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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

548–549

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Causse, Jean-Daniel, Cuvillier, Élian, et André Wénin

Titel/Untertitel:

Divine violence. Approche exégétique et anthropologique. Ouvrage publié avec le concours de l’université Paul-Valéry – Montpellier III, Centre de recherches interdisciplinaires en sciences humaines et sociales (CRISES).

Verlag:

Paris: Les Éditions du Cerf; Médiaspaul 2011. 222 S. = Lire la Bible, 168. Kart. EUR 19,00. ISBN 978-2-204-09316-3 (Cerf); 978-2-89420-830-4 (Médiaspaul).

Rezensent:

Eberhard Bons

Dieses engagiert geschriebene Buch versteht sich als ein Beitrag zur vieldiskutierten Frage der Gewalt, besonders der Art von Gewalt, die die biblischen Schriften Gott zuschreiben. Es handelt sich um ein Gemeinschaftswerk von zwei Exegeten (Élian Cuvillier, Montpellier, und André Wénin, Louvain-la-Neuve) sowie einem Psychoanalytiker und Ethiker (Jean-Daniel Causse, Montpellier). Alle drei sind sich der Problematik bewusst, dass eine größere Anzahl von biblischen Texten explizit oder implizit Gewalt zu legitimieren scheint, was nicht ohne Einfluss auf heutige Leserinnen und Leser ist. Die Autoren geben sich keinesfalls der Illusion hin, dass man eine endgültige Antwort auf dieses Problem finden kann (8). Dennoch wollen sie biblisch-exegetische und psychoanalytische Ansätze miteinander ins Gespräch bringen, um den Mechanismen der Gewalt auf die Spur zu kommen.
Der erste Abschnitt des Buches (15–66) aus der Feder von André Wénin widmet sich der Gewalt, die das Alte Testament mit Gott assoziiert. Wénin weist die Vorstellung zurück, dass die Bibel als Sammlung religiöser Texte, die 2000 Jahre und älter sind, heutigen Gläubigen einen Freifahrtschein zur Gewaltausübung biete. Wer Gewalt mit der Bibel legitimiere, leugne die Tatsache, dass diese andere Ursprünge habe und letztlich in der Freiheit des Indivi­duums begründet sei (15 f.). Wénin plädiert vehement für einen Umgang mit der Bibel, der nichts beschönigt, sondern die subtilen Formen der Gewalt aufdeckt. Es genüge nicht, auch heute noch provozierenden biblischen Texten, z.B. den Berichten von der ge­waltsamen Eroberung des Landes durch Josua, die Spitze zu nehmen, indem man sie als unhistorische spätere Fiktionen aus assyrischer Zeit erklärt und somit Gott wie Josua entschuldigt. Denn damit beseitige man nicht das Problem, dass die biblischen Verfasser – wenn auch in einem konkreten historisch-politischen Kontext – Gott die Initiative für Krieg, Eroberung und Massaker zuschreiben. Dieses dunkle Gottesbild werde weiterhin auch nicht dadurch aufgehellt, dass man zwischen zwei biblischen Gottesvorstellungen differenziere: einem Gott, der auf Israels Verhalten belohnend oder strafend reagiert, und einem, der sich als gütig versteht und den Tod des Sünders nicht wolle (vgl. Ez 33,11). Wie soll man also mit den vielen Texten umgehen, in denen Gott Gewalt ausübt? Wénin sucht diese erst einmal zu klassifizieren. Den Hintergrund der Überlegungen bildet dabei die Urgeschichte Gen 1–9. Dort entgehe Gott nicht der Gefahr, der Gewalt des Menschen seine eigene Gewalt entgegenzusetzen; er begrenzt sie aber schließlich durch den Noahbund. Sodann arbeitet Wénin eine Typologie heraus: Gott übt Gewalt aus, 1. um die Gerechtigkeit wiederherzustellen, 2. um den Notleidenden zu Hilfe zu eilen, 3. um die Feinde seines Volkes Israel zu vernichten, 4. um dieses zu erziehen, 5. um Sünder mit dem Tod zu bestrafen. Diese verschiedenen Gottesvorstellungen sind vielgestaltig, ja widersprüchlich. Sie können uns – so Wénin – nur dazu veranlassen, nicht eine einzelne Gottesvorstellung zu verabsolutieren, sondern in ihrer Begrenztheit einen Hinweis auf den verborgenen Gott zu erkennen (28) und unsere eigenen Gottesbilder zu revidieren (65).
Jean-Daniel Causse (67–98) behandelt das Problem des Paradoxes eines Opfers, das den unbekannten Göttern (dieux obscurs) dargebracht werde. Seine Argumentation geht von der Beobachtung aus, dass Menschen ihre eigenen Gewaltbilder auf den biblischen Gott projizieren. Dabei richten sie ihr Handeln nicht nach dem Willen aus, der von ihm geoffenbart ist, sondern nach dem, was sie von ihm zu wissen glauben. Vor diesem Hintergrund legt Causse Ri 11 aus: Jiftach handelt nicht so wie beschrieben, weil Gott von ihm ein Opfer im Fall des Sieges fordere. Im Gegenteil, Gott verlangt nichts von Jiftach, sondern dieser projiziert auf ihn den Wunsch nach einem Opfer, das er – konsequent und grausam zugleich – ihm darbringt (89). Causse stellt eine Verbindung her zu einem Gedanken aus Luthers De servo arbitrio: Für die Menschen sei der Wille Gottes nur insofern maßgeblich, wie er für sie in seinem Wort geoffenbart vorliegt, nicht aber, insofern er unerkennbar und unergründbar bleibt (91).
Der Artikel Élian Cuvilliers gilt schließlich dem Neuen Testament (99–173): Die Apokalypse sei kein Text, dessen Trägerkreis sich zur Ausübung von Gewalt autorisiert sieht. Diese liege vielmehr in den Händen Gottes (118 f.). Weiterhin werden einschlägige Aussagen bei Paulus untersucht, unterschieden nach folgenden Kriterien: die von Gott ausgeübte Gewalt (z. B. Röm 2,5–11), der von Jesus erlittene gewaltsame Tod, die von Menschen ausgehende Gewalt (z.B. Röm 12,14–21). Schließlich analysiert Cuvillier die Motive der Gewalt bei Matthäus.
Zuletzt (175–207) greift Causse die Frage auf, warum trotz der auf die Überwindung der Gewalt zielenden Aussagen beider Testamente das Christentum immer wieder zum Mittel der Gewalt gegriffen hat (176 f.). Unter Berufung auf Nietzsche weist er auf die Doppelbödigkeit einer Liebe hin, hinter der sich Hass und Gewaltbereitschaft verbergen. Wo liegt also das spezifisch christliche Antidot gegen die Gewaltbereitschaft? Für Causse – und hier greift er eine Überlegung Paul Ricœurs auf – kennzeichnet das Gebot der Feindesliebe in Mt 5,44 eine »Maßlosigkeit« (»démesure«) insofern, als die Feindesliebe die Logik der Gewalt durchbricht (196).
Für alle weiteren Details muss auf das Buch selbst verwiesen werden, in dem exegetische, philosophische und psychoanalytische Überlegungen eine fruchtbare Verbindung eingehen. Dies ist sicherlich das Verdienst der Autoren, die bereit waren, über die Tellerränder der Forschungsgebiete und Methoden hinauszublicken. Manchmal würde man sich aber eine sorgfältigere Argumentation im Detail wünschen, gerade bei der Auslegung der biblischen Texte, die oft etwas knapp ausfällt (z. B. 45–47). Weiterhin bleibt eine durchaus wichtige Grundsatzfrage unbehandelt: Was ver­-stehen die Autoren eigentlich unter dem Begriff »Gewalt«, der ja eigentlich nicht der Bibel entstammt? Eine Begriffsklärung – gerade unter Berufung auf die Humanwissenschaften – könnte sicherlich einen Beitrag dazu leisten, das Phänomen von göttlicher und menschlicher Gewalt in den biblischen Schriften präziser zu be­schreiben.