen Vollzug« (241), und zwar namentlich in denjenigen des Gebets als der innersten Form des Glaubens: »Das Gebet bzw. die Gebetslehre ist insofern die Summe von Melanchthons philosophischer wie theologischer Denkweise, als sie eine der Le­benserfahrung erwachsene und vertrauensvoll auf Gott bezogene Synthese von Rationalität, Wille und Affekt darstellt.« (242)
Im christlichen Gebetsvollzug wird wahrgenommen, dass das Vertrauen, das Gott in Jesus Christus kraft seines Heiligen Geistes schenkt, Grund und Quelle allen Gottvertrauens ist. In dieser Auffassung stimmt Melanchthon mit Luther völlig überein, wie I. U. Dalferth in dem letzten der systematischen Beiträge des Sammelbandes unter Bezug insbesondere auf die Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus verdeutlicht. Dalferth zeigt zugleich, inwiefern gemäß ursprünglicher reformatorischer Einsicht der Selbsterweis göttlicher Vertrauenswürdigkeit die Bedingung der Möglichkeit menschlichen Gottvertrauens darstellt. »Es gäbe kein Gottvertrauen, wenn es nicht möglich wäre, Gott zu vertrauen, weil Gott sich von sich aus als vertrauenswürdig erweist.« (421)
Der theologisch konzentrierteste Ausdruck hierfür sei die Trinitätslehre, die in der Sprache der dritten Person lehrhaft dasjenige formuliere, was im Bekenntnis zum deus pro me und pro nobis in der Sprache der ersten und zweiten Person zum Ausdruck komme (vgl. 425, Anm. 6). Gott hat »sich selbst durch Christus und seinen Geist als unser Vater so bestimmt, dass Menschen ihm vertrauen und auf ihn hoffen – ganz und gar vertrauen und ganz uneingeschränkt auf ihn hoffen – können« (427). Dalferths Begriff göttlicher Selbstbestimmung und seine Implikationen wären einer eigenen trinitätstheolo­gischen Untersuchung wert. Sie kann hier ebenso wenig geleistet werden wie eine Detailanalyse der übrigen systematischen Beiträge zum Thema (A. Hunziker, J. Werbick, E.-M. Faber, C. Welz, A. K. Min).
Ein von allen geteiltes Resultat präzise zu identifizieren, fällt schwer, wie S. Peng-Keller und A. Hunziker in einer abschließenden Bilanzierung (vgl. 437–479) selbst einräumen. Die Stärke des Bandes liegt weniger im gemeinsam erzielten Ertrag als in der Eröffnung vielfältiger Perspektiven. Komplexität wird eher gesteigert als re­duziert. Zwar mag man in der »Öffnung auf die jüngere philosophische Vertrauensdiskussion« (9; vgl. 442 ff.) eine formale Ge­-meinsamkeit namentlich der systematisch-theologischen Beiträge entdecken; doch zeigt sich bei näherem Zusehen rasch, dass die Bezüge zum Vertrauensdiskurs der Philosophie theologisch unter durchaus unterschiedlichen Prämissen vorgenommen werden.
Dass auch in ökumenischer Hinsicht Fragen offen bleiben, ist wenig überraschend. So wird, um beim Eingangsbeispiel zu bleiben, Melanchthons »Unterscheidung zwischen notitia, assensus und fiducia bzw. zwischen einer kognitiven, volitiven und affektiven Dimension des Glaubens« (466) bilanzierend als »ein gleich in zweifacher Hinsicht attraktives Vermittlungsmodell« (ebd.) empfohlen: »Zum einen bietet es eine anthropologisch plausible Be­schreibung des Grundvollzugs christlichen Lebens. Zum andern artikuliert es das reformatorische Anliegen in einer für die katho­lische Theologie gut rezipierbaren Weise. Es kann als reformatorische Variante der auf dem Konzil von Trient vorherrschenden Vorstellung gelesen werden, dass die Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe sequentiell gelesen werden muss: als ›hintereinander liegende Phasen des einen und in diesen Phasen wachsend zu sich selbst kommenden Grundvollzugs‹.« (Ebd.; unter Verweis auf K. Rahner, Glaube als Mut, in: Ders., Schriften zur Theologie. Bd. 13, Zürich u. a. 1978, 252–268, hier: 255.) Die Abfolge von notitia, assensus und fiducia als reformatorische Variante der triden­tinischen Sequenz von fides, spes und caritas: Kann man das so sagen? Der orthodoxe Altprotestant König hätte gewiss Bedenken gehabt.