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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

541–543

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Petzoldt, Matthias [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Europas religiöse Kultur(en). Zur Rolle christlicher Theologie im weltanschaulichen Pluralismus. Ein interdisziplinärer Diskurs an der Theologischen Fakultät anlässlich der Sechshundertjahrfeier der Universität Leipzig.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 278 S. m. Abb. = Theologie – Kultur – Hermeneutik, 14. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03014-9.

Rezensent:

Hans Jürgen Luibl

Grundlage dieser Publikation ist eine interdisziplinäre Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig anlässlich der 600-Jahrfeier der Universität. Diesem Anlass widmet sich der erste Beitrag von Jürgen Miethke, der die Universitätsgründung Leipzig einzeichnet in das Spannungsfeld »Europäische Gelehrtenkultur, landesfürstliche Politik und kirchliche Krise« – so der Untertitel. Diesem Auftakt korrespondiert der letzte Beitrag des Buches von Jens Schröter, der die theologische Wissenschaft inhaltlich wie strukturell im Spannungsfeld von »Bologna-Prozess, Exzellenzwettbewerb, Empfehlungen des Wissenschaftsrates und Reformprozess der Evangelischen Kirche in Deutschland« (255) verortet. Gerade der wissenschaftstheoretisch problematische Bo­logna-Prozess mit seinen Modulstrukturen könnte, so Schröter, eine Chance sein, durch »Vernetzung der theologischen Disziplinen« deren Einheit wieder verstärkt Gestalt zu verleihen (273).
Kommt in diesen beiden Beiträgen Europa als universitärer Lernraum in den Blick, wird in den folgenden Arbeiten Europa als Raum der Religionen erschlossen – wobei auffällt, dass an dieser Erschließungsarbeit weder Wissenschaftler aus anderen Ländern noch anderer Religionen Europas beteiligt sind; damit bleibt Europa letztlich deutsch-zentriert. Den Auftakt macht der Leipziger Religions- und Kirchensoziologe Gert Pickel mit »Religion und Religiosität in Europa zu Beginn des 21. Jh.s – Unumkehrbare Säkularisierung?« Das Fragezeichen am Ende deutet Offenheit an. Die Säkularisierung Europas als Schwund religiöser Vitalität schreitet sowohl gesellschaftlich als auch individuell voran – gegen alle Begriffs­akrobatik, das Reli­-giöse jenseits der klassischen Formationen entdecken zu wollen. Ge­gen mögliche Substitutionstheorien, etwa der Individualisierung der Religion, scheint es angebracht, »den Selbstaussagen der Menschen in Bezug auf ihre Nichtreligiosität Glauben zu schenken« (71). Wie aber sich Religion angesichts der Säkularisierung Europas entwickelt, lässt sich nicht generell formulieren, sondern nur in einer doppelten Rückkoppelung, zum einen auf die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse in Europa und zum anderen an die Kultur der einzelnen Länder. So ist etwa das Ansteigen von Religion in Ostmitteleuropa Folge des Endes der kommunistischen Herrschaft, der dann an­schließende Rückgang auf Westniveau spiegelt den Religionsbedarf in einem gemeinsamen sozio-ökonomischen Raum. Zu­dem dürfen länderspezifische Unterschiede nicht nivelliert werden: Länder wie Polen, Tschechien oder Estland haben ihre eigenen »kulturellen Pfade«, auf denen Religionen sich entwickeln. Politische Entwicklungen, gesellschaftliche Identitätsprozesse und eine neue Suche der europäischen Zivilgesellschaft nach ihrem Sozialkapital können zu kulturspezifischen Rückgriffen auf Religion führen (75) – Säkularisierung mit offenem Ausgang.
Was das für die einzelnen Religionen bedeutet, das zeigen die Beiträge von Klaus Fitschen »Das Christentum im Spannungsfeld von Säkularisierung und Pluralisierung«, Timotheus Arndt »Ju­dentum Ethnie und/oder Religion« und Friedmann Eißler »Islam und Islamismus. Aspekte des Islam in Europa zwischen Mythos und Minderheitenpolitik«. Herausgehoben sei hier eine für die europäische Religionsgeschichte signifikante Entwicklung im europäischen Islam. Dass der Islam Teil Europas ist, ist unbestritten. Seine fortschrittlichen Denker erkennen das demokratische Europa an. Dabei werden, wie etwa in der »Deklaration europäischer Muslime«, europäische Werte islamisch re-interpretiert. Die Gefahr könnte sein, so Eißler, dass die Werte letztlich ihre Gültigkeit durch die Auslegungskraft des Islam haben, sie also religionsabhängig werden – egal ob von Islam, Christentum oder Weltanschauungsgruppen. Deswegen fordert er, »über den territorialen Begriff Europas hinaus eine inhaltliche Werteorientierung« zustärken (124). – In ähnliche Richtung weist der Aufsatz von Monika Eigmüller »Der Grundsatz der religiösen Neutralität der Europäischen Union im Spiegel der Debatte um den Betritt der Türkei«. Sie weist nach, dass die Beitritts- und Mitgliedschaftskriterien der Europäischen Union religionsneutral sind, dass aber in den Nationalstaaten der Islam – ob positiv oder negativ gesehen – ein wesentliches Diskussionsargument ist. Die Folge könnte sein, der Religion auf EU-Ebene und damit in einem liberal-demokratischen Staatsverständnis mehr Raum zu geben. Demge­genüber weist sie auf einen anderen Weg, nämlich die »Grundsätze religiöser Neutralität« ernst zu nehmen und zur »Grundlage poli­-tischen und gesellschaftlichen Handelns zu machen« (143).
Die folgenden Beiträge beziehen sich weniger auf die Frage der religiösen Kultur(en) Europas, sondern – den Untertitel der Publikation aufnehmend – im Wesentlichen auf die Frage der Bedeutung von Religion im weltanschaulichen Pluralismus: Matthias Pöhlmann »Populäres Geheimwissen. Wandlungsprozesse moderner Esoterik in der Religionskultur«, Pirmin Stekeler-Weithofer »Die ›Wiederkehr‹ der Religion – und der Religionskritik«, Reinhard Hempelmann »Verschärfungen des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus«, Matthias Petzoldt »Christliche Theologie im plura­lis­tischen Kontext. Konzeptionsfragen im Horizont von Religionsdialogen«, Birgit Weyel »Kasualkompetenz. Kirchliches Handeln in einer pluralistischen Gesellschaft«.
Matthias Pöhlmann und Reinhard Hempelmann, beide von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin, weiten den Blick auf Religion und schärfen dabei die Wahrnehmung für steigende Pluralisierung. Dabei kommt Hempelmann zu einem überraschenden Schluss. Verschärfte Pluralisierung als Weg Europas bedeutet nicht das manchmal apokalyptisch ausgerufene Ende der traditionellen Religionen in Europa, sondern, so Hempelmann in Anschluss an den amerikanischen Religionssoziologen David Martin, dass sich »die alten religiösen Establishments Europas als hervorragende Konkurrenten auf dem religiösen Markt herausstellen werden« (206). Pickel hatte im Blick auf empirische Daten eine gegenteilige Meinung. Matthias Petzoldt sucht eine christlich-theologische Konzeption, die an der Wahrheitsfrage wie am Dialog der Religionen ausgerichtet ist. Ein Schlüssel dafür ist, auch der je anderen Religion ihren Wahrheitsanspruch zuzugestehen. Inwieweit sich dieses Dialogmodell in der Praxis des Dialogs mit anderen religiösen Wahrheitskonzeptionen, etwa des römischen Katholizismus, bewährt, steht allerdings noch aus. Birgit Weyel zeichnet den Weg von den kirchlichen Amtshandlungen, unter denen Kasualien subsumiert waren – etwa in den 30er Jahren des letzten Jh.s, über die Kritik von Rudolf Bohren an kirchlicher Kasualpraxis (1960) bis hin zu einem Kasual-Konzept, das vom Menschen und seiner Biographie ausgehend unter den Bedingungen des Pluralismus professionelle kirchlich-theologisches Kompetenz erfordert. Die Kasualie wird dabei zum Scharnier zwischen individuellem, kirchlichem und öffentlichem Christentum (253).
Einen Beitrag besonderer Art bietet Pirmin Stekeler-Weithofer, Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig. Er zeichnet die Phasen von Religion und Religionskritik im modernen Europa nach: In Umbrüchen – also etwa nach Waterloo 1815, nach 1945 und nach 1989, nach politischen Krisen – wird Religion national oder zivilgesellschaftlich (re-)aktiviert – und verliert in stabilen Phasen wieder an Bedeutung. Dasselbe könnte auch für das Aufkommen des Islam in arabischen Ländern im Umbruch gelten. Dagegen sucht er nach einer politikfreien Religiosität, die er in der Dichtung, konkret im Hölderlin-Gedicht »Ermunterung« findet. Hier taucht der Sinn des Religiösen jenseits des Politischen auf, als belebende Orientierung an einem ge­meinsamen Ideal von Wahrheit und Freiheit. Diese erst hebt im Hegelschen Sinne National-Theologien ebenso auf wie konfessionell-dogmatische Enge oder individualistisch-protestantische Selbstbezogenheit, Erkrankungen ge­rade des evangelischen Christentums. Die Gesundung und religiöse Weite kommt durch … Ästhetik.