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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

590–592

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Marquardt, Friedrich-Wilhelm

Titel/Untertitel:

Theologie in der bürgerlichen Gesellschaft. I: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Vorlesung im Wintersemester 1975/76 an der Freien Universität Berlin, aus d. Manuskript rekonstruiert u. hrsg. v. A. Pangritz unter Mitarbeit v. J. Jäntsch.

Verlag:

Bonn: Orient & Okzident 2012. 235 S. Kart. EUR 978-3-9806216-5-6.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Rohling, Detlef: Omne scibile est discibile. Eine Untersuchung zur Struktur und Genese des Lehrens und Lernens bei Thomas von Aquin. Münster: Aschendorff 2012. VIII, 384 S. = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, 77. Kart. EUR 53,00. ISBN 978-3-402-10287-9.


Bei dem hier vorgelegten Text handelt es sich um das Manuskript der ersten Vorlesung, die Friedrich-Wilhelm Marquardt nach seiner Berufung an die Freie Universität Berlin gehalten hat. Entsprechend beginnt die Vorlesung in einem mit § 1 bezeichneten Ab­schnitt mit allgemeinen Erörterungen über historisch-soziale Konstitutionsbedingungen der Theologie, ihren Gegenstandsbereich und ihre Historizität (19–31). Angemahnt werden ein Pluralismus der »Theologien« (22) und der Verzicht auf die »reine Sache« der Theologie (23), die M. in Entsprechung zur reinen Vernunft setzt und – unter Bezug auf Kant und Hegel – als »Abgehobenheit des absoluten Geistes« charakterisiert (24). Dies sei »die Situation, die die Romantik gegen die Aufklärung bezeichnet« (24). Dabei fällt unter den Tisch, dass die reine Vernunft seit Kant (und zumal bei Hegel!) als ge­schichtlich gedacht wird und der Gegensatz von Aufklärung und Romantik eine Chimäre ist, wie Helmut Schanze in seiner bahnbrechenden Dissertation bereits 1966 gezeigt hatte. Sodann wird der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft in einer Paraphrase Marxscher Zitate kurz skizziert und hervorgehoben, dass das »Deutschland der klassischen und romantischen Periode […] noch feudal« gewesen sei (36), was angesichts der um 1800 einsetzenden Modernisierungsschübe eine zumindest undifferenzierte Sicht ist.
Der zweite Abschnitt (§ 2, 45–103) ist dem »lexikalische[n] Begriff von Schleiermacher« gewidmet. Er beginnt mit einem weitgehend an Diltheys Biographie angelehnten Abriss der Entwicklung des jungen Schleiermacher bis zu seiner Schlobittener Zeit. Falsch ist, dass Schleiermacher bereits in Niesky und Barby mit Carl Gustav von Brinckmann befreundet gewesen sei (49); er lernte ihn erst während des Studiums in Halle kennen. Der folgende Ab­schnitt über Schleiermachers Verhältnis zur Französischen Revolution (58–71) besteht hauptsächlich aus langen Zitaten aus Briefen Schleiermachers sowie Texten von Goethe, Knigge und einem anonymen deutschen Jakobinischen Gedicht. Hier wie auch bei anderen Passagen ist kaum zu erahnen, was M. im freien Vortrag aus diesem Material gemacht haben könnte. Immerhin wird deutlich, dass er bereits ein Jahrzehnt vor Kurt Nowak die Bedeutung dieses Themas erkannt und es entsprechend gewichtet hatte. Der dritte und letzte Teil des zweiten Abschnitts behandelt dann das Verhältnis Schleiermachers zu den Romantikern (72–103). Er besteht vor allem aus Hinweisen auf die jüdischen Salons in Berlin, die Freundschaft mit Schlegel (auch hier wieder weitgehend nur ein Materialgerüst aus Zitaten) und die literarischen Produktionen der ersten Berliner Jahre, darunter eine knappe Inhaltsübersicht der »Reden über die Religion« (83 ff.). Merkwürdigerweise fehlt jeder Hinweis auf den anonym publizierten Essay »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«, der doch in vieler Hinsicht erhellend für Schleiermachers Leben in Berlin ist. Es schließen sich Stichworte zur weiteren Biographie Schleiermachers an, die ebenfalls nicht erkennen lassen, was in der Vorlesung daraus gemacht wurde.
Der dritte Teil der Vorlesung (§ 3, 105–201) kommt dann auf den Schleiermacher der Frühromantik zurück. Er beginnt mit der Auseinandersetzung um Friedrich Schlegels »Lucinde«, wobei zu­nächst eine umfängliche paraphrasierende Wiedergabe des Romans er­folgt (107–123). Dem folgen Notizen zur theologischen »Einordnung des sexuellen und aesthetischen Problems« (123 ff.); auf Schlei­ermachers Verteidigungsschrift wird nicht näher eingegangen. Recht unvermittelt springt die Vorlesung dann zur Judenfrage um 1800. Hier findet sich eine historische Skizze, Briefstellen Schleiermachers zur Judenfrage und eine ausführliche Paraphrase der »Briefe bei Gelegenheit …«, die Schleiermacher 1799 anonym publiziert hatte (152–162). Auch hier ist kaum zu erahnen, wie M. die ja doch bisweilen ambivalenten Aussagen Schleiermachers werten wollte. Es schließt sich dann ein ausführliches Referat der Monologen an (163–188), die offensichtlich dazu dienen sollen, die These zu belegen, Schleiermacher sei Theologe der bürgerlichen Ge­sellschaft. Betont wird, dass das Ich der Monologen kein isoliertes sei, sondern mit der Welt vermittelt sei, welche »Begriff menschheitlicher gesellschaftlicher Arbeit« sei (173). Die Durchführung dieser These ist jedoch kaum zu erkennen. Den Abschluss bildet ein kritischer Rückblick, der betont, dass Schleiermacher auf die Selbstverwirklichung des Individuums abzielt, welche das abstrakte Äquivalenzprinzip der bürgerlichen Gesellschaft unterläuft. Biblisch wäre der Gedanke einer nicht-abstrakten Allgemeinheit in der Trinität vorgebildet.
Als Anhang ist ein undatiertes Manuskript beigegeben, das sich mit Karl Barths Schleiermacher-Deutung auseinandersetzt (203–217); editorische Notiz, Literaturverzeichnis und Personenregister beschließen den Band.
Das Vorlesungsmanuskript ist ein historisches Dokument, das die durch die Studentenbewegung geprägte Atmosphäre der 70er Jahre in (West-)Berlin in Erinnerung ruft. Es repräsentiert einen überholten Forschungs- und Diskussionsstand zu Schleiermacher und selbst zum Verständnis der Theologie M.s trägt es kaum bei, da es weitgehend den Charakter einer Materialsammlung hat. An­ders als etwa bei Klaus Heinrichs »Dahlemer Vorlesungen« aus den 1960er und 1970er Jahren stellt sich beim Leser auch keine Faszination ein. Die Frage, weshalb es dieser Text verdiente, veröffentlicht zu werden, beantwortet auch das Vorwort nicht.

Berlin Andreas Arndt




Detlef Rohling will in seiner Kölner philosophischen Dissertation, angefertigt bei Andreas Speer, aufzeigen, »wie vielschichtig Thomas die menschlichen Tätigkeiten des Lehrens und Lernens konzipiert« (367). Die Universitäten hätten damals erstmalig weitreichende Angebote eines institutionalisierten Lehrens und Lernens geboten. Thomas habe das Lernen und Lehren nicht nur erlebt und gelebt, sondern auch reflektiert und thematisiert (III). Dabei war er der einzige Autor, der im Mittelalter eine Quaestio de magistro verfasst hat – und zwar im Rahmen seiner Quaestiones de veritate. Er knüpft vor allem bei Aristoteles an, weniger bei Augustin, der bekanntlich auch ein Traktat (Dialog) zu diesem Thema verfasst hat. Auch andere Schriften von Thomas zieht R. heran. Wie häufig bei mittelalterlichen Autoren, bemüht sich der Aquinate bei diesem Thema, das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf zu klären. Ihm geht es dabei um eine »Orientierung des Menschen hinsichtlich seines Selbst- und Weltverständnisses« (5). Von einem persönlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis ist – anders als bei Augustin – nichts zu erfahren.
Nach einem kurzen Überblick über den Stand der Diskussion beschreibt R. den hermeneutischen Kontext von Lehren und Lernen (17–46), zeigt die Vorlagen der Tradition auf (47–84), beschreibt die epistemische (85–134) und die schöpfungstheologische Ebene (135–158), dann – sehr ausführlich ausholend – die philosophisch-anthropologische Ebene (159–288) und schließlich die soziale und politische Ebene (289–365). Seine Untersuchung beschließt er mit »Rückblick und Ausblicke« (367–370). Literaturverzeichnis und Personenregister sind beigegeben.
R. geht davon aus, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat und ihn »durch Intellektbesitz, Entscheidungsfreiheit und Selbstmächtigkeit« ausstattet und so imago Dei sein lässt (21). Damit besitzt der Mensch die »selbsttätige Herrschaft über die eigenen Handlungen« (30). Als Vorlagen der Tradition nennt er neben Augustin (nur sehr knapp) Gregor den Großen, Gundissa­linus, Robert Kilwardby und Albertus Magnus. Obgleich der Mensch hingeordnet ist zur vollkommenen Erkenntnis Gottes, kann er diese nur durch Gottes Eingreifen erreichen. Thomas un­terscheidet eine vernunftkonforme Seinswirklichkeit Gottes von einer vernunftübersteigenden. Das besagt, die Wissenschaft vom Göttlichen ist eine doppelte, eine philosophische und eine theologische (80). Die Rezeption der aristotelischen Philosophie erfordere eine gründliche Revision der tradierten Lehr- und Lerninhalte. Um das viele Wissbare in eine Einheit des Wissens zu führen, plädiert Thomas dafür, statt der als unzureichend empfundenen artes liberales das aristotelische Wissenschaftsmodell zu rezipieren (85 f.), er optiert für dessen Akt-Potenz-Lehre.
Die schöpfungstheologische Ebene beschreibt R. reichlich kurz. Gott als Primärursache alles Seienden zeigt sich nicht nur in der Erstursächlichkeit, sondern ebenso in der Exemplarursächlichkeit (138 f.). Dabei betont Thomas die Freiheit des Menschen zum eigenen Erkenntniserwerb. Sie ist ihm offensichtlich wichtiger als die absolute Richtigkeit der Erkenntnisinhalte (146). Lehren ist »Verursachen von Wissen« (153). Inwiefern es sich dabei um einen »exzeptionelle[n] Kausalitätsprozess« handelt, hat sich dem Rezensenten nicht erschlossen. Und ob der Mensch selbst die Initiative dazu ergreifen kann, die »gleichsam steigerungsfähige« imago Dei durch Aktualisierungen seiner intellektiv-voluntativen Fähigkeiten zu zeigen, wird umstritten bleiben. In diesem Leben könne der Mensch jedenfalls in gewisser Weise Gott imitieren (156 f.).
Auf der philosophisch-anthropologischen Ebene unterstreicht Thomas, dass der Mensch »selbstursächlich für seinen Mitmenschen« zum Lehrer werden und »in diesem Prozess einer Lehrer-Schüler-Relation in den unterschiedlichsten Wissenschaften viele neue Erkenntnisse vermitteln« kann; die Reichweite dieser Er­kenntnisse weise klare Grenzen auf (165 f.). So sagt Thomas: »Der Lehrende verursacht im Lernenden nicht die Wahrheit, sondern die Erkenntnis der Wahrheit.« Dafür erstellt er einen ordo scientiarum (170.194). Für die menschliche Erkenntnis ist die Verbindung von Leib und Seele notwendig, Thomas sieht also in dem Prozess Lehren-Lernen auch eine körperliche Verbindung (265 f.). Noch einmal kommt R. auf die theologische Komponente des Lehren-Lernen-Verhältnisses bei Thomas zu sprechen, nämlich bei der Frage nach dem Exemplum. Denn »omnis Christi actio nostra est instructio«. Christus ist es, der »für uns den Weg der Wahrheit an sich selbst aufgezeigt hat« (286).
Dieses Lehren-Lernen anhand eines Exemplums hat nun gerade auch seine Bedeutung auf der sozialen und politischen Ebene. Dabei behandelt R. das Thema »artes und Wissenschaften« ausführlich. Er sieht die artes liberales als »freiheitlich-wollende Hinwendung auf ein Wissen«, sie sind »frei von jeglicher Zweckdienlichkeit«, weil sie angefüllt sind »mit einem Wollen auf ein Wissen«. Darum sind für Thomas die artes liberales den artes mechanicae überlegen (305f.). Es erstaunt freilich, wie positiv jetzt die artes liberales gesehen werden, waren sie doch zunächst als unzureichend empfunden worden (86). Aber auch die artes mechanicae werden positiv gesehen, sei der Mensch doch erschaffen für ein »gemeinschaftliches und staatliches Leben«; ihm sei die Vernunft gegeben, um imstande zu sein, von seiner Hände Arbeit zu leben. Die artes liberales dagegen bereiten den geistigen Boden dafür, das letzte Ziel zu erreichen (319–321). Dies besteht in der Erkenntnis Gottes und in der Gemeinschaft mit ihm. Und doch ist das Ziel des Lehrens in der vita activa verortet (333).
R. legt eine kluge Untersuchung vor. In ihr wird deutlich, »Lehren und Lernen greift über einen didaktischen Prozess hinaus« (5). Thomas verteidigt »Lehren und Lernen als eigenständige menschliche Handlungen, die unter der Leitung der Vernunft und durch die flexible und leistungsstarke Akt-Potenz-Struktur keineswegs an Sicherheit der Erkenntnis und an Verpflichtung zur Wahrheitsfindung einbüßen« (368). Freilich ist R.s Schrift nicht leicht lesbar, er gebraucht manche unübliche Begriffe, auch sind zahlreiche Druckfehler zu beklagen. Insgesamt kann aber die Lektüre empfohlen werden, zumal Arbeiten zu Thomas heute seltener geworden sind, hat sich doch das Schwergewicht der Forschung zur mittelalterlichen Philosophie und Theologie auf zahlreiche andere Denker verlagert, deren Leistungen bisher viel zu wenig berück­sichtigt wurden. Mittelalterliches Denken umfasst mehr als nur das des einen unbestritten großartigen Meisters.