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Ausgabe:

April/1996

Spalte:

381–383

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Brinkmann, Frank Thomas

Titel/Untertitel:

Glaubhafte Wahrheit –­ erlebte Gewißheit. Zur Bedeutung der Erfahrung in der deutschen protestantischen Aufklärungstheologie.

Verlag:

Rheinbach-Merzbach: CMZ-Verlag 1994. 320 S. 8o = Arbeiten zur Theologiegeschichte, 2. ISBN 3-87062-023-4.

Rezensent:

Matthias Heesch

Die Theologie der Aufklärung ist schon immer als Beginn historisch-kritischer Exegese und Kirchengeschichtsschreibung gewürdigt worden. Hinsichtlich ihrer systematisch-theologischen Leistungen steht sie aber im Schatten einerseits der Erfahrungstheologie des Pietismus, andererseits der auf die Transzendentalphilosophie rekurrierenden Theologie ab etwa 1800. Um deutlich zu machen, daß die Systematische Theologie der Aufklärung wesentliche Einsichten des Pietismus auf ihre Weise weiterführt und Grundeinsichten der auf einer transzendentalen Subjektivitätstheorie aufbauenden Theologie nach 1800 mit anbahnt, ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Aufklärungssystematik erforderlich (89 u. a.). Gerade im Interesse der Herausarbeitung der theologiegeschichtlichen Leistungen der Neologie (Aufklärungstheologie) sollte diese dabei in ihrer inneren Differenziertheit rekonstruiert und nicht primär als Übergangsstadium zwischen vermeintlich bedeutenderen theologischer Richtungen in den Blick kommen (90). In seiner hier zu besprechenden Dissertation unternimmt Frank Thomas Brinkmann den Versuch einer solchen Aufarbeitung.

B. geht davon aus, daß die deutsche Aufklärung ein konstruktives Interesse am Christentum hat (84 f., 204-208 u. a.). Ihr geht es darum, das Christentum in die Einheit der sich insgesamt ausweitenden menschlichen Erkenntnis aufzunehmen (85 u. a.), da nur dann die ethische Relevanz dieser Erkenntnis gesichert ist (223). Aus dieser Herangehensweise ergibt sich ein quasi "pragmatischer" Typus der Religiosität (234 u. a.). Erfahrung ist der Modus, in dem diese lebenspraktisch relevante Religiosität ihre Angemessenheit zu erweisen hat (296 f. u. a.). Insoweit bestätigt das hier vorgelegte Werk die bisherigen Erkenntnisse über die Grundüberzeugungen, die sich aus der theologischen Rezeption der Aufklärung ergeben haben.

B. unternimmt es nun, bestimmte negative Wertungen kritisch zu überprüfen, die bezugnehmend auf die skizzierte Gesamttendenz immer wieder getroffen worden sind. Ist nämlich mit der "pragmatischen" Rekonstruktion des Christentums in der Aufklärung wirklich ein inhaltlicher Substanzverlust verbunden? Schon der Titel des Buches legt die gegenteilige Annahme nahe: Es geht um "Wahrheit" und um auf sie bezogene "Gewißheit", also jedenfalls um Inhalte. Vor allem anhand von fünf Autoren (Töllner, Leß, Spalding, Jerusalem, Semler) macht B. nun deutlich, wie die Theologen der Aufklärung eine "pragmatisch" pointierte Theologie mit einer fortschreibenden Bewahrung der überlieferten Lehrbestände zu verbinden suchen. Die Vernunft ist zwar grundlegend, aber sie kann nicht beanspruchen, aus sich heraus religiöse Kenntnisse zu ermöglichen (225). Vielmehr muß von einer anfänglichen Offenbarung ausgegangen werden (225, 227 u. a.). Dabei verschließt man nicht die Augen davor, daß die menschliche Geschichte seit der Schöpfung von Verfallsmomenten (262, über Semler) oder jedenfalls vom einstweiligen Nichtrealisieren der mit der Schöpfung des Menschen gesetzten Idee (180, 228 u. a., über Leß und Jerusalem) geprägt ist. Deswegen bedarf es der Erlösung in Christus (271 f. u. a.). Ihr Wesen ist es nun, eine ganzheitliche, d.h. emotionale und rationale, m.a.W. erfahrbare ethische Wirkung im menschlichen Leben zu entfalten (206 f. u. a.). B. zeichnet nach, wie genau dieses Moment von den behandelten Autoren als Aufklärung im eigentlichen Sinne gesehen wird (206, 208 u. a.). Damit wird deutlich, daß die theologische Rezeption der Aufklärung in der Neologie nicht so sehr einen Kompromiß zwischen Vernunft und Glaube, Philosophie und Theologie erzielen, als vielmehr das Christentum als diejenige geschichtliche Größe zur Geltung bringen will, die recht verstanden, seit jeher das Anliegen der Aufklärung verficht. Es wird außerdem klar, daß es die Konzeption der Erfahrung ist, die diesen Anspruch als eingelöst verifiziert (296 f. u. a.). Dieses hier in seiner Genese nur skizzenhaft nachgezeichnete Ergebnis wird anhand genauer und differenzierter Rekonstruktionen zu den erwähnten Autoren gewonnen und erscheint historisch ebenso gesichert wie systematisch schlüssig.

Gewisse Bedenken bleiben allerdings gegenüber B.s Versuchen, mit seinen historischen Rekonstruktionen einerseits Anschluß an klassische systematisch-theologische Positionen, andererseits aber (und dies vor allem) an die Gegenwartsdiskussion zu gewinnen. Das betrifft zunächst den methodischen Aspekt. Wäre es nicht besser gewesen, statt einer sehr umfangreichen und nicht immer geradlinigen einleitenden Diskussion der systematischen Kategorien "Erfahrung", "Theologie" und "Erfahrungstheologie" (27-78) bzw. der historischen Kategorie "Aufklärung" (79-96) mit der Darstellung der Aufklärungstheologie zu beginnen? Von daher hätten sich dann Aspekte entwickeln lassen, aufgrund derer danach der Beitrag der historischen Rekonstruktionen zur gegenwärtigen Diskussion kurz hätte skizziert werden können. Hier hätten gegebenenfalls auch kritische Anfragen an die Neologen ihren Ort haben können. Dieser methodische Einwand rührt auch daher, daß die inhaltliche Gestaltung der einleitenden Passagen des Werkes manche Einwände nahelegt. Zwar kommt Brinkmann schließlich zu dem Ergebnis, daß Erfahrung ein grundlegender Modus des Wirklichkeitsbezugs ist, der durch ein transzendental erschließendes Ereignis (Offenbarung) ermöglicht wird (77 f.). Dieser These ist zuzustimmen, sie hält Anschluß an den gegenwärtigen Stand einer phänomenologisch orientierten Systematischen Theologie. Aber es ist nicht immer einfach, beim Lesen der einleitenden Ausführungen zu verstehen, wie genau der Autor zu dieser Auffassung kommt. Nicht ganz einleuchtend ist zudem die Auswahl und Gewichtung der teils kurz referierten, teils offenbar als Belege für eigene Positionen herangezogenen Autoren. So wird etwa Schleiermachers Konzeption einer Erfahrungstheologie, die Theologie und Glaube von Moral und Metaphysik differenziert, um diese Relate dann ­ in gegenüber der Aufklärung neuartiger Weise ­ auf einander zu beziehen, zwar erwähnt (57 f.), aber weder ihrer Bedeutung entsprechend gewürdigt (ansatzweise allenfalls 58, 89), noch wirklich fruchtbar gemacht. Wäre dies geschehen, dann hätte ein wesentlicher Kritikpunkt an der neologischen Erfahrungskonzeption klarer herausgearbeitet werden können: Zwar bedenken die Neologen die affektive Seite der Religion (196 f. u. a.), gleichwohl arbeiten sie den grundlegenden Aspekt der Affekte nicht konsequent heraus. Besonders bei Melanchthon und später bei Schleiermacher wird betont, daß der Glaube eine affektive Gewißheit gerade von der Art ist, die andere handlungsleitende Gewißheiten in ihrer Tendenz bestimmt. In dieser Funktion ist der Glaube zwar "Erfahrung", aber als richtungbestimmend für andere Erfahrungen immer von diesen zu unterscheiden. Diese Differenzierung ist von den Reformatoren angebahnt (wie Brinkmann durchaus sieht: 57) und von Schleiermacher ausgearbeitet worden, sie scheint bei den neologischen Autoren zu fehlen. Der Glaube wird von ihnen zwar in seiner rational-emotionalen und insofern praxisleitenden Ganzheitlichkeit begriffen, was Brinkmann überzeugend nachzeichnet, aber er wird nicht dagegen gesichert, als "Datenerfahrung" verstanden zu werden. Diese Schwierigkeit, die bis heute in der Diskussion über die erkenntnistheoretischen Grundfragen der Theologie fortwirkt, hätte klarer werden können, wenn in der Arbeit eine Phänomenologie der Erfahrung von jenen klassischen Positionen her unternommen worden wäre, die sich der Differenzierung erschließender (Glaube) und aufgrund von Erschlossenheit ermöglichter Erfahrung angenommen haben. Ein abschließendes Kapitel auf dieser Grundlage hätte Leistungen und Grenzen der Neologie deutlicher werden lassen, als es in dem Werk jetzt gelingt.

Trotz dieser Schwächen bleibt Brinkmanns Arbeit ein beachtlicher Beitrag über einen bisher nicht gebührend gewürdigten Abschnitt der Theologiegeschichte. Die Herausarbeitung des ganzheitlichen (emotionalen, rationalen und deswegen handlungsleitenden) Charakters der neologischen Konzeption von Religiosität sowie der Relevanz der Christologie wird eine differenzierte Sichtweise der theologischen Aufklärung voranbringen. Dem wäre auch eine bei womöglich geringerem Umfang klarere Herausarbeitung erkenntnistheoretischer Grundfragen dienlich gewesen, die leider unterblieben ist. Gleichwohl hinterläßt das Buch einen insgesamt ordentlichen, in seinen differenzierten historischen Passagen sogar sehr guten Eindruck.