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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

543–545

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pollack, Detlef, Tucci, Ingrid, u. Hans-Georg Ziebertz[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiöser Pluralismus im Fokus quantitativer Religionsforschung.

Verlag:

Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012. 388. m. Abb. u. Tab. = Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für So­ziologie. Kart. EUR 59,95. ISBN 978-3-531-18696-2.

Rezensent:

Gritt Klinkhammer

In den religionssoziologischen Debatten über den Entwicklungsverlauf von Religion in modernen Gesellschaften nimmt der reli­-giöse Pluralismus einen der zentralen Parameter zur Erklärung religiösen Wandels ein: sei es im Sinne einer säkularisierenden (Berger u. a.) oder einer vitalisierenden Wirkung (Hervieu-Leger, Stark u. a.). Indes ist nicht nur empirisch weitgehend ungeklärt, welche Folgen dieser, über die Makroperspektive erfasste, religiöse Pluralismus in der Meso- und der Mikroebene entfaltet, sondern auch, was denn unter religiösem Pluralismus überhaupt zu verstehen sei: Ist der innerchristliche Pluralismus unterschiedlicher Gemeindebildungen und Konfessionen schon als religiöser Pluralismus zu verstehen? Welchen Ausmaßes und welcher Art von religiöser Heterogenität bedarf es, um Veränderungen in den Religionsgemeinschaften und unter ihren Anhängern hervorzubringen? Be­einflusst die religiöse Vielfalt einer säkularen Gesellschaft überhaupt entscheidend innergemeindliche und individuelle religiöse Dynamiken? Wirkt sich religiöser Pluralismus auf die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und Einstellungen aus? Die in weiten Kreisen der Religionssoziologie geteilte Annahme, dass moderne Sozialformen von Religion sich insbesondere durch ihre Individualisierung auszeichnen, machen solche offenen Fragen nicht weniger komplex.
Der Band verschließt sich erfreulicherweise keineswegs diesen Herausforderungen, sondern will sie problembewusst angehen. So beschäftigt sich gleich der Eingangsbeitrag von Ch. Wolf mit einer kritischen Diskussion der Anwendung von standardisierten Diversitätsindexen zur Messung von religiöser Pluralität. Ein zweiter Beitrag von U. Riegel und H.-G. Ziebertz testet einen weiteren solchen (»Post-Critical Belief-Scale«) anhand einer eigenen empirischen europaweiten Erhebung zur religiösen Haltung von Religionslehrern und -lehrerinnen, um daran detailliert aufzuzeigen, inwiefern das in der Religionspsychologie entwickelte Modell zur Messung unterschiedlicher Typen von Religiosität geeignet ist, die Pluralität von religiösen Einstellungen valide zu messen.
Das gewichtigste Gegenargument gegen die Diagnose einer Säkularisierung im Sinne eines zunehmenden Schwunds von Religion liegt in der Beobachtung einer Ausweitung des individualisierten spirituell-esoterischen Marktes jenseits von kirchlicher Frömmigkeit. So geht der Band in einem zweiten Abschnitt mit weiteren zwei Beiträgen auf die Messung »alternativer Religiosität« ein. P. Sieger bestätigt in seinem Beitrag die bereits sowohl quantitativ als auch qualitativ oftmals dargelegte These, dass religiöse Sozialisation eine religiöse Einstellung im Erwachsenenalter wahrscheinlicher mache, und dass »alternative Spiritualitäten nur mit Selbstverwirklichungswerten« und weniger mit traditionellen Werten einhergehen. Der zweite Beitrag von M. Terwey konzentriert sich auf das Vorkommen von »Aberglauben« und »Paraglauben« (Horoskope, Glücksbringer, Wahrsager etc.) in Deutschland und schließt aus seiner Datenanalyse, dass der These von einer zunehmenden Ausbreitung von »alternativen religiösen und religioiden Glaubensformen« nicht zuzustimmen sei (125) – ohne zu bedenken, dass »Paraglaube« nicht gleichzusetzen ist mit Spiritualität und Esoterik. Dieser Abschnitt des Bandes lässt hinsichtlich der Messbarkeit und Messung sowie der Entwicklung inhaltlicher Trennschärfe der Kategorie »alternativer Religiosität« viele Fragen offen.
Sehr aufschlussreich ist hingegen der Beitrag von M. Hero und V. Krech – aus dem dritten Buchabschnitt –, in dem die Autoren überzeugend darlegen, dass aus der statistischen Beobachtung religiöser Pluralisierungsprozesse auf der Ebene der Zunahme von diversen religiösen Gemeinschaften in einem Land »keinesfalls auf eine gleichläufige Veränderung subjektiver Wahrnehmungs- und Aneignungsweisen geschlossen werden darf – weder im Sinne einer Haltung des Wählens und Aussuchens, noch im Sinne eines ›kognitiven Drucks‹ oder eines ›Plausibilitätsverlustes‹ (Berger), der durch die Angebotsvielfalt hervorgerufen wird« (153). Der Aufsatz von A. Gladkich trägt ebenfalls Daten zur kritischen Betrachtung der Bedeutung religiösen Pluralismus für religiöse Vitalität bei. Sie schlussfolgert, dass beispielsweise staatliche Unterstützung von Religion einen stärkeren Einfluss auf die Entfaltung religiöser Vitalität hat als religiöser Pluralismus per se. Vor diesem Hintergrund wundert auch nicht, dass die folgenden beiden Beiträge (R. Traumüller, G. Pickel), die sich mit religiöser Pluralität als Variable in Bezug auf Sozialkapital und soziokultureller Integration befassen, zu dem Ergebnis einer nur untergeordneten Bedeutung hierfür gelangen. Religiöse Gemeinschaften bilden soziales Kapital aus, das im Prinzip auch integrativ wirkt – allerdings nicht bei Gemeinschaften, für die keine Vertrauensbasis in der Gesellschaft gegeben ist, wie es in Deutschland mehrheitlich in Bezug auf die muslimischen Gemeinschaften gilt.
Im abschließenden vierten Teil des Bandes beschäftigen sich vier Beiträge mit der Akzeptanz bzw. Nichtakzeptanz von religiöser Vielfalt in ausgewählten europäischen Ländern (A. Yandell/N. Friedrich und I. Storm) und dem Einfluss von Religion (A. Schnabel/ F. Grötsch) oder des Gottesdienstbesuchs (S. Müssig/A. Stichs) auf die soziale Integration der entsprechenden religiösen Gruppe, deren Verallgemeinerbarkeit trotz ihres statistischen Fundaments zum Teil zu wünschen übrig lässt. So folgert beispielsweise Storm anhand von Daten westeuropäischer Länder, dass »die Identifikation mit dem Christentum die Wahrscheinlichkeit erhöhe, Immigration für eine Bedrohung der nationalen Identität zu halten, wohingegen regelmäßiger Kirchgang diesen Effekt vermindert« (331). Zu überprüfen, inwieweit dieses Ergebnis nur einer katego­rialen Doppelzugehörigkeit von angestammter Mehrheitsgesellschaft und der Zugehörigkeit zum Christentum geschuldet ist, wäre sicherlich lohnend. Auch Müssig und Stichs müssen am Ende ihrer Untersuchung zum Zusammenhang des Besuchs religiöser Veranstaltungen von Muslimen und Christen und einer stärkeren Wahrnehmung anderer religiöser Personen einräumen, dass bei Muslimen die Sprachfähigkeit hierfür letztlich entscheidender ist. Es lohnt sich eben nicht, Religion als Basisvariable für alle möglichen Sozialverhalten einzusetzen; dazu ist das Handeln auch von religiösen Personen – das wissen wir aus qualitativen Forschunge n– zu stark auch mit latenten pragmatischen Motiven versehen.
Insgesamt ist positiv hervorzuheben, dass der Band nicht nur für ausgewiesene Statistiker gut lesbar ist und die Tabellen, aus denen die Schlüsse gezogen werden, mitgeliefert sind. Leider fehlen im Band Angaben zu den Autoren, mithilfe derer eine Einordnung der Forschungen und der Ergebnisse leichter möglich wäre.
Trotz des mitunter sehr unterschiedlichen Niveaus der Beiträge liefert der Band wichtige Reflexionen und Ergebnisse für notwendige weiterführende und tiefergehende quantitative wie qualita-tive Forschungen zur Bedeutung von religiösem Pluralismus für gesellschaftliche Ordnung und die Entwicklung religiöser Praxen und Einstellungen. Der Band zeigt mitunter, dass wir erst am An­fang der Erforschung solcher Zusammenhänge stehen.