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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

570–572

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sandnes, Karl Olav

Titel/Untertitel:

The Gospel ›According to Homer and Virgil‹. Cento and Canon.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2011. XII, 280 S. = Supplements to Novum Testamentum, 138. Geb. EUR 106,00. ISBN 978-90-04-18718-4.

Rezensent:

Tobias Nicklas

In seiner neuen Monographie führt der Norweger Karl Olav Sandnes in eine wenig bekannte Literatur ein, die im Bereich neutes­tamentlicher Exegese wie auch altkirchlicher Forschung nur ein Schattendasein führt: die Welt christlicher Centones, hier be­son-ders antiker Paraphrasen der Evangelien des Neuen Testaments, die sich aus Bausteinen der großen Werke Homers und Vergils zu­sammensetzen.
Vor allem die Arbeiten Dennis R. MacDonalds zum Verhältnis großer Teile der erzählenden frühchristlichen Literatur zu den Schriften Homers haben das Interesse an der Bedeutung großer, für die antike Erziehung bedeutsamer klassischer Werke für das Verständnis antiker christlicher Werke wieder geweckt. Hier setzt auch S. an: Obwohl sich im Neuen Testament nur wenige Zitate klassischer Literatur oder klare Anspielungen auf sie finden, geht MacDonald wohl zu Recht davon aus, dass in einer Welt, in der die Werke Homers und Vergils zumindest unter Gebildeten geradezu allgegenwärtig gewesen sein dürften, anzunehmen ist, dass diese Texte auch Einfluss auf die Erzählungen des Neuen Testaments gehabt haben. In diesem Zusammenhang entwickelte MacDonald den methodischen Zugang des Mimesis Criticism, mithilfe dessen er versuchte, die Nachahmungen großer Basistexte antiker Kultur im Neuen Testament zu verstehen. S. entwickelt durchaus Sympathie für diese Ideen, setzt sich aber in seinem eigenen Arbeiten (m. E. durchaus mit Recht) kritisch von MacDonalds Interpretationen neutestamentlicher Texte ab. Er schreibt: »MacDonald rightly criticizes a minimalistic attitude to the influence of classical legacy in New Testament texts. In my view, the problem is that Mimesis Criticism acts similarly, i. e. minimalistically, when New Testament passages are compared with Homeric texts. The texts are compared as isolated units, meaning that plot, narrative structures and strategies are not sufficiently accounted for.« (17)
S. selbst bettet seine Untersuchung in eine Darstellung wichtiger Elemente antiker Schulung in Rhetorik an. Besonders wichtig für seine weitere Argumentation sind die Elemente von Paraphrasis, Mimesis und Emulatio. Nach einer Einführung zur Person und literarischen Technik des Juvencus, der in seine poetische Paraphrase der Evangelien, Evangeliorum Libri Quattuor, Verse aus Vergil einfließen ließ und damit zum Vorläufer späterer christlicher Centonendichtung geworden sei, stellt S. die Frage, warum es überhaupt zu christlichen Imitationen klassischer Texte gekommen sei. Neben dem naheliegenden Argument, der Stil der Evangelien sei zumindest gebildeten Schichten zu einfach gewesen und habe von paganer Seite her immer wieder Kritik auf sich gezogen, erkennt S. die Klassikergesetzgebung durch Kaiser Julian im Jahr 362 n. Chr. als einen konkreten Anlass dafür, dass Christen begannen, das klassische Erbe der Antike noch bewusster als bisher in Anspruch zu nehmen.
Ausführlich beschäftigt sich S. mit der klassischen Definition von Centones durch Decimus Magnus Ausonius; dabei wird be­sonders der Aspekt des Spielerischen hervorgehoben. Anhand einer Reihe zum Teil drastischer Beispiele macht S. deutlich, wie große Klassiker als Hypotexte, die als offen für die Gestaltung neuer Texte angesehen werden konnten, verstanden wurden. M. E. zu Recht verwirft S. den Gedanken, dass eventuell schon Kombinationen alttestamentlicher Zitate wie etwa Röm 3,11–18 als Ur­sprung christlicher Centones angesehen werden könnten. Das Hauptargument ist sicher darin zu sehen, dass wir es bei diesen Kombinationen nicht mit dem Versuch zu tun haben, neue narrative Linien zu kreieren.
So entdeckt S. die Ursprünge christlicher Centones bei Minucius Felix, der in Oct. 19,2 Sätze aus Vergils Aeneis und Georgica zu Aussagen über die Schöpfung zusammenstellt. Daneben werden Beispiele bei Tertullian und Irenäus vorgestellt. Bereits jetzt zeigt sich eine Eigenart christlicher Centones: »Christian centos are … representing a special case of the genre. The fact that two cano­nical texts are involved separates them from secular and pagan centos. […] The centos represent an idiosyncratic approach among those who did not wish to abandon the classical legacy. The pagan lines were now serving a new purpose, namely that of telling the story of Christ. The practice of composing centos was, of course, part and parcel of wider attempts at formulating the Christian faith in the forms and vocabulary of the celebrated past of the pagan society. Christian centos thus represent a dual attitude towards both the cultural canon and the Christian canon – both need to be refined, but in different ways.« (139 f.)
Wie das hier beschriebene Zueinander von kulturellem und christlichem Kanon konkret hergestellt wurde, zeigt S. durch die Kommentierung zweier Texte: dem aus Versen Vergils bestehenden Cento der Faltonia Betitia Proba (geb. um 320), das je zur Hälfte aus der Paraphrase alt- und neutestamentlicher Texte besteht, und dem vor allem eine Art von Evangelienharmonie bietenden Cento der Kaiserin Eudocia Athenais (Mitte des 5. Jh.s). An einer Vielzahl von überzeugend gebotenen Analysen der Kompositionstechniken wie auch des Umgangs mit den evozierten doppelten Intertexten zeigt S. sehr deutlich, dass wir es bei diesen Texten mit originellen und theologisch hochreflektierten Auseinandersetzungen mit dem Christusereignis zu tun haben – jedoch eben in der Sprache der großen Klassiker.
Die kleineren formalen Fehler (z. B. bei Zitaten aus dem Deutschen, aber auch bei griechischen Akzenten), die sich an der einen oder anderen Stelle in den Text eingeschlichen haben, schmälern das Gesamturteil nicht. S. hat hier ein wirkliches Desiderat aufgedeckt und zumindest in Teilen bearbeitet. Die vorgestellten Centones bilden tatsächlich einen Zweig christlicher, zum Teil als apokryph abgetaner Literatur, dem bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Auch die Diskussion um die Bedeutung der großen »Klassiker« der Antike für das literarische Erbe des Chris­tentums wird von S.’ Arbeit wichtige Impulse erfahren. Etwas weiter ausziehen können hätte man vielleicht noch das im Untertitel anklingende Thema »Kanon«. Was bedeutet es für unser Verständnis der Entwicklung des christlichen Kanons, wenn noch im 5. Jh. die homerische Paraphrase einer Evangelienharmonie möglich war, in der wir nicht nur Elemente aus den kanonischen Texten, sondern durchaus – aus heutiger Sicht – Apokryphes entdecken? Und was bedeutet die Möglichkeit der Paraphrasierung von Evangelientexten im klassischen Stil für ihre tatsächliche Autorität bis in den Wortlaut hinein?
S.’ spannende Arbeit ist ein wichtiger Ausgangspunkt, doch hoffentlich nicht Endpunkt der Untersuchung eines hochinteressanten Zweigs antiker christlicher Literatur.