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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

559–561

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Mühling, Anke

Titel/Untertitel:

»Blickt auf Abraham, euren Vater«. Abraham als Identifikationsfigur des Judentums in der Zeit des Exils und des Zweiten Tempels.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 396 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 236. Geb. EUR 99,99. ISBN 978-3-525-53098-6.

Rezensent:

Beate Ego

Im Zuge der Rede von den »abrahamitischen Religionen« hat in den letzten Jahren vor allem die Figur Abrahams gesteigertes Interesse gefunden. In diesem weiteren Zusammenhang steht auch diese an der Universität Heidelberg unter Betreuung von Jan Christian Gertz entstandene Dissertation. Anke Mühling vertritt die These, dass die Gestalt Abrahams sowohl in der biblischen Überlieferung als auch in der frühjüdischen Literatur als eine Identifikationsfigur für die unterschiedlichsten Trägerkreise fungiert.
Nach einer allgemeinen Einführung in die Thematik, in der die Vfn. auch darlegt, dass sie den Ansatz, aus den »Erwähnungen Abrahams in der hebräischen Bibel außerhalb der Genesis Rück-schlüsse auf die Entstehung der kanonischen Abrahamserzählungen« zu ziehen, konsequent weiterverfolgen möchte, »indem die sogenannten ›deutero- und außerkanonischen‹ Schriften aus hel­-lenistisch-römischer Zeit […] in die Betrachtung mit einbezogen werden« (13), folgt zunächst im ersten Kapitel eine forschungsgeschichtliche Rekonstruktion verschiedener Ansätze zur Auslegung der Abrahamserzählung sowie eine Darlegung unterschiedlicher Tendenzen der gegenwärtigen Forschungsdiskussion. Die Vfn. re­feriert hier den literarkritischen, den überlieferungsgeschichtlichen und den archäologischen Ansatz, um schließlich ein ihr plausibles Mo­dell der Entstehung der Abrahamsüberlieferung zu präsentieren. Dabei unterscheidet sie eine ältere vorpriesterliche Abrahamsüberlieferung, die ihren Kern in der Abraham-Lot-Erzählung hat (13*.18*.19*). Zu der priesterlichen Schicht wird Gen 11,27.31 f.; 12,4b.5; 13,6.11b.12a; 16,1a.3.15 f.; 17,1–27; 19,29; 21,2*.3–5; 23,1–20 und 25,7–10 gezählt. Als nachpriesterliche Fortschreibungen gelten Gen 12,10–20; 14; 15; 18,17–19.22b–32; 20–22 und Gen 24. Die ältere Abrahamserzählung wurde bereits nach dem Untergang des Nord reichs der Jakobsüberlieferung vorgeordnet; diesem Stadium ist wohl auch das Motiv zuzuordnen, dass Abraham und Sara zu Eltern Isaaks werden, wobei freilich nicht ausgeschlossen werden kann, dass es einmal eine mündliche Vorform von Gen 18 gegeben haben mag, die »noch unabhängig von der Isaak-Überlieferung« war (hierzu 42, Anm. 81; 45; zum Ganzen: 30–77).
Ein zweites Kapitel wendet sich dann Abraham in den übrigen Schriften der hebräischen Bibel zu (Ez 33,23 ff.; Jes 51,2; 41,8 f.; 63,16; 29,22; Mi 7,20; Jos 24; Neh 9,7 f.; Ps 47 und Ps 105), um dann als Fazit festzustellen, dass die Abrahamserzählung erst in der exilischen und nachexilischen Zeit ihre kanonische Gestalt gefunden hat. Abraham wird so zunächst zum Stammvater derjenigen Judäer, die nicht exiliert wurden, bis diese Figur schließlich auch diejenigen integrieren konnte, die unmittelbar von der Exilierung betroffen waren (77–112). In den weiteren Kapiteln folgt ein ausführlicher Durchgang der in der LXX überlieferten Schriften (z. B. Judith, Tobit etc.; 113–172), zu den nicht in der LXX überlieferten Schriften (u. a. Jubiläenbuch, Genesisapokryphon und zahlreichen weiteren Belegen aus Qumran; 173–248) sowie zu den Fragmenten jüdischer und nicht jüdischer Schriftsteller (Artapanus, der Tragiker Ezechiel, Pseudo-Hekataios, Philo, Josephus u. a.; 248–342). Hier findet sich auch ein knapper Exkurs zu Abraham im Neuen Testament (326–340).
In ihrer Auswertung der Einzeltexte, überschrieben mit »Abraham als Identifikationsfigur«, stellt die Vfn. dann verschiedene thematische Stränge zusammen, die für das breite Überlieferungsmaterial von Bedeutung sind, wie Abraham und seine Distanzierung vom »Götzendienst«, Abraham und die Erkenntnis des wahren Gottes, Abraham als Gelehrter und Philosoph, Abraham als Paradigma des Glaubens, Abraham als Stammvater Israels bzw. als Vater vieler Völker, Abraham als autochthone oder allochthone Gestalt, Abraham als Kriegsheld und »königliche« Gestalt, Abraham als Prophet und »Freund Gottes«, Abraham und das Gesetz. Die Arbeit schließt mit einem Exkurs zu Abraham im interreligiösen Gespräch sowie zu Fortschreibungen als Rezeptionsprozesse. Abraham, so lautet das Fazit, hat in der jüdischen, christlichen und muslimischen Tradition so viele divergierende Interpretationen er­fahren, dass diese Gestalt nur schwerlich als verbindende Integrationsfigur für diese drei Religionen fungieren kann. Im Hinblick auf den literaturhistorischen Ertrag der außerbiblischen Ab­rahamsüberlieferungen muss die Vfn. feststellen, dass diese nur wenig zur Erhellung der biblischen Rezeptions- und Fortschreibungstexte austragen können, da sie bereits auf die biblischen Abrahamstexte zurückgreifen. Der Prozess einer Ausgestaltung der Abrahamsüberlieferung, so kann die Vfn. am Schluss ihrer Untersuchung als generelle Feststellung notieren, ist auf jeden Fall aber nicht auf die außerbiblischen Texte begrenzt, sondern bereits für die biblischen Überlieferungen zu konstatieren. »In Analogie zu den Fortschreibungsprozessen im Jub oder auch im GenAp und anderen Schriften ist es gut vorstellbar, dass der Grundbestand der Abraham-Erzählung an vielen Stellen durch Fortschreibungen ergänzt und aktualisiert wurde, und dass dieser Vorgang in ›Schüben‹ erfolgte. So stützt die Betrachtung der ›außerkanonischen‹ Schriften für die Abraham- und vermutlich für die gesamten Vä­-ter­erzählungen neuere redaktionsgeschichtliche Hypothesen, die immer mehr das traditionelle Quellenmodell abgelöst haben.« Die Abrahamsbilder der Hebräischen Bibel können als ein »Produkt produktiver Fortschreibung bzw. sukzessiver Überarbeitungen eines literarischen Basistextes« verstanden werden. Wenn auch be­reits in vorexilischer Zeit ein Grundstock an Abrahamsgeschichten vorlag, so ist doch festzustellen, dass sich erst ab der exilischen Zeit ein vermehrtes Interesse mit dieser biblischen Gestalt verband. »Von dem Zeitpunkt an, an dem Abraham zum Vater Isaaks wurde, und die Abraham-Überlieferung am Beginn der er­zählten Volksgeschichte zu stehen kam, ist es gut nachvollziehbar, dass dem ersten Erzvater eine besondere Dignität zukam, die sich in den sukzessiven Fortschreibungen niedergeschlagen hat. Oder anders ausgedrückt: In dem Moment, in dem Abraham an den Anfang gestellt wurde, ist es nur natürlich, dass mit seiner Gestalt zunehmend grundlegende Vorstellungen verknüpft wurden.« (369; zum Ganzen: 343–370)
Die Vfn. hat hier eine insgesamt sehr gründliche Arbeit vorgelegt, die gut lesbar ist und einen hervorragenden Überblick zu den reichen biblischen und dann vor allem außer- und nachbiblischen Überlieferungen gibt. Es ist nur zu begrüßen, dass biblische und außerbiblische Überlieferungen einer Gesamtschau unterzogen werden. Die These, die die Vfn. in dieser Studie vorlegt, ist sicherlich nicht neu, und auch die verschiedenen Leitlinien, die am Ende der Arbeit genannt werden, sind bereits in anderen Zusammenhängen in der Forschungsliteratur (die leider hier nicht vollständig rezipiert wird) in den letzten Jahren dargestellt worden. Während die ältere Literatur aber eher einen groben Überblick gibt bzw. nur einzelne Aspekte beleuchtet, findet sich hier erstmals ein Werk, das konsequent versucht, den Weg von den Anfängen der biblischen Überlieferung bis in die Zeit des antiken Judentums hinein zu verfolgen. Durch zeitgeschichtliche Einflüsse kommt es – so die These der Vfn. – bereits in der alttestamentlichen Zeit zu Fortschreibungen, die das Bild des Erzvaters prägen und gestalten. Eine Fortführung dieses Prozesses findet sich dann in der frühjüdischen Literatur. Allerdings muss einiges bei dem Rekonstruktionsprozess der Traditionen, den die Vfn. hier vorlegt, im Unklaren bleiben. So stellt sich die Frage, wie die Vfn. damit umgeht, wenn sie einerseits davon spricht, dass die Abrahamtraditionen bereits in vorexilischer Zeit mit der Jakobtradition zusammengeführt wurden, andererseits dann aber diese Tatsache gleichsam als Initialzündung für die Ausschmückung der Abrahamsfigur in exilisch-nachexilischer Zeit veranschlagt. Versteht man die Vfn. richtig, dass die Erzählung von der Verheißung und Geburt des Sohnes Isaak nicht zur ursprünglichen Tradition gehört und erst der Verbindung mit der Jakobs überlieferung geschuldet ist? Unklar bleibt, wo Gen 16 zu kon­-textualisieren ist. Müsste man der Erzählung von Sara und der Verheißung bzw. Geburt eines Sohnes nicht einen größeren Stellenwert einräumen? Hier ist auf die bedeutsame Arbeit von Irmtraud Fischer, »Die Erzeltern Israels« (1994), und auf Ansätze aus der feministischen Theologie zu verweisen. Zudem wäre auch zu überlegen, ob der Begriff der »Fortschreibung« die Entstehung der biblischen und nachbiblischen Texte adäquat zu beschreiben vermag. Hier wäre es sicherlich weiterführend, neuere Ansätze (so z. B. Da­vid Carr »Writing on the Tablets of the Heart«, 2005) mit einzubeziehen, die die biblische Textproduktion, wie die Textproduktion des Alten Orients generell, im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sehen. Trotz dieser kritischen Anfragen bleibt als Fazit: Für die künftige wissenschaftliche Beschäftigung mit den Erzeltern ist mit dieser Arbeit auf jeden Fall ein wichtiger Schritt getan, und man ist der Vfn. für diesen grundlegenden Überblick und die Fragen, die sie aufwirft, dankbar.