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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

583–586

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Tanner, Klaus, u. Jörg Ulrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Spurenlese. Reformationsvergegenwärtigung als Standortbestimmung (1717–1983). Hrsg. unter Mitarbeit von W. Flügel.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 304 S. = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 17. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03057-6.

Rezensent:

Christian Bogislav Burandt

Unter dem schönen Titel Spurenlese haben Klaus Tanner und Jörg Ulrich Aufsätze herausgegeben, die einen kleinen Teil der auf das Reformationsjubiläum 2017 hinführenden Arbeit an der Universität darstellen. In der Einleitung begründen sie ihr Engagement mit dem Selbstverständnis der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, zu der nicht nur der Wittenberger Theologieprofessor gehörte, sondern an der auch die Idee geboren wurde, zur 100. Wiederkehr des »Thesenanschlags« am 31. Oktober 1617 ein besonderes Reformationsgedenken zu begehen. Von daher sei es der Mar tin-Luther-Universität ein besonderes Anliegen, einen eigenen wissenschaftlichen Beitrag zum Reformationsjubiläum 2017 zu leisten. Vorbereitungen dazu haben in einer eigens gegründeten Reformationsgeschichtlichen Sozietät begonnen, in der Wissenschaftler der unterschiedlichsten Fachdisziplinen mitwirken (7). Der Sammelband fragt anhand von acht Studien zu verschiedenen Reformations- und Lutherfeiern des 18. bis 20. Jh.s, wie die Verortung in der reformatorischen Tradition für die Ausbildung spezifischer kollektiver Identitäten im jeweiligen zeitgenössischen Kontext genutzt wurde. Der geographische Schwerpunkt liegt auf dem Ausgangspunkt der Reformation in Mitteldeutschland.
Da das Jubiläum 1617 zu den am besten untersuchten histo­-rischen Jubiläen überhaupt gehört, beginnt die Reihe der Beiträge zum Thema mit Beobachtungen von Annina Ligniez zu Zeitdiagnosen in Reformationsjubiläumspredigten in Wittenberg im Jahr 1717. Sie resümiert, dass die Bekanntgabe des Konfessionswechsels des Kurprinzen (zum Katholizismus) kurz vor der Feier des Jubiläums das Bedrohungs- und Gefährdungsgefühl der kursächsischen Lu­theraner verstärkte und dies in den Predigten nachweisbar sei. Mit einer negativen Zeitdiagnose aufs Engste verbunden war der Aufruf zur Standhaftigkeit und Beständigkeit im Glauben und dem Festhalten am evangelischen Bekenntnis. Luthers Aussagen über die Grenzen des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit werden auf die zeitgenössische Gegenwart angewandt, das Mäßigungsgebot des Kurfürsten gegenüber anderen Konfessionen wurde nicht beachtet. Die Autorin charakterisiert das Jubiläum »als Ausdruck des Festhaltens am lutherischen Wahrheits- und Führungsanspruch« (69).
Wolfgang Flügel steuert Beobachtungen zur Selbstdarstellung deutscher Einwanderer in den USA angesichts des Reformationsjubiläums 1817 bei. Mit diesem Jubiläum inszenierten die deutschstämmigen Lutheraner eines der frühesten historischen Jubiläen in Nordamerika. Die Wahl der in Gottesdienst und Festschrift verwendeten Sprache (Deutsch oder Englisch) entschied, ob Öffnung oder Abgrenzung gegenüber anderen Denominationen geschehen sollte. Damit korrespondierte auf der inhaltlichen Ebene, wie die Reformation im Sinne einer ethnischen Identitätsformung ausgedeutet wurde. Auffallend ist, dass alle Theologen auf unterschiedlichen Argumentationswegen zu dem Schluss kommen, »dass die neue Heimat für die reformatorische Lehre die besten Möglichkeiten zu einer Ausbreitung gebe« (99).
In einem farbigen und facettenreichen Beitrag stellt Sebastian Kranich das Dresdener Lutherjubiläum 1883 vor. Nach einigen einführenden Bemerkungen zum Lutherjubiläum, bei dem zum ers­ten Mal der Geburtstag des Reformators gefeiert wurde und das »nach Ausmaß und medialer Durchdringung in ganz Deutschland« (103) einzigartig zu nennen sei, unternimmt der Autor den Versuch, Lutherdeutung und Lutherinszenierung in der Rückbindung an ihre Träger am Beispiel Dresdens zu analysieren. – Die Planungen von Kirchenvorständen und städtischem Ausschuss waren eng miteinander abgestimmt und von wechselseitigem Entgegenkommen geprägt. Bei allen Differenzen im Einzelnen »ist eine Klammer zu erkennen, die auf organisatorischer Ebene im Zusam­ menspiel der staatlichen, städtischen und kirchlichen Entscheidungsträger lag und auf inhaltlicher Ebene am besten mit dem Begriff des ›Kulturprotestantismus‹ zu fassen ist« (120). Zu beobachten sind Übergänge und der Austausch von Inszenierungsformen und -zeichen. Vortrag, Festzug und Denkmal wurden einerseits als Elemente der bürgerlichen Festkultur auch im Kirchenfest adaptiert, andererseits sollte die städtische Feier in einem ästhetischen, religiös-erhabenen Moment gipfeln. Gerade der städtische Festumzug (über 11.000 Teilnehmer und weit mehr Zuschauer) mit der Feier auf dem Neumarkt präsentierte Dresden als Stadt protestantischer Bürger. Mit der »symbolträchtigen Integration der Arbeiterschaft gelang eine Inszenierung protestantischer Dominanz« (129). In Predigten und Ansprache wurde in Dresden wie im ganzen Reich Luther vor allem als Deutscher vorgestellt und die Reformation als nationales Schlüsselereignis interpretiert. Dies konnte freilich sehr verschieden ausfallen. Superintendent Ernst Julius Meier brachte seinen Zuhörern »Luthers Theologia crucis nahe in einer Zeit, in der seelische Abgründe, Ängste und Zweifel im populären Lutherbild noch wenig Platz hatten« (135). Bis heute steht als bleibendes Inszenierungszeichen des Jubiläums die Martin-Luther-Kirche in Dresden Neustadt und das Lutherdenkmal vor der Frauenkirche vor Augen. Durch die Feier des Jubiläums sollte Dresden als protestantische Stadt behauptet werden.
Silvio Reichelt und Sebastian Kranich zeigen anhand der Reformationsfeiern der Universität Halle-Wittenberg die Rolle Martin Luthers als evangelischen Schutzheiligen: Bedroht von Sparmaßnahmen oder einer etwaigen Schließung besann sich der Lehrkörper auf den Schutzheiligen der Universität: Martin Luther wurde zum Namenspatron und Retter der Alma Mater erklärt: Von 1927 bis 1941 fanden jährliche Reformationsfeiern statt, die durch die Instrumentalisierung der Eigengeschichte zum Zweck der Be­standserhaltung durchgeführt wurden. Reichelt hält fest, dass sich kein direkter Zusammenhang zwischen der Namensverleihung (als Martin-Luther-Universität) und der Machtergreifung Hitlers 1933 belegen lässt. Anlass, Inhalt und Form des reformatorischen Gedenkens, das ursprünglich an die alte Linie der Universitätsgeschichte als Rettungsanker anknüpfen sollte, änderten sich durch die Integration nationalsozialistischer Feierformeln so stark, dass sich selbst in den Reihen der Hochschullehrer offener Widerstand regte. »Deshalb wurde die jährliche Feierpraxis 1941 zu Grabe getragen und erfuhr auch nach dem Krieg keine Wiederauferstehung.« (169)
Kranich referiert die verschiedenen gehaltenen Reden und be­obachtet: Einerseits kam keine Rede ohne einen Bezug zu Luther aus, andererseits schloss die Legitimation der Universität mit dem Namen des Reformators partielle Distanznahme zu Luther nicht aus. An der Rede des Psychiaters und Neurologen Paul Hilpert mit dem Titel »Die rassehygienische Forderung« lässt sich studieren, wo eine Reformations- bzw. Lutherfeier nicht mehr funktioniert. »Als Hilpert völkische Ideologie gegen christliche Ethik offensiv ausspielte, war er über die Grenzen dessen gegangen, was auch im Dritten Reich im Rahmen einer kulturprotestantisch-akademischen Feier zu Ehren Luthers zu sagen möglich war.« (193)
Nicola Willenberg zeichnet in ihrem Beitrag, »Mit Luther und Hitler für Glauben und Volkstum«, der den hausgemachten eigenen sächsischen Slogan zitiert, die Geschichte des Luthertages 1933 in Dresden nach. Sie beschreibt die Planungen im Reichslutherausschuss bis zum Platzen des ursprünglich geplanten Termins am 10. November, weil die staatlichen Stellen alle Aufmerksamkeit auf die Reichstagswahlen am 12.11. lenken wollten. Während die Reichskirchenregierung den ›Deutschen Luthertag‹ auf den 19. November verlegte, scherte die sächsische Landeskirche aus und setzte als Termin den 10. Dezember an, um eine breite Plattform für die Bi­schofs­einweisung von Friedrich Coch und die Legitimierung des sächsischen deutsch-christlichen kirchenpolitischen Kurses zu be­kom men. Als Fazit hält die Autorin fest: »Die von der sächsischen Kir­chenregierung groß angelegte Lutherfeier in Dresden mit einem Massenbekenntnis der sächsischen Jugend zu Kirche und Staat scheiterte genauso wie der Plan des Reichslutherausschusses, mit den Lutherfeiern im ganzen Reich die ›Einheitsfront des Pro­-tes­tantismus‹ zu demonstrieren.« (235) Die Idee der neuen Einheit des Protestantismus trug nicht, da die verschiedenen Interessengruppen bestrebt waren, ihre eigene Position im Kirchengefüge zu sichern. In der Nachwirkung des Luthergedenkens 1933 wurde »erstmals das Ansehen Luthers als Symbolfigur beschädigt« (237).
Wolfgang Flügel überschreibt seinen Beitrag zu den Konfessionsjubiläen der Kirchen und der SED in den Jahren 1967 und 1983 mit »Konkurrenz um Reformation und Luther«. Mit deutlichen Worten charakterisiert er das kirchenpolitische Anliegen der SED, den kirchlichen Einfluss in der Gesellschaft mit allen verfügbaren Möglichkeiten zurückzudrängen. 1967 gelang es der SED, kirch­-liche Jubiläumsveranstaltungen zu verbieten bzw. zu behindern und sie zusätzlich durch ein quantitatives Übergewicht eigener Veranstaltungen in ihrer Symbolizität zu marginalisieren. Den Kirchen gelang es im Gegensatz zur SED, glaubhaft das eigene Reformations- und Lutherbild zu transportieren und dies ohne Legitimationsdruck zur Affirmation zu nutzen. Die Staatspartei musste Schlüsselereignisse der Geschichte ihres ideologischen Konkurrenten nicht nur im Sinne der eigenen Geschichte uminterpretieren, sondern dafür auch Akzeptanz in der Bevölkerung ge­-nerieren. 1967 erzielte sie damit zumindest bei den Mitgliedern Erfolg, der ihr 1983 weitgehend versagt blieb. Die SED geriet in die Jubiläumsfalle dadurch, dass sie mit sich selbst in Konkurrenz trat und zeitgleich Ehrungen für Personen bzw. Ereignisse inszenierte, die zwei diametral entgegengesetzte Systeme symbolisieren (Kirche – Marxismus-Leninismus). Das historische Jubiläum selbst, so der Schluss, »eignet sich für die Stärkung vorhandener Identität, weniger aber für deren Neuschöpfung« (285).
Den thematischen Beiträgen vorangestellt ist ein Essay von Werner Nell, »Luther in seiner, Lutherfeiern in ihrer und in unserer Zeit. Bemerkungen zu einer Diskurs- und Kulturgeschichte«, der m. E. eher dem abschließenden Nachdenken dienlich ist denn einer einleitenden Eröffnung; darum die Behandlung an dieser Stelle. Der Autor hält fest: »In einer theoretisch, wissenschaftsgeschichtlich und analytisch ausgerichteten Perspektive stellen Jubiläen allerdings nicht nur Vergleichspunkte in einer linearen Anordnung dar, sondern bieten als Jubiläen von Jubiläen auch die Möglichkeit, sich über die Rahmensetzungen, Erwartungen und Rezeptionsbedingungen einer Selbstvergewisserung in Form eines ge­stalteten Ge­denkens, über die daran beteiligten Gruppen und Gruppeninter­essen, Erkenntnisabsichten und ggf. ideologisch ausgerichteten Handlungsprogramme zu informieren […].« (34) Ge­sellschaftliche Selbstbilder lassen sich erkennen und durch eine »reflexive Gesellschafts- und Kulturtheorie« mittels Vernunft be­grenzen.
Das Buch ist allen historisch Interessierten und besonders den mit 2017 befassten Organisatoren dringend als Lektüre zu empfehlen. Der anspruchsvolle Sammelband ermöglicht mit seinem Blick in die Geschichte ein konstruktives Nachdenken über Chancen und Risiken des Lutherjubiläums.