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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

588–590

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Breul, Wolfgang, u. Christian Soboth [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Der Herr wird seine Herrlichkeit an uns offenbahren«. Liebe, Ehe und Sexualität im Pietismus.

Verlag:

Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen; Wiesbaden: Harrassowitz (in Kommission) 2011. VIII, 304 S. m. Abb. = Hallesche Forschungen, 30. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-447-06477-4.

Rezensent:

Martin Brecht

Geboten werden die Beiträge einer Tagung aus dem Jahr 2008. Der aus Halle stammende Zitat-Titel klingt zwar schön und für den Mo­ment zutreffend, ist aber nicht präzise. Der Untertitel hingegen lässt gegenüber der älteren Monographie von Fritz Tanner Die Ehe im Pietismus (1952) die nötige Verbreiterung der Betrachtungsweise erkennen. Tanners Darstellung behandelte unter biographisch-theologiegeschichtlichen Gesichtspunkten Böhme, Gichtel und die Separatisten, sodann Zinzendorf und die Brüdergemeine und schließlich flächig den kirchlichen Pietismus. Nunmehr ist die Betrachtungsweise erfreulich verbreitert, beispielsweise auf die So­zial-, Literatur- und Kunstgeschichte oder die Gender-Forschung. Die frühere Konzentration ist dabei freilich nicht durchgehalten.
Der Beitrag von Lothar Vogel »Die Waldenser des Mittelalters zwischen Heiligungsbestreben und dem Vorwurf sexueller Grenzüberschreitung« ist entbehrlich, da es ihm an wirklichen Quellen wie am Zusammenhang gebricht. Zu den tatsächlichen Voraussetzungen gehört zweifellos Luthers positive Bewertung der Sexualität und der Ehe, was dann von der lutherischen Or­thodoxie fortgeführt wird, wie Markus Matthias nuanciert zeigt. Die Rolle der Frau (im Haus) erfährt dabei eine Aufwertung. Eine zielgerichtete Weiterentwicklung bis ins 17. Jh. lässt sich nicht konstatieren.
Ralf Frassek fasst die »Evangelische Ehegerichtsbarkeit im Re­formationsjahrhundert« vor allem aufgrund der sächsischen Verhältnisse in den Blick. Man wünscht sich den Vergleich mit anderen Territorien oder Städten. Als imponierend wird die rechtliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern bewertet. Der wichtige Komplex der Schlichtung von Ehestreitigkeiten wird leider nicht berührt. Dies geschieht in der Untersuchung von Kristina Bake »Häusliche Gewalt in illustrierten Flugblättern der Frühen Neuzeit«. Damit wird durch die Kunstgeschichte eine neue Quelle zum Thema erschlossen. Leider verharren die Ausführungen je­doch weithin bei den Darstellungsproblemen und greifen nicht auf die dokumentierte Wirklichkeit aus. Dabei war das Interesse der Gesellschaft an diesem Thema schon wegen der daraus entstehenden Kosten nachweislich erheblich. Aira Võsa greift mit »Die Ehe bei Jakob Böhme und Johann Georg Gichtel« ein grundlegendes theologiegeschichtliches Thema auf, geht es doch dabei um die folgenreiche Lehre von Adams ursprünglicher Androgynität und sein Verhältnis zu Sophia. Aber auf gerade einmal acht Seiten lässt sich darüber nicht viel ausrichten. Die Wirkungsgeschichte dieser Vorstellungen bis hin zu Jane Leade in England, Michael Hahn in Württemberg und Johann Georg Rapp in Nordamerika bleibt außer Betracht. Die Einbeziehung von »Ehe und Sexualität in ka­tholischen Territorien des 17. und 18. Jahrhunderts« durch Susanne Hehenberger ist um des Vergleichens willen zwar erfreulich, doch bleibt der Beitrag weithin bei den kirchlichen Bestimmungen des Tridentinums und der Kanonistik stehen. Die soziale Wirklichkeit scheint hingegen noch wenig erforscht zu sein. »Die Darstellung von Familie in Nadere Reformatie und Pietismus« durch Sylvaine Hänsel befasst sich mit Familienporträts aus den einschlägigen Milieus und ist dazu reich illustriert. Der spezifische Bezug zur Frömmigkeit wird aber kaum evident. Ulrike Gleixner kann für ihre Untersuchung über »Geschlechterbeziehung und Subjek­tivität« im lutherischen Pietismus auf ihre eigenen Quellenforschungen zum württembergischen Pietismus zurückgreifen. Freilich wäre es wünschenswert, die Basis durch die Einbeziehung weiterer Familienverbände (z. B. Bengel oder Kullen) zu verbreitern, was sich von den Quellen her wohl machen ließe. Außerdem müss­te der Vergleich mit denselben Milieus in anderen Regionen erst noch gezogen werden. Trotz der an sich untergeordneten Position der Frauen können sie mit der in ihren Tagebüchern erfolgenden Reflexion zu eigenen Standpunkten gelangen, was dann weiter in die Gesellschaft des 19. Jh.s gewirkt haben soll.
Ein gewichtiges Exempel wird von Katja Lißmann mit »Die Eheschließung Anna Magdalena von Wurms und August Hermann Franckes (1694)« aufgegriffen. Den Hintergrund bilden die spannungsreichen religiösen und sozialen Verhältnisse des Quedlinburger Stifts. Das Hindernis der ungleichen Verbindung eines Bürgerlichen mit einer Adligen musste überdies erst noch überwunden werden. Verwunderlich ist, dass der Beitrag überhaupt nicht auf die spätere ehekritische Beeinflussung der Ehefrau durch Gichtel eingeht, was zu erheblichen Schwierigkeiten führte.
Mit »Der Pietismus und die Leiblichkeit des Menschen« will Jürgen Helm angesichts der unzulänglichen Erforschung der Körpergeschichte keineswegs eine solche des Pietismus bieten; der Autor beschränkt sich in Kürze auf drei Beispiele von Christian Friedrich Richter, Gotthilf August Francke und August Hermann Francke, die den Körper als Instrument oder Abbild der Seele oder als Ort religiöser Erfahrung betreffen. Dazu bedürfte es jedoch eines umfassenderen Zugriffs. Auch die Ausführungen Eva Kormanns über »Körper als Medien der Heilsgeschichte« aufgrund von drei Autobiographien um 1700 (darunter die des Ehepaares Petersen) sind beeinträchtigt durch die Sprödigkeit der Quellen sowie die schmale Materialbasis.
Peter Vogt führt materialreich die betonte »Männlichkeit Jesu in der Theologie Zinzendorfs« vor, die in der Christologie, in der Ehereligion des Grafen und innerhalb der maskulinen Identität der Brüdergemeine eine Rolle spielte. Zwar finden sich auch allerlei androgyne Vorstellungen, aber dem Vorrang der Männlichkeit Jesu tut dies keinen Abbruch. Man kann diese Gedanken theologisch nachvollziehen, aber sie wirken doch eigentümlich penetrant. Peter Zimmerling stellt mit »Ehe zu dritt?« die beiden Ehen Zinzendorfs mit Erdmuthe Dorothea von Reuß-Ebersdorf und danach mit Anna Nitschmann in den Zusammenhang von dessen Eheverständnis und beschreibt die beiden Beziehungen. Trotz mancherlei Spannungen wird dabei kein besonderes Problem vermerkt. Wolfgang Breul greift einige Verbindungen adliger Frauen (u.a. aus den Grafenhäusern Waldeck und Solms Laubach) mit bürgerlichen Pietisten unter dem Titel »Mesalliancen im Pietismus« auf. Auch auf die Verbindung von A. H. Francke mit Anna Magdalena von Wurm wird eingegangen. Abgesehen von dem erwartungsgemäß Anstoß erregenden Nonkonformismus lässt sich meist nicht allzu viel konstatieren. In diesen Zusammenhang wird auch die von Spener gutgeheißene Ehe von Johanna Eleonore von Merlau mit Johann Wilhelm Petersen einbezogen, deren Spezifika jedoch auf dem Gebiet ihrer theologischen Koproduktion liegen dürften. Den Schriftsteller Friedrich Heinrich Jacobi kann man zum Umkreis des rheinischen Pietismus rechnen. Carmen Götz geht »Liebe, Se­-xualität und Ehe« in Jacobis Briefwechsel und Werken nach und fragt dabei nach Parallelen zum Pietismus. Jacobi ist mit seiner Idealisierung und Entkörperlichung der Liebe freilich kein sonderlich ergiebiges Objekt. Hans-Georg Kemper weist kundig dem Pietis­mus seinen Platz in der neuzeitlichen Liebespoesie zu.
Der Band erweist sich so als ertragreiches Unternehmen. Freilich wäre bei den Einzelbeiträgen mehr Vollständigkeit und insgesamt eine flächendeckendere Behandlung erwünscht gewesen.