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Ausgabe:

März/1999

Spalte:

297–300

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Eysholdt, Tilmann

Titel/Untertitel:

Evangelische Jugendarbeit zwischen "Jugendpflege" und "Jugendbewegung". Die deutschen Schülerbibelkreise (BK) von 1919 bis 1934.

Verlag:

Köln: Rheinland 1997. IX, 552 S. m. Abb. 8 =Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 124. Geb. DM 42.-. ISBN 3-7927-1671-2.

Rezensent:

Werner Kramer

Die vorliegende Untersuchung, E.s Dissertation an der Philosophischen Fakultät Kiel, ist ein Werk von hoher kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlicher Relevanz. Gegenstand der Untersuchung sind die Bibelkreise (BK) unter Schülern höherer Lehranstalten, also fast ausschließlich Jungen des Bildungsbürgertums. Untersucht wird die inhaltliche und formale Gestaltung der BK-Arbeit in der Zeit vom Ende des Kaiserreiches 1919 bis zum Beginn der nationalsozialistischen Diktatur 1934. Besonderes Interesse liegt auf der Frage, wie die "Jugendpflege" des BK sich veränderte aufgrund von Einflüssen und Kritik der Jugendkulturen der Jugendbewegung "Wandervogel/ Freideutschtum" und "Bündische Bewegung".

Um die verwirrende Vielfalt der Phänomene, die Überschneidungen und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen fassen und verstehen zu können, schließt der Vf. an die Generationentheorie von Karl Mannheim (1928) an und unterscheidet mit diesem "Generationslagerung" (bestimmte Geburtsjahrgänge im gleichen historisch-sozialen Raume) "Generationszusammenhang" (Erlebnis der gleichen Ereignisse, z. B. das Fronterlebnis, im Prozeß des gesellschaftlichen Wandels) und "Generationseinheit" (Gruppen, die sich aufgrund unterschiedlicher Reaktionen auf diese Erlebnisse bilden). Es geht dem Vf. darum, die Ausdifferenzierung der Generationseinheiten aufgrund ihrer unterschiedlichen Reaktionen auf die Erlebnisse des Generationszusammenhangs zu verstehen. Zu diesem Zwecke stellt er in der ersten Hälfte seines Buches die pietistische Religiosität und Konzeption der "Jugendpflege" im BK dar, um darauf nach dem gleichen Schema Kritik und Neuansätze der "freideutschen" und der "bündischen Jugendbewegung" aufzuarbeiten.

Die Schülerbibelkreise stehen als Gründung des Neupietismus und der Gemeinschaftsbewegung in pietistischer Tradition. Zentrale Fragen der pietistischen Religiosität sind Wiedergeburt und Heilsgewißheit. Die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit soll zum zutiefst emotionalen Erlebnis der "Zerbrechung" führen. Daraus folgt das Bekenntnis zum persönlichen Gott und das heilsgewisse, wiedergeborene Leben. Dieses zeigt sich in der ausgesprochen elitären und rigorosen "Virtuosen-Ethik" des BK. Sie ist Wurzel und Ausdruck des Sendungsbewußtseins der BKler, deren Ziel die Missionierung der Menschen ihres Umkreises ist.

Das pietistische Konzept der Jugendarbeit zeigt sich im offenen Bibelkreis, der dem BK den Namen (zunächst Bibelkränzchen, dann Bibelkreis) gegeben hat. Der BK-Leiter ist ein Erwachsener, der selber Bekehrung und Zerbrechung erlebt hat. "Als konservativer, durchaus unternehmungslustiger Autokrat hat der Bibelkreisleiter im Sinne der BK-Ethik auch eine erzieherische Funktion, die selbstverständlich gesellschaftskonform war." Gehorsame Unterordnung unter den Leiter und stark eingeschränkte Mitwirkungsmöglichkeit kennzeichnen die Rolle der Schüler im BK. Während die wöchentlichen Bibelbesprechungen, Andachten, Gebetsgemeinschaften und sittlich-seelsorgerliche Einzelgespräche als Hauptsache galten, waren bei den BKlern die andern Aktivitäten wie Kriegs- und Speerspiele (schon von Anfang an), Schnitzeljagden, Museumsbesuche und Familienabende beliebt. Ein besonderer Zweig der BK-Arbeit waren Ferienfahrten und Freizeiten. Anders als bei den Fahrten des Wandervogels in kleinen, gemischten Gruppen kam beim BK meist eine große Zahl von Knaben zusammen. Dabei ging es um "Rast-, Rüst-, und Erweckungszeiten für den inneren Menschen". Ein Problem, das nie wirklich gelöst werden konnte, betraf die Sammlung der Alt-BKler nach ihrem Schulaustritt. Viele hatten offenbar kein Bedürfnis nach Fortsetzung eines BK-Lebens in der geprägten und autoritätsorientierten Form des Neupietismus.

Der BK als Sammlung von Jugendlichen konnte von den Umbrüchen und Entwicklungen der Jugendkultur nicht unberührt bleiben. Wie Inhalte und Form der Jugendbewegung (Wandervogel/Freideutsche und Bünde) kritisch und verändernd auf den BK eingewirkt haben, stellt der Vf. anschließend dar.

Der Generationszusammenhang der freideutschen BKler bestand im gemeinsamen Weltkriegserlebnis an der Front. Das pietistische jenseitsorientierte Glaubensverständnis wich der Diesseitsorientierung, "dem Ruf nach ’Tat’ und einem übermäßigen Ganzheits- und Harmoniebedürfnis". Im Religiösen ging es um die Suche nach dem "unbekannten Gott". Religiöse Erlebnisse wurden "ganzheitlich am eigenen Körper, in der Natur und im verbal-pathetischen Selbstopfer für die Gesellschaft" gesucht. Dieser Selbstopfergedanke erscheint als säkulare Umformung der pietistischen Zerbrechung und gleichzeitig als Richtpunkt der so veränderten "Virtuosenethik". Das freideutsche Konzept der Jugendarbeit forderte die "freie Selbstbestimmung" der BK-Gruppe. Die Jugendlichen verstanden sich nicht mehr als Missionsobjekte. An die Stelle des erwachsenen Leiters, dem man Unterordnung schuldete, sollte der wenig ältere Führer und Freund treten. Jeder übergeordneten Organisation und einer Einbindung in die Kirche stand man ablehnend gegenüber. Die realexistierenden BK boten ein buntes Bild der unterschiedlichsten Schattierungen von mehr pietistisch zu mehr freideutsch geprägter Religiosität und Konzeption.

Der Generationszusammenhang der bündischen Generation bestand im Erlebnis von Inflation und Weltwirtschaftskrise, was ein ausgesprochenes Krisenbewußtsein schuf. Die Mentalität war geprägt von "Sachlichkeit" und "Realismus", die angesichts des sozialen und wirtschaftlichen Wandels gefordert waren. Dies richtete sich sowohl gegen die pietistische Jenseitsfrömmigkeit als auch gegen die unbestimmte romantisch-religiöse Suche der freideutschen BKler.

Pietisten und Freideutsche erschienen als zu individualistisch. Die "Bündischen" selber waren ganz auf die Integration in die Gemeinschaft ausgerichtet. "Gemeinschaftserlebnisse in Form von Gleichschritt, Uniformen und ’Zucht’ bekamen quasireligiösen Charakter." Bündische Gemeinschaftsformen und Haltung wurden auf die Gesellschaft, auf das "Volk" als Ganzes, übertragen. Nationalistische Töne wurden laut schon vor dem Nationalsozialismus. Das bündische Konzept der BK-Arbeit ging aus von der geschlossenen Knabengruppe, in der militärische Disziplin herrschte. Hier fand man Geborgenheit und bündische Religiosität. Im Zusammenwirken mit einem "Führer" sollten Verantwortlichkeit und Mitbestimmung der BKler gefördert werden. Statt BK nannte man sich "Kreuzfahrer" oder "evangelische Jungenschaft" und wählte das "Schwertkreuz" als Emblem.

Die zweite Hälfte des Buches bietet im Wesentlichen drei Längsschnitte, in welchen Modifikation und Entwicklung von Grundthemen im Zeitraum 1919-1934 dargestellt werden. Hier erscheinen gewissermaßen Groß- und Detailaufnahmen von Phänomenen, die vorher lediglich gestreift wurden. Daß es da und dort zu Berührungen und Überschneidungen kommt, läßt sich bei dieser Anordnung nicht vermeiden. Dem Leser hilft dies, die Sache vertieft aufzufassen.

Der erste Längsschnitt befaßt sich mit dem offiziellen Glaubensverständnis der BK. Dabei zeigt sich der Einfluß der aufkommenden dialektischen Theologie und damit die Abgrenzung gegen die Deutsch-Gläubigkeit. Im zweiten Längsschnitt geht es um die stets wesentlichen pädagogischen Ziele und ethischen Grundhaltungen in den BK. Dem Vf. gelingen hier außerordentlich präzis gearbeitete, gut belegte und erhellende Kurzmonographien. Diese betreffen im persönlichen Umfeld z. B. die bürgerliche Sexualethik und das Frauen- und Mädchenbild sowie die bürgerlich neokonservative Sicht von Familie und Schule. Im weitern sozialen Umfeld geht es um die Verantwortung in Volk, Staat und Politik: die Frage des Nationalismus, das Politikverständnis, den Krieg und die soziale Frage, das Verhältnis zu den Linksparteien, zur Deutschnationalen Volkspartei, zum Christlichen Volksdienst und schließlich zu Antisemitismus und Nationalsozialismus. Der dritte Längsschnitt stellt detaillierter den Verlauf der Richtungskämpfe im BK mit den "Freideutschen" 1914-1923 und mit den "Bündischen" 1924-32 dar.

Von heute her ist es beklemmend zu sehen, wie breit die konservativen und nationalistischen politischen Zeitströmungen auch im BK-Milieu Raum fanden, auch wenn man keineswegs sagen kann, die BK seien im engern Sinne Promotoren des Nationalsozialismus gewesen. Solchen Fragen wird im angehängten kurzen Kapitel "Das Jahr 1933" und im "Ausblick: BK-Arbeit 1933-1945" nachgegangen. Da zeigen sich die unterschiedlichsten Spielarten von Kooperation, Widerstand und Anpassung an das neue Regime, das im Verlauf weniger Monate die Gleichschaltung auch im Bereich der Jugendarbeit durchführt.

Außer Nachträgen sind dem Buch sieben repräsentative Dokumente, Tabellen mit einschlägigen Statistiken, ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Namen- und Stichwortregister beigefügt. Besonders zu erwähnen ist die außerordentlich gute Auswahl der Zitate sowie die präzise, gut lesbare Sprache.

Auch inhaltlich ist das Buch von hoher Qualität: Das Bild der Entwicklung der Jugendarbeit durch drei verhängnisvolle Jahrzehnte deutscher Geschichte ist aufgrund differenzierter Wahrnehmung der vielfältigen Bezüge zu de n kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und mentalitätsgeschichtlichen Gegebenheiten entstanden, so daß es über den Gegenstand Jugendarbeit hinaus den Charakter eines gültigen Paradigmas gewinnt. Manches ist überdies erhellend auch für heutige frömmigkeitsgeschichtliche Entwicklungen.