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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

568–570

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bauspieß, Martin

Titel/Untertitel:

Geschichte und Erkenntnis im lukanischen Doppelwerk. Eine exegetische Untersuchung zu einer christlichen Perspektive auf Geschichte.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 608 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Ge­schichte, 42. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-03020-0.

Rezensent:

Hans Klein

Das gelehrte Buch ist eine durchgesehene Fassung der im Jahre 2011 an der Universität Tübingen vorgelegten Dissertation von Martin Bauspieß. Es untersucht das seit der Aufklärung schwelende Problem, wie sich Geschichte und Erkenntnis im lukanischen Werk zueinander verhalten, welchen Stellenwert in den lukanischen Schriften den Ereignissen (res gestae) und der Darstellung derselben (historia rerum gestarum) zukommt. Dabei wird die Geschichte der Verständnisse nachgezeichnet, es werden die »wichtigen Linien« in den entsprechenden Schriften aufgedeckt (355) und die Erkenntnisse der Untersuchung gebündelt. B. stellt sich dabei als ein systematisch und geschichtsphilosophisch begabter Theologe vor.
In der Einleitung (15–32) weist B. auf die gegenwärtige Diskussion über die Geschichte hin, stellt fest, dass schon M. Dibelius gemeint hat, Lk predige, wenn er berichtet (19), und dass bereits in der Antike auf den Zusammenhang zwischen Geschichtsdarstellung und Erzählung hingewiesen wurde. Er vermerkt auch, dass Lk den Begriff »Geschichte« nicht gebraucht (23) und »Erkenntnis« nur narrativ entfaltet (25). Es geht ihm um die Perspektive der lukanischen Theologie auf Geschichte.
Die beiden ersten Teile sind der Geschichte der Forschung (33–104) und der gegenwärtigen Diskussion (105–172) gewidmet. In einem leicht lesbaren Stil arbeitet B. die Entwicklung der Forschung seit der Aufklärung auf. Gegenwärtig sieht er eine große Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte, wobei die neuere Diskussion über »sinnstiftende Darstellung« hervorgehoben wird (169). Dass all diese Konzepte sich auch einem sozio-kulturellen Umfeld und geschichtlichen Ereignissen verdanken, muss über B. hinaus festgestellt werden.
Im dritten Teil (173–248) analysiert B. das Proömium in Lk 1. Er ist davon überzeugt, dass Lk wie Mt, Mk und Joh die Autoren der Evangelien zu Beginn und am Abschluss ihrer Werke ihre Tendenz am besten erkennen lassen. Er weist auf Texte antiker Historiker hin, die in ähnlicher Weise ihre Bücher eingeleitet haben. Für B. ist Lk ein Theologe, der auch dort, wo er traditionelle Sprache ge­braucht, theologisch denkt. Theophilus ist nach B. ein Christ, als Leser sind Christen gedacht.
Im vierten Teil (249–303) betrachtet B. eingehend die Emmausgeschichte (Lk 24,13–35). Er betont, dass die »Erkenntnis« erst dort beginnt, wo der Auferstandene den Jüngern die Augen öffnet (V. 31), die bis dahin gehalten waren (V. 16), und macht an V. 21 deutlich, dass die historischen Ereignisse für den neutralen Betrachter keinen Glauben erzeugen. Erst durch das Offenbarungswort (V. 26) und den folgenden Glauben wird Jesu Geschichte als »Heilsgeschichte« erkannt. Die Soteriologie sieht B. in Jesu Auferstehung verankert, die er mit der Erhöhung, der Inthronisation zur Rechten Gottes zusammen sieht (282 f., vgl. 455). Dass der Weg Jesu vom Leiden zur Herrlichkeit im Sinne einer »mimetischen« Geschichtsschreibung (234 f.) eine Urbild-Funktion hat, der in der Gemeinde abbildhaft erlebt wird, wie Apg 14,22 zeigt, will B. nicht so gesehen wissen (283). Er erkennt auch nicht, dass die soteriologischen Aussagen über den Tod Jesu eine Bedeutung für die Gemeinde haben (Apg 20,28), wie auch in Eph 5,2.25 festgehalten wird, und dass die heilstiftende Annahme der Sünder durch Jesus (Lk 19,10) wie in 1Tim 1,15 gesehen ist, auch hier »mimetische« Geschichtsdarstellung.
Im fünften Teil (305–356) geht B. unter dem Gesichtspunkt von Geschichte und Erkenntnis einigen Texten im Evangelium nach. In Lk 1 f. kommt seiner Sicht nach die Hoheit Jesu besonders zum Tragen. Die Selbstvorstellung Jesu als Messias in Lk 4 und seine Taten haben das gleiche Ziel. Die Aussendung der Apostel bevollmächtigt diese zu den im Proömium gemachten Aussagen über die Augenzeugen, auf die sich die »Zuverlässigkeit« der Berichterstattung gründet. B. stellt immer wieder heraus, dass in Jesus das Heil gekommen ist, und versteht von daher Lk 17,20 f. als Aussage über das in Jesus verwirklichte Gottesreich (351).
In der Analyse des Proömiums in Apg 1,1–14 im sechsten Teil (357–412) erkennt B. die Apostel als Bindeglied zwischen der Jesuszeit und der Zeit der Gemeinde (371.382), beauftragt (365) zum Zeugnis (391), in dem Jesus präsent ist (396). Da nach B. die Auferstehung gleichzeitig Erhöhung ist, erfolgen die Erscheinungen innerhalb der 40 Tage vom Himmel her (378 f.), und weil die Gottesherrschaft im irdischen Jesus gegenwärtig war, soll sie durch die Apostel von der Auferstehung her neu erschlossen werden (384.390). Bei der Parusie ist sie wieder da.
Im siebenten Teil (413–459) entnimmt B. dem Pfingstbericht in Apg 2 das Verständnis, dass Gott durch den Geist Erkenntnis ermöglicht (424) und dass die geistbegabte Auslegung das rechte Zeugnis der Auferstehung Jesu darstellt. Ein Hinweis auf die Schrift ist also noch nicht ausreichend (451), erst durch die geistgewirkte Predigt kann Gewissheit erlangt werden (457). Im achten Teil (461–504) bespricht B. weitere Texte der Apg und entfaltet so etwas wie eine »Theologie der Auferstehung« (besonders 491). Er stellt fest, dass die Geschichten über sich selbst hinausweisen, aber nur durch das Zeugnis von der Auferstehung Jesu her erschlossen werden können. Auch die Schrift muss von daher neu verstanden werden (482). (Hier wäre ein Hinweis auf Lk 24,45 angebracht gewesen.) Unter neuen geschichtlichen Voraussetzungen muss sogar von der Führung des Himmels und der Schrift her ein neuer Weg gefunden werden, wie Apg 15 zeigt (489). Da Paulus in Rom »ungehindert« verkündigen darf, bleibt die Hoffung auf die »universale Verwirklichung des Heils« erhalten (501).
Der neunte Teil (505–533) will die lukanische Theologie als eine christliche Perspektive auf Geschichte aufzeigen. Dazu bespricht er antike Konzepte und spricht sich für ein Verständnis des lukanischen Doppelwerkes als pragmatische Geschichtsdarstellung (517–520) aus, in der die bekannten Ereignisse »nur noch geordnet und dargestellt« (518) und als sinnvoll erschlossen werden. Diese Sicht vergleicht er mit den neuzeitlichen Konzepten der Geschichtsschreibung und stellt fest, dass Lukas sich in diese grundsätzlich einfügt, dass er aber die geschichtlichen Ereignisse von der Auferstehung Jesu her erschlossen wissen will, der Leser also einer metanoia bedarf (wohl im Sinne eines durch Offenbarung erfolgten Umdenkens), um in rechter Weise zu erkennen.
Ein 45 Seiten (534–578) langes Literaturverzeichnis zeigt die Breite des Interessengebietes von B. an. Es ist klar, dass die Bücher nicht alle mit gleicher Sorgfalt zur Kenntnis genommen werden konnten. Dass einige Titel fehlen, z. B. M. Korn, Geschichte, W. Radl, Lukasevangelium, oder F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments, mag man ihm nicht verdenken. Hilfreich sind die angefügten Re­gister zu den Bibelstellen und zu antiken Schriften (579–594), zu Autoren (595–601), Sachgebieten (602–606) und griechischen Begriffen (606–607).
Man kann die Sicht von B. in folgendem Ausspruch zusammengefasst sehen: »Die lukanische Erkenntnisvorstellung ist somit soteriologisch qualifiziert, insofern Erkenntnis Teilhabe am Heilsgeschehen bedeutet. […] Erkenntnis im theologischen Vollsinn bedeutet für Lukas deshalb eine Verwandlung des ganzen Menschen. […] Gleichzeitig ist Erkenntnis inhaltlich bestimmt, sie enthält ein Wissen, das ausgesagt, verstanden und tradiert werden kann« (510). Wenn man »Erkenntnis« mit »Glauben« ersetzt und »Heilsgeschehen« mit »Rechtfertigung«, passt die Aussage auch für Paulus.
Es liegt ein geschlossenes Konzept vor, das die alte Kontroverse zu überwinden versucht, inwiefern Lukas als Historiker die Grundlagen des Glaubens festhalten wollte oder auch eine Botschaft wei­tergab und wie diese zu beurteilen ist. B. entscheidet sich dafür, dass Lk Gewissheit für den Glauben übermitteln wollte (Lk 1,3), einen Glauben, der durch das Wort der Zeugen möglich wird, weil »die Sichtbarkeit des Geschehens auf Erden […] ambivalent bleibt« (353). Hätte B. meine Lukasstudien (2005) gelesen, wäre er wohl auf den Vorschlag eingegangen, statt »Heilsgeschichte« die lukanische Wendung »Weg des Heils« (Apg 16,15) zu verwenden. B. nähert sich diesem Verständnis, wenn er (284) von einer »Soteriologie als Weg« spricht oder »den theologisch-soteriologischen Sinn« des Weges Jesu nach Jerusalem erkennt (409). Ein solches Konzept steht der »mimetischen« Geschichtsschreibung näher, ist aber von der Darstellung B.’ nicht weit entfernt. B. folgt der Begriffswelt der langjährigen Forschung.
Das anregende Buch bereichert die gegenwärtige Diskussion um die Theologie des Lukas und ist aus dem Diskurs darüber nicht wegzudenken.